Olivier Adam : An den Rändern der Welt

An den Rändern der Welt

Olivier Adam

An den Rändern der Welt

Originalausgabe: Les Lisières Flammarion, Paris 2012 An den Rändern der Welt Übersetzung: Michael von Killisch-Horn Klett-Cotta, Stuttgart 2015 ISBN: 978-3-608-98004-2, 424 Seiten, 24.95 € (D)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Mit der Tatsache, dass sich seine Ehefrau Sarah von ihm trennte und er die beiden Kinder nur alle zwei Wochen sehen darf, kann sich der gut 40 Jahre alte Schriftsteller Paul Steiner auch nach Monaten nicht abfinden. Als sich seine Mutter den Oberschenkelhals bricht, bittet ihn sein als Tierarzt praktizierender Bruder François, sich wenigstens in den ersten zehn Tagen um den Vater zu kümmern und verspricht, Paul dann abzulösen. Die Vorstellung, einige Tage mit seinem Vater verbringen zu müssen, belastet Paul zusätzlich ...
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Kritik

Wichtiger als die rudimentäre Handlung in "An den Rändern der Welt" sind die Gedanken und Erinnerungen des depressiven Ich-Erzählers, den Olivier Adam mit außergewöhnlicher Sensibilität sehr präsize darstellt.
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Das Ehepaar Steiner hat sich 2010 getrennt. Der gut 40 Jahre alte Schriftsteller Paul Steiner zog aus dem seit neun Jahren bewohnten Haus in der Bretagne aus. Jedes zweite Wochenende darf er mit der Tochter Manon und dem Sohn Clément verbringen. Seine Mietwohnung hat er nur notdürftig eingerichtet, denn er hofft, dass er sie nur vorübergehend benötigt und in absehbarer Zeit zu seiner Frau Sarah und den Kindern zurückkehren kann.

Sie hatte mich durch den Dreck gezogen, um die Kinder zu behalten. Vor dem Richter hatte sie meine Dienstzeugnisse, die Alkoholmengen, die ich konsumierte, und die ellenlangen Rezepte der Medikamente, die ich jahrelang geschluckt hatte, ausgebreitet, ja sogar den Inhalt der Bücher, die ich schrieb, der von meiner psychischen Labilität und den zahlreichen Neurosen, unter denen ich seit frühester Kindheit litt, Zeugnis ablegte. Darüber hinaus hatte sie meine häufigen Reisen angeführt und meine Kontakte zu Leuten aus der Welt des Kinos und des Chansons, kurz zu Künstlern, die zwangsläufig Alkoholiker und kokainsüchtig oder was weiß ich noch alles waren.

Sechs Monate hatten nicht ausgereicht, mich daran zu gewöhnen. An dieses Leben auf Abruf. An die Wochenenden, die mir zweimal im Monat gestohlen wurden. An die Sonntagabende. An die zwölf Tage, die ich warten musste, um sie wiederzusehen.

Das Wochenende mit mir zu verbringen würde schon bald zu einer lästigen Pflicht für sie werden, sie würden Ausreden finden, um sich davor zu drücken, und eines Tages würde Sarah mich durch einen verantwortungsbewussten, ausgeglichenen und Ruhe ausstrahlenden Blödmann ersetzen, den sie schließlich Papa nennen würden.

Sarah Steiner arbeitet als Krankenschwester in einem Hospital, in der Abteilung für neonatale Pädiatrie. Mit der Begründung, sie habe ihren Mann lange genug ertragen und benötige nun endlich Luft zum Atmen, reichte sie die Scheidung ein. Und Paul hat den Eindruck, dass ihr die neue Freiheit gut tut – im Gegensatz zu ihm. Er schleicht sich in den Garten und beobachtet Sarah, Manon und Clément.

Ganz offensichtlich kamen sie wunderbar ohne mich zurecht. Im Übrigen hatte ich es nicht nötig, sie auszuspionieren, um mich davon zu überzeugen. In all den Jahren waren sie ohne mich zurechtgekommen.

