Gilbert Adair : Blindband

Blindband
Originalausgabe: A Closed Book, 1999 Blindband Übersetzung: Thomas Schlachter Edition Epoca, Zürich 1999 ISBN 3-905513-13-7, 223 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der erfolgreiche Schriftsteller Paul Reader, der bei einem schweren Verkehrsunfall vor vier Jahren beide Augen verlor, will seine Autobiografie schreiben. "Blindband" soll der Titel lauten. Um sein Vorhaben verwirklichen zu können, sucht der Autor, der sich in ein abgelegenes Landhaus verkrochen hat, einen Assistenten, dem er das Buch diktieren kann. Ein 33-Jähriger namens John Ryder meldet sich auf das Inserat ...
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Kritik

In seinem Roman "Blindband" ist es Gilbert Adair gelungen, allein mit Dialogen eine dichte beklemmende Atmosphäre zu beschwören. Man sieht gewissermaßen nichts, sondern "hört" Gespräche. Was könnte besser zu einem Roman über einen blinden Schriftsteller passen?
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Sir Paul

Sir Paul Reader, ein erfolgreicher englischer Schriftsteller Anfang sechzig, gibt im Frühjahr 1999 eine Zeitungsanzeige auf: Er sucht einen Amanuensis, jemanden, dem er den Text eines Buches diktieren kann, denn bei einem Verkehrsunfall vor vier Jahren in Sri Lanka wurde ihm die linke Gesichtshälfte weggerissen und er erblindete.

„Ich habe keine Augen. Ich bin nicht nur blind, ich habe nicht nur das Augenlicht, sondern die Augen selbst verloren.“ (Seite 17)

Sieben Monate lag er im Krankenhaus. Dann kehrte er nach England zurück und verkroch sich in seinem Landhaus in den Cotswold Hills. Ohne Fernsehen, Hörfunk und Zeitung. Weil Passanten über sein entstelltes Gesicht erschrecken, geht er nur nach Einbruch der Dunkelheit spazieren. In den ersten drei Jahren begleitete ihn dabei manchmal sein Freund Charles, ein pensionierter Dozent aus Oxford, der in der fünfzig Kilometer entfernten Kleinstadt Chipping Campden lebte. Seit Charles‘ Tod vor einem Jahr hat Sir Paul nur noch Kontakt zu einem einzigen Menschen: zu seiner Haushälterin Mrs Kilbride, einer ungebildeten verheirateten Frau Ende fünfzig, die für ihn einkauft, kocht, putzt und wäscht.

Was ich von Ihnen möchte, sind Ihre Augen

Auf das Inserat meldet sich ein Dreiunddreißigjähriger aus London – John Ryder –, der alle Romane des Schriftstellers gelesen hat: „Zu Füßen von Gespenstern“, „Die ersten Früchte“, „Der Löwe von Beltraffio“, „Der Geist des Ortes“ und so weiter. Paul erklärt ihm, er wolle ein letztes Buch schreiben, sein Testament gewissermaßen.

„Sie müssen wissen, John, dass ich kein Interesse daran habe, eine konventionelle Autobiografie zu schreiben […] Im Idealfall sehe ich dieses Buch als Summierung, als Summa summarum all meiner Gedanken, meiner Ideen, meiner Grundmotive. Die Autobiografie, wenn man so will, meiner Seele, meines Innenlebens.“ (Seite 27)

Gegen ein großzügiges Gehalt soll John den von Paul diktierten Text tippen und bis zur Fertigstellung des Manuskriptes mit Ausnahme der Wochenenden auch hier wohnen.

„Was ich von Ihnen möchte, sind Ihre Augen.“ (Seite 18)

Der Arbeitstitel der Autobiografie lautet: „Die Wahrheit und ihre Folgen“. (Den zweideutigen Titel „The Death of the Reader“ hat Paul Reader inzwischen verworfen.)

John willigt in die Bedingungen ein, und weil Pauls PC aus der Zeit vor seinem grässlichen Unfall stammt, kauft er vor seinem Arbeitsantritt in London einen neuen Mac.