Wenn Paul an einem Roman oder Drehbuch arbeitete, war er in Gedanken anderswo und für die Familie mental kaum erreichbar.

Das Schreiben war für mich stets das einzige Mittel gewesen, mich mit der Welt zu verbinden, sie zu spüren, mich ihrer Existenz zu versichern und nebenbei auch meiner, und jetzt, da ich mehr denn je über dem Abgrund hing, war ich dazu nicht mehr in der Lage.

Weil sich Pauls Mutter im Frühjahr 2011 den Oberschenkelhals gebrochen hat, muss Paul nach seinem Vater sehen, der nach wie vor in der Banlieue wohnt, in V., wo Paul und sein älterer Bruder François aufwuchsen.

Die Vorstellung, einige Tage bei seinem Vater zu verbringen, belastet Paul. Allenfalls einmal im Jahr besuchten er und Sarah seine Eltern, aßen dann mit ihnen zu Mittag, ließen die Kinder dort und trafen sich mit Freunden in Paris, bevor sie die Kinder nach ein paar Stunden wieder abholten und zurück nach Finistère fuhren. – Nun wurde Paul jedoch von François am Telefon gebeten, sich wenigstens zehn Tage lang um den ohne seine Frau im Haushalt hilflosen Vater zu kümmern. Danach, versprach François, werde er das übernehmen.

„Ich weiß nicht mal, ob er isst. Hör zu, in dieser Woche kann ich meine Praxis unmöglich schließen. Und Delphine ist auf einem Kongress in New York. Ich muss mich um die Kinder kümmern …“

François ist Tierarzt. Er lebt mit seiner Frau Delphine, einer Steueranwältin, und den drei Kindern ebenfalls in einer Vorstadt von Paris, allerdings auf der anderen Seite der Metropole. Paul und Delphine können sich nicht ausstehen, und die Brüder telefonieren auch nur sporadisch miteinander. François akzeptiert die Tätigkeit eines Schriftstellers nicht als Arbeit und unterstellt Paul, die ganze Zeit Ferien zu machen, statt einen anständigen Beruf auszuüben.

Als Jugendlicher war François noch anders, da rauchte er Haschisch und probte mit seiner Band im Keller. Alles änderte sich, als ihn zwei Kleinkriminelle auf dem Marktplatz ausrauben wollten. François verteidigte erfolgreich seine Brieftasche, in der sich lediglich ein Zehn-Francs-Schein und die Karte für den Schulbus befand. Aber eine Woche danach passten ihn die beiden Kerle ab, und diesmal waren sie nicht nur mit Rasiermessern bewaffnet, sondern brachten auch noch zehn Kumpane mit. Die Bande schlug François zusammen. Danach hasste er die Banlieue.

François schmiss alles hin, um Tierarzt zu werden, Delphine zu heiraten, in schickere Vorstädte zu ziehen und ihr drei Kinder zu machen.

Paul und François sind die Söhne einer Mutter, die 20 Jahre lang am Fließband stand und dann bis zur Rente in der Buchhaltung einer Keksfabrik arbeitete. Der Vater, das zweitälteste von sieben Kindern eines Müllwagenfahrers und einer Hausfrau, hatte mit 14 in einer Druckerei angefangen und sich im Lauf der Zeit zum Werkmeister hochgearbeitet. Paul ist überzeugt, dass der Vater François vorgezogen habe, denn der war „weniger anfällig, weniger sensibel, weniger gequält, weniger unmännlich, sportlicher, robuster, weniger träumerisch, weniger intellektuell, praktischer und weniger eingebildet“. Fast alle anderen Menschen seien für seinen Vater Arschlöcher oder Vollidioten gewesen, meint Paul.

Ich hatte ihn nie anders erlebt als so: mit vor Erbitterung zusammengepressten Kiefern, kalter Wut, erschöpft.

Paul vergisst den Eltern nicht, dass sie von seinen Problemen in der Jugend nichts mitbekamen und seine jahrelange Magersucht nicht wahrhaben wollten.

In einem Telefongespräch mit seinem Bruder erwähnt Paul, dass dieser ihm einmal das Leben gerettet habe. François weiß nicht, was er meint. Er sei damals zehn gewesen, erzählt Paul. Die Großmutter war gerade gestorben, und die Eltern hatten für den Familienurlaub ausnahmsweise ein Fremdenzimmer in Les Deux Alpes gemietet.

Das hatte sie ein Schweinegeld gekostet, doch Mama hatte gesagt, sie habe die Nase voll vom Camping, vom Wohnwagen und von den Betten, von denen sie Rückenschmerzen bekomme, von den Gemeinschaftsduschen und vom Abwaschen in der Schüssel.

Bei einem Ausflug ging Paul von den anderen weg zur Kante einer senkrecht abfallenden Felswand. Der Zehnjährige wollte sterben, aber dann kam sein Bruder zu ihm und holte ihn zurück. François glaubt es nicht:

Was redest du denn da? Das ist wieder einer deiner Schriftstellerfilme. Du warst zehn, Blödmann. Niemand begeht Selbstmord mit zehn.

Nach seiner Ankunft in V. geht Paul in eine Kneipe, die dem Vater eines früheren Mitschüler gehört. Er erkundigt sich nach Jugendfreunden und redet über Érics Vater, der die Familie wegen einer 15 Jahre jüngeren Frau verließ, Caroline, die Geige studierte, dann alles hinwarf und spurlos verschwand und Christophe, den Sohn eines Polizisten, der als Clochard auf der Straße starb.

Am nächsten Tag begleitet Paul seinen Vater zur Besichtigung eines Seniorenheims in der Cité des Acacias. Er kann es kaum fassen, dass der Vater wild entschlossen ist, sein Einfamilienhaus zu verkaufen und in die kleine Wohnung zu ziehen. Als er anschließend seine Mutter im Krankenhaus besucht, verwechselt sie ihn mit seinem Bruder François, und er macht sich Sorgen über ihre Desorientiertheit. Der Vater tut die Verwirrung als Nebenwirkung der Schmerzmittel ab, und der Arzt, den Paul darauf anspricht, weist ihn darauf hin, dass er kein Neurologe, sondern Chirurg sei.

Nach dem Besuch im Krankenhaus setzte ich meinen Vater zu Hause ab. Am Morgen hatte ich das Abendessen für ihn vorbereitet. Der Teller stand bereits in der Mikrowelle. Ich hatte sogar den Timer programmiert und den Tisch auf dem Wachstuch im Wohnzimmer gedeckt. Er brauchte nur noch auf den On-Knopf zu drücken.
„Wirst du zurechtkommen?“, fragte ich, bevor ich meine Jacke anzog.
„Natürlich komme ich zurecht. Ich habe nicht auf dich gewartet.“

Paul trifft sich mit seinem Jugendfreund Stéphane, der an der Kasse des Supermarkts saß, in dem er für seinen Vater einkaufte. Stéphane nimmt ihn mit nach Hause. Im einzigen Zimmer steht eine Schlafcouch. Seine Frau Marie hole gerade die beiden Töchter bei ihrer Mutter ab, erklärt Stéphane, der sich nach dem Abitur mit Gelegenheitsjobs durchschlug, bis er Krankenwagenfahrer wurde. Das ging zehn Jahre lang gut, dann wurde er arbeitslos, ebenso wie seine Frau kurz zuvor. Daraufhin konnten sie sich ihr Häuschen nicht mehr leisten.

Den meisten Freunden von damals geht kaum besser.

Da war ein Fotograf, der Käsehersteller geworden war, ein Toningenieur, der auf dem Markt Badetücher verkaufte, ein Informatiker, der Maler- und Elektrikerarbeiten machte und die Bäume ausschnitt, ein Fachmann für Spezialeffekte in Zeichentrickfilmen, der in einem Beerdigungsinstitut arbeitete, eine Filmmaskenbildnerin, die ein Dekorationsgeschäft hatte, und ein Buchhalter, der in einem Resozialisierungsverein arbeitete. Nur der Zahnarzt war wirklich Zahnarzt.