Das Zusammenleben mit Paul fällt John nicht leicht, denn der blinde, herrische Egozentriker kommandiert ihn herum und ist es gewohnt, dass seine Anordnungen minutiös befolgt werden. Wenn Paul im Bad oder auf dem WC ist, lässt er die Tür immer einen Spalt breit auf, weil er unter Klaustrophobie leidet. Außerdem fürchtet Paul sich trotz seiner Blindheit im Dunkeln und könnte es nicht ertragen, wenn er wüsste, dass er sich in einem dunklen Raum befände.

Einmal weist John seinen Arbeitgeber vorsichtig auf einen Kaffeefleck auf seiner Krawatte hin. Paul, der großen Wert auf seine Kleidung legt und sich den Platz jedes Anzugs und jeder Krawatte in seinem begehbaren Kleiderschrank eingeprägt hat, ist überzeugt, dass er an diesem Morgen eine Cerruti mit bunten Quadraten trägt. John korrigiert ihn: Es sei eine beige Krawatte mit dunkelbraunen Streifen. Irritiert nimmt Paul ihn darauf mit zu seinem Kleiderschrank und lässt ihn nach der Cerruti suchen. Vergeblich. Paul regt sich über den Vorfall heftig auf, denn wenn er sich auf seine Ordnung und sein Gedächtnis nicht mehr verlassen kann, verliert er jegliche Orientierung.

Bevor John übers Wochenende nach London zurückfährt, trägt Paul ihm auf, sich in der National Gallery das letzte Selbstbildnis Rembrandts anzuschauen, um es ihm am Montag genau beschreiben zu können. Nach Möglichkeit soll er ein Puzzle des Gemäldes mitbringen. Außerdem möchte Paul, dass John auf dem Trafalgar Square überprüft, welches der vier in den Ecken aufgestellten Podeste leer ist.

John bringt tatsächlich ein Puzzle mit und erhält den Auftrag, es zusammenzusetzen, aber die Augen auszusparen. Nachdem er Pauls Fragen zu Rembrandts Selbstbildnis beantwortet hat, erklärt er ihm, dass inzwischen in allen vier Ecken des Trafalgar Square Statuen stehen: George IV., Sir Henry Havelock, Charles James Napier – und nun auch Lady Di. Paul ist verblüfft. Er hat zwar trotz seine Abgeschiedenheit mitbekommen, dass die überaus populäre Prinzessin Diana bei einem Verkehrsunfall in Paris starb, aber eine Statue auf dem Trafalgar Square hätte er nicht für möglich gehalten.

In der zweiten Woche möchte Paul mit seinem Literaturagenten Andrew Boles über das neue Projekt sprechen, und er bittet John, die Nummer für ihn zu wählen. John tut es und spricht offenbar mit einer Sekretärin. Dann teilt er Paul mit, Boles sei verreist – Hongkong, Sydney, San Francisco, New York – und komme frühestens in zwei Wochen nach London zurück.

Als Mrs Kilbride anruft und sich entschuldigt, weil ihr Ehemann Joe krank ist, gibt John ihr eine Woche frei. Paul tadelt ihn: Auch wenn er ebenso entschieden hätte, hält er Johns eigenmächtiges Vorgehen für anmaßend.

Am anderen Morgen, bevor John aufgestanden ist, kommt Mrs Kilbride doch noch einmal kurz vorbei, um ihren Nähkorb zu holen. Dabei fällt ihr das Puzzle auf und sie erwähnt gegenüber Sir Paul die beiden Männer, die darauf abgebildet sind. Zwei Männer? Paul lässt sich das Gemälde beschreiben und begreift, dass es sich nicht um ein Selbstbildnis Rembrandts, sondern um Holbeins „Gesandte“ handelt. John hat seine Blindheit ausgenutzt und ihn hereingelegt! Als John herunterkommt und Paul ihn zur Rede stellt, entschuldigt er sich und behauptet, gedankenlos gehandelt zu haben.