Einer, der Geisteswissenschaften studierte und nun als Krankenpfleger in der Psychiatrie arbeitet, sagt zu Paul:

„Ich tippe oft deinen Namen ein und lese Interviews mit dir, all die Dinge, die du über den Ort erzählst, wo du herkommst, und wie du den Sozialschriftsteller raushängen lässt, der die Realität dieser Welt kennt, da kann ich nur lachen, da kann ich nur herzhaft lachen. Ich sage mir, verdammt, dieser Kerl hat nie wirklich gearbeitet, er hat das nie aus eigener Anschauung kennengelernt, und er will die Realität dieser Welt kennen? Die Realität dieser Welt kennen, ich sag dir mal was, ich kenne sie! Ich kenne sie verdammt gut. Ich stecke tief drin, ich begnüge mich nicht damit, das Leid zu beschreiben, ich kriege es voll mit. Und ich versuche es zu lindern, so gut ich kann.“

Als Paul nach Hause kommt, schläft sein Vater vor dem laufenden Fernsehgerät, und das Essen steht unangerührt in der Mikrowelle. Paul telefoniert mit seiner früheren Mitschülerin Sophie, an die er damals nicht herankam, weil sie einen zehn Jahre älteren Liebhaber hatte. Während des Studiums lernte sie Alain kennen, und jetzt führt sie mit ihm ein Leben, wie sie es nie gewollt hat:

[…] die beiden Kinder, das Haus, der Mann, der arbeitete, der Alltag, die Einkäufe, der Haushalt […]

Sie verabreden sich für den nächsten Tag. Alain wird erst in drei Tagen von einer Geschäftsreise zurückkehren. Sophie und Paul gehen in den Wald und fallen dort übereinander her. Am Abend ruft Sophie an und fordert Paul auf, erneut zu ihr zu kommen.

In einem Fotoalbum der Eltern entdeckt Paul ein ihm unbekanntes Bild eines Neugeborenen, und als er seinen Vater fragt, behauptet dieser, es handele sich um seinen Cousin Sébastien.

„Was willst du mit all den Fotos? Interessiert dich plötzlich die Vergangenheit?“

Paul nimmt das Foto mit ins Krankenhaus. Seine Mutter seufzt:

„Das ist mein kleiner Engel …“
„Dein kleiner Engel?“
„Guillaume. Er hat nur drei Tage durchgehalten …“

Auf diese Weise erfährt Paul, dass er einen Zwillingsbruder hatte. Eine verstörende Erkenntnis.

Mein Vater hat mich nie geliebt. Und ich habe meinen Bruder im Augenblick der Geburt verloren. Das ist genau der Punkt.

Bevor die Mutter aus dem Krankenhaus entlassen wird, füllt Paul den Kühlschrank und den Vorratsschrank der Eltern für zehn Tage auf und stellt eine Haushaltshilfe temporär für sie ein.

Dann kehrt er in die Bretagne zurück. Dort sieht Paul einen Fremden aus dem Haus kommen, in dem er selbst nicht mehr wohnt. Der George Clooney-Verschnitt steigt in ein Audi Coupé und fährt los. Als Paul ihn in einer Kneipe wiedersieht, stürzt er sich auf ihn und schmettert ihm den Kopf gegen den Tresen. Blut spritzt aus der gebrochenen Nase des Mannes. Andere halten Paul fest, der brüllt, dieses Arschloch ficke seine Frau. Die beschwert sich kurz darauf telefonisch bei ihm. Und als er sie beschuldigt, mit dem Kerl zu schlafen, leugnet sie es und behauptet, es sei der Arzt gewesen, der nach dem erkrankten Sohn Clément geschaut habe. Aufgrund einer Anzeige des Verletzten muss Paul am nächsten Tag zum Kommissariat. Nachdem Paul sich bei dem Arzt im Krankenhaus entschuldigt hat, zieht dieser die Klage zurück. Allerdings findet Paul durch das Gespräch heraus, dass der Arzt nicht weiß, wovon er spricht, als er sich für den Krankenbesuch bei seinem Sohn bedankt. Sarah hat also gelogen!

Vorübergehend konsultiert Paul einen Psychiater.

„Also“, sagte ich zu ihm, „ich bin ein Mensch der Peripherie. Und ich habe das Gefühl, dass das die Ursache von allem ist. Die Ränder haben mich begründet. Ich kann mich nirgendwo zugehörig fühlen. Auch nicht der Welt. Ich lebe auf dem Rand. Anwesend, abwesend. Drinnen, draußen. Ich kann nie das Zentrum erreichen. Ich weiß nicht einmal, wo es sich befindet und ob es wirklich existiert. Die Peripherie hat mich begründet. Aber ich fühle mich dort nicht mehr zu Hause. Ich fühle mich nirgendwo zugehörig.“

Sophie ruft an, teilt ihm mit, dass Alain für zehn Tage verreisen werde und fordert ihn auf, zu ihr zu kommen. Auf eine Fortsetzung hatte Paul es jedoch gar nicht abgesehen; allein der Gedanke an eine Affäre mit Sophie widert ihn an.

Ich hatte zugelassen, dass sie mich in den Wald geschleppt hatte, auf das Glatteis unserer Jugendjahre. Natürlich hatten wir gefickt, obwohl ich es eigentlich nicht gewollt hatte.

Ungeschminkt erklärt er Sophie, dass er nicht vorhabe, sie wiederzusehen.

Sie brach in Tränen aus. Was erzählte ich da? Wovon redete ich? Was sei das für ein Bürgerlicher-Ehebruch-Unsinn?

Aber so leicht lässt Sophie sich nicht abweisen. Sie fährt zu Paul nach Finistère, und die beiden schlafen erneut miteinander. Sophie will ein paar Tage bleiben, hat vor, sich von Alain zu trennen und einen Job zu suchen. Paul fühlt sich gestört, unternimmt jedoch nichts dagegen – bis er Alain nachts vor dem Haus stehen sieht. Sophie will ihren Mann nicht sehen, aber Paul zieht sich an und geht hinunter. Als er mit Alain in die Wohnung zurückkehrt, ist Sophie nicht mehr da. Die beiden Männer suchen nach ihr und finden sie am Meer. Alain ruft nach ihr. Das hätte er besser nicht getan, denn sie stürzt sich daraufhin in die Wellen. Paul springt ebenfalls ins eiskalte Wasser und versucht die Bewusstlose an Land zu ziehen. In einem Krankenhausbett kommt er wieder zu sich. Sarah und der Arzt mit der verbundenen Nase sind bei ihm und antworten auf seine Frage nach Sophie, dass sie wegen Unterkühlung behandelt werde.

Um seinem Bruder beim Umzug der Eltern ins Seniorenheim zu helfen, fährt Paul erneut nach V. François‘ Auto steht schon da, als er hinkommt. Den Gedanken, sich „dem abweisenden und kalten Gesicht meines Vaters, der klagenden und abgespannten Miene meiner Mutter und der Verachtung meines Bruders aussetzen“ zu müssen, findet er unerträglich. Statt hineinzugehen, schlendert er zu Sophies Haus. Ein Kind öffnet ihm. Dann kommt Sophies Schwiegermutter an die Tür, und sobald sie begreift, wen sie vor sich hat, schreit sie ihn an und erklärt der Enkelin, es sei die Schuld dieses Mannes, dass die Mutter im Krankenhaus behandelt werden müsse. Sophie befindet sich in der psychiatrischen Klinik einer Nachbarstadt.

Stéphane ist erneut arbeitslos und weiß nicht, wie er die aufgenommenen Verbraucherkredite abbezahlen soll. Seine Frau ist mit den Kindern zu ihren Eltern gefahren. Wahrscheinlich ist die Ehe gescheitert.