Blindband

Für das entstehende Buch hat Paul inzwischen einen besseren Titel: „Blindband“. So nennt man Bücher, die von Verlagen zu Ausstellungs- bzw. Werbezwecken hergestellt werden: Die Einbände entsprechen dem geplanten Buch, aber die Seiten sind noch unbedruckt.

Im Lauf der Zeit erzählt John, Pete Townshend von der Popgruppe „The Who“ sei vor zwei Jahren in Soho von einem verrückten Fan erschossen worden. O. J. Simpson habe sich das Leben genommen. Ian Pesley sei bei einem Massaker in Nordirland getötet worden. Robin Cook habe den an Aids erkrankten Premierminister Tony Blair abgelöst. Paul wundert sich über die Nachrichten und zweifelt nun daran, ob es richtig war, sich so von der Welt zu isolieren. Jedenfalls reflektiert er über einige der Neuigkeiten in seinem Text.

Weil Joe offenbar nicht nur erkältet, sondern möglicherweise an Lungenkrebs erkrankt ist, bittet Mrs Kilbride telefonisch darum, noch einige Zeit ausbleiben zu dürfen. John verspricht, auch noch ein paar Tage länger das Einkaufen und Kochen zu übernehmen.

In der vierten Woche schickt Paul seinen Assistenten nach Oxford: Er benötigt eine genaue Beschreibung einiger Gebäude und der Wasserspeier.

Während John fort ist, klingelt ein Lokalpolitiker der Konservativen Partei, der um Unterstützung bei den in wenigen Tagen stattfindenden Kreiswahlen bittet. Als er jedoch Pauls Gesicht erblickt, will er gleich weiter. Paul drängt ihn hereinzukommen, den Computer einzuschalten und ihm einige Abschnitte vorzulesen. Es ist Wort für Wort, was er diktierte. Das Misstrauen, das er gegenüber Paul entwickelt hat, ist also wohl unberechtigt.

Bei seiner Rückkehr aus Oxford bemerkt John eine Beule an Pauls Stirn. Der Blinde ist wieder einmal gegen die von selbst aufgeschwungene Tür seines begehbaren Kleiderschranks gelaufen. Gegen Pauls Willen fährt John nach Chipping Campden, um einen automatischen Türschließer zu besorgen.

Nach einigen vergeblichen Versuchen gelingt es Paul, die richtige Telefonnummer zu wählen und nach vier Jahren erstmals wieder mit Andrew Boles zu sprechen. Dabei erfährt er, dass Andrew seit Jahren nicht mehr im Ausland war.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


John

Als John mit dem Schließmechanismus zurückkommt, begreift er rasch, dass er durchschaut wurde. Ja, er ist jemand, den Paul von früher kennt. Paul war Englischlehrer an einer Sonderschule für gewalttätige Kinder außerhalb von Chichester. Vor zweiundzwanzig Jahren missbrauchte er einen elfjährigen Schüler und zwang ihn zu Fellatio. Kurz darauf verließ Paul die Schule, weil er wegen des Erfolgs seines ersten Romans „Zu Füßen von Gespenstern“ nicht mehr auf eine Anstellung angewiesen war. Der missbrauchte Schüler nahm später den Namen John Ryder an, verfolgte Pauls Schriftsteller-Karriere und sann auf Rache – bis er vor vier Wochen auf die Zeitungsanzeige stieß und die Gelegenheit nutzte, sich bei ihm einzunisten. Das neue Buch – wenn es zustande gekommen wäre – hätten die Kritiker aufgrund der Einlassungen über die Statue der Prinzessin Diana auf dem Trafalgar Square und anderen Unsinn als Werk eines „vertrottelten, brabbelnden alten Sacks“ verspottet.