Es sei überall das Gleiche, fuhr Stéphane fort, kleine Möchtegernchefs gäben an noch kleinere Möchtegernchefs demoralisierende Anweisungen, Zielvorgaben und Managementtechniken weiter, die diese voller Pflichteifer ausführten, um ihre Vorgesetzten zufriedenzustellen, und diese ganze Anhäufung von Eifer endete auf dem Rücken der Niedrigsten, die die unbedeutendsten, undankbarsten Aufgaben erfüllten, von denen man aber trotzdem vollen Einsatz und den richtigen „Betriebsgeist“ verlange, was vor allem darauf hinauslaufe, den Mund zu halten, keine Forderungen zu stellen.

Ein Mann, den Paul nicht kennt, betritt die Kneipe. Stéphane schlägt dem neuen Gast unvermittelt mit der Faust ins Gesicht. Es handelt sich um den Filialleiter des Supermarkts, der ihn entließ.

Für den Umzug hat François einen Kleintransporter gemietet. Unter den Sachen, die eingepackt werden, findet Paul eine Mappe mit Zeitungsartikeln über sich und seine Bücher. Von seinem Bruder erfährt er, dass der Vater von Anfang an alles aufhob.

„Natürlich wird er es dir nie sagen, aber er ist stolz auf dich. Dabei versteht er deine Bücher eigentlich nicht. Na ja, er versteht sie schon, aber er mag sie nicht. Es ist ihm peinlich. Er findet sie zu intim, zu schamlos, zu vulgär auch. Aber er ist stolz.“

Um 3 Uhr nachts wird Paul von François geweckt: Die Mutter ist verschwunden. Polizisten lesen sie an einer überdachten Bushaltestelle auf und bringen sie nach Hause.

„Sie wartete auf den Bus. Das hat sie uns jedenfalls gesagt. Dass sie auf den Bus warte und einen gewissen Guillaume besuchen wolle.“

François und der Vater werfen Paul vor, die Verwirrung der Mutter durch das Foto seines Zwillingsbruders verstärkt zu haben. Das Thema beschäftigt Paul jedoch sehr, und er sucht auf den Friedhöfen in der Umgebung, bis er Guillaumes Grab gefunden hat. Dann fährt er mit dem Zug nach Paris, um sich abzulenken. Dort erhält er einen Anruf seines Bruders: Die Mutter war erneut weggelaufen und wurde von einem Auto angefahren. Nun liegt sie bewusstlos in Villeneuve-Saint-Georges im Krankenhaus.

Ein Makler holt die Schlüssel ab, um sie den neuen Hausbesitzern zu übergeben. Sobald diese die Wände neu gestrichen und die Räume wieder eingerichtet haben, wird nichts mehr darin an die Steiners erinnern. Paul versucht es ebenso zu machen:

Ich löschte die Erinnerungen aus. Ich löschte die Spuren aus. Jahr für Jahr. Lebensabschnitt für Lebensabschnitt […]

Die Mutter stirbt nach sechs Tagen im Koma.

Nachdem Sarahs neuer Lebensgefährte ihrem Sohn Clément den Hintern versohlt hat, trennt Sarah sich von ihm.

Paul fliegt nach Japan. Als der Vater ihn am Telefon fragt, wie lange er zu bleiben beabsichtige, erwidert er:

„Ich werde drei Wochen in der Gegend von Sendai sein. Und anschließend werde ich ein paar Monate in Kyoto bleiben, um mein nächstes Buch zu schreiben. Und danach wird man sehen, wie es so schön heißt …“

Der Vater begreift, dass der jüngere Sohn nicht zurückkommen wird.

Nach zwei Monaten in Kyoto gelingt es Paul, Sarah am Telefon zu überreden, wenigstens für zwei Wochen mit den Kindern zu ihm zu kommen.

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Die Handlung des Romans „An den Rändern der Welt“ von Olivier Adam ist rudimentär. Der Ich-Erzähler Paul Steiner, ein Schriftsteller, kümmert sich um seinen alten Vater, als die Mutter im Krankenhaus liegt und hilft den Eltern dann beim Umzug ins Seniorenheim. Zwischendurch trifft er sich mit Jugendfreunden. Zur Frage, worauf es bei einem guten Roman ankomme, meint der Protagonist:

Gute Geschichten findet man überall, in jedem Mülleimer, die Zeitungen, die Straßen, die Häuser sind voll davon, man muss sich nur bücken, um sie aufzuheben. Und Typen, die etwas Vernünftiges daraus zu machen verstehen, stehen Schlange vor den Türen der Produzenten. Nein, entscheidend für einen guten Film wie für ein gutes Buch sind Dinge wie Stil, Blick, Rhythmus, Einstellung, Sprache, Licht, Zeit, Satz. Und eventuell die Figuren.

Wichtiger als die äußeren Ereignisse sind die Erinnerungen und Gedanken, denen Paul nachhängt. Mit außergewöhnlicher Sensibilität und Tiefenschärfe entfaltet Olivier Adam in „An den Rändern der Welt“ diesen genau beobachteten Charakter. Leserinnen und Leser können sich deshalb sehr gut einfühlen.

Depressiven Menschen würde ich die Lektüre des berührenden und bedrückenden Romans „An den Rändern der Welt“ allerdings nicht empfehlen, denn keiner der Personen geht es gut und mit Ausnahme des offenen Endes gibt es keinen Hoffnungsschimmer. Zumindest aus der Sicht des niedergeschlagenen Ich-Erzählers ist das so.

Olivier Adam ist ein wahrer Meister der poetischen Verzweiflung, dem es auf wundersame Weise immer wieder gelingt, kleinbürgerlichen Mief, Trostlosigkeit und Tod auf eine ihm ganz eigene Weise zu sublimieren. So wächst aus dem Elend eine Melancholie, die nicht nur einen eigentümlichen Charme entwickelt, sondern am Ende beinahe Hoffnung vermittelt – in diesem Fall genau an dem Punkt, an dem der Protagonist eigentlich alle Hoffnung fahren lassen muss.
(Carolin Fischer über Olivier Adams Roman „Gegenwinde“, Deutschlandradio Kultur, 29. April 2011)

Aus dramaturgischen Gründen wäre es vielleicht ratsam gewesen, in „An den Rändern der Welt“ hin und wieder einen Kontrast einzufügen, also ein angenehmes Erlebnis oder einen zufriedenen Menschen. Durch die Wahl eines depressiven Ich-Erzählers hat sich Olivier Adam diese Möglichkeit allerdings selbst verbaut.

Olivier Adam wurde am 12. Juli 1974 in Draveil südlich von Paris geboren. Sein Debütroman „Je vais bien, ne t’en fais pas“ / „Keine Sorge, mir geht’s gut“ (Übersetzung: Carina von Enzenberg) wurde 1999 gedruckt und 2006 von Philippe Lioret verfilmt: „Keine Sorge, mir geht’s gut“.

Die Namen Paul, Sarah, Manon und Clément verwendete Olivier Adam bereits für seinen 2009 veröffentlichten Roman „Des vents contraires“ / „Gegenwinde“ (Übersetzung: Andrea Spingler). Da verschwindet Sarah. Der Schriftsteller Paul verlässt daraufhin Paris und zieht mit dem neunjährigen Clément und der zwei Jahre jüngeren Manon (in „An den Rändern der Welt“ ist Manon älter als der Bruder) in die Bretagne, zu seinem Bruder Alex, der ihm einen Job als Fahrlehrer verschafft.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2015
Textauszüge: © J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger

Olivier Adam: Keine Sorge, mir geht’s gut (Verfilmung)

Åke Edwardson - Toter Mann
Lange Zeit reiht Åke Edwardson in dem Kriminalroman "Toter Mann" winzige Bruchstücke von Szenen so aneinander, dass man als Leser keinen roten Faden sieht. Erst als er beginnt, allen Figuren Namen zu geben, werden Beziehungen und Zusammenhänge erkennbar.
Toter Mann