John fesselt und knebelt den Blinden, bevor er ihm die dunkle Brille herunterschlägt und sie zertritt. Beim Suchen nach der Cerruti-Krawatte mit den Quadraten – die Paul tatsächlich trug und die auch keinen Fleck aufwies – kam er auf eine Idee, wie er seinen Peiniger von damals auf qualvolle Weise töten kann: Er wird jetzt den automatischen Türschließer am Einbauschrank montieren, Paul ungefesselt einsperren und übers Wochenende nach London fahren. Klaustrophobie und Sauerstoffmangel in dem mit Klebeband abgedichteten Schrank werden ausreichen, um Paul zu töten.

Ermittler

John erzählt den Ermittlern Inspektor Truex und Sergeant Gillespie, wie er am Sonntag vorzeitig aus London zurückkam und Sir Paul überall im Haus suchte. Weil ihm im Schlafzimmer der Gestank auffiel, öffnete er den Einbauschrank und fand die Leiche. Paul hatte sich vollgemacht. Offenbar hatte er bis zur Verzweiflung versucht, die ins Schloss gefallene Tür des begehbaren Schranks zu öffnen, denn seine Finger waren blutverkrustet und die Nägel abgeschürft. Maliziös weist John auf die absurden Stellen in dem Manuskript hin: Der Schriftsteller sei wohl bereits sehr verwirrt gewesen.

Während Inspektor Truex mit Paul spricht, schaut Sergeant Gillespie sich im Haus um. Schließlich kommt er mit einem Notizbuch zurück. Im Schlafzimmer des Schriftstellers fand er eine Reihe von Tagebüchern. Trotz seiner Blindheit notierte Sir Paul mit einer allerdings fast unleserlichen Handschrift regelmäßig, was er erlebte und beobachtete. Der letzte Band beginnt mit Johns Ankunft im Haus. Die Polizisten nehmen das Buch mit, um es in Ruhe zu studieren.

„Bemühen Sie sich nicht, wir finden selbst hinaus. Und nochmals herzlichen Dank. Falls wir Sie brauchen, wissen wir ja, wo Sie zu erreichen sind. Auf Wiedersehen, Mr Ryder.“
„Auf Wiedersehen.“ (Seite 223)

Mit diesen Worten endet der Roman „Blindband“ von Gilbert Adair.

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„Eines Tages fiel mir ein, dass der Blinde zur Welt, die ihn umgibt genauso Zugang hat, wie der Romanleser Zugang zur imaginären Welt hat, die vom Schriftsteller heraufbeschworen wird […] Und das heißt im Wesentlichen durch Dialog und Beschreibung.“ (Seite 185)

So diktiert der Schriftsteller Paul Reader seinem Amanuensis John Ryder. In ihrer anfangs scheinbar produktiven Arbeitsgemeinschaft gibt zunächst der herrschsüchtige Blinde den Ton an, aber nach und nach verschieben sich die Machtverhältnisse, bis er am Ende merkt, dass er seinem Assistenten ausgeliefert ist. Diese Entwicklung findet in einer klaustrophoben, paranoiden und beklemmenden Atmosphäre statt, die der englische Autor Gilbert Adair (1944 – 2011) in seinem Roman „Blindband“ heraufbeschwört, obwohl er auf jede Beschreibung von Situationen verzichtet und sich auf Dialoge beschränkt, in die er nur hin und wieder kursiv gesetzte Passagen einstreut, deren Bedeutung sich erst am Schluss ergibt. In „Blindband“ sieht man gewissermaßen nichts, sondern „hört“ Gespräche. Was könnte besser zu einem Roman über einen blinden Schriftsteller passen?

Auch wenn nicht alles psychologisch plausibel ist, möchte ich „Blindband“ von Gilbert Adair empfehlen, denn es handelt sich um einen vor allem stilistisch geglückten, spannenden und atmosphärisch dichten Roman.

Bei der Edition Epoca in Zürich erschienen 1997 bzw. 1998 auch die deutschsprachigen Ausgaben der Romane „Der Tod des Autors“ und „Liebestod auf Long Island“ von Gilbert Adair.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005 / 2011
Textauszüge: © Edition Epoca

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