Carlos

Carlos

Carlos

Carlos. Der Schakal – Originaltitel: Carlos – Regie: Olivier Assayas – Drehbuch: Olivier Assayas – Kamera: Denis Lenoir, Yorick Le Saux – Schnitt: Luc Barnier, Marion Monnier – Darsteller: Édgar Ramírez, Alexander Scheer, Ahmad Kaabour, Talal El-Jordi, Juana Acosta, Nora von Waldstätten, Christoph Bach, Rodney El Haddad, Julia Hummer, Antoine Balabane, Rami Farah, Aljoscha Stadelmann, Zeid Hamdan, Fadi Yanni Turk, Katharina Schüttler u.a. – 2010; 140 / 330 Minuten

Inhaltsangabe

1973 erklärt der 24-jährige Venezolaner Ilich Ramírez Sánchez einer Kommunistin in einem edlen Restaurant, man könne die Welt nur mit Gewaltaktionen verändern. Seinen ersten Mordanschlag verübt Carlos, so sein Deckname, im Auftrag der PFLP gegen einen jüdischen Unternehmer in England. Er steigt zum namhaften, global vernetzten Terroristen auf und agiert wie ein polyglotter Geschäftsmann. Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks beginnt der Niedergang: 1994 wird Carlos festgenommen ...
mehr erfahren

Kritik

Olivier Assayas folgt der von Édgar Ramírez facettenreich dargestellten Figur Carlos chronologisch von 1973 bis 1994: Aufstieg, Klimax, Niedergang. Die Darstellung wirkt authentisch, aber zwischen Fiktion und Fakten kann man kaum unterscheiden.
mehr erfahren

Paris, 28. Juni 1973. Eine nackte, sich im Bett aufrichtende Frau fragt Mohamed Boudia (Belkacem Djamel Barek), ob sie ihm noch ein Frühstück machen solle. Er lehnt dankend ab, verabschiedet sich und geht zu seinem auf der Straße geparkten Auto. Erst nachdem er darunter und in den Motorraum geschaut hat, steigt er ein. Aber der europäische Vertreter der Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) ist nicht vorsichtig genug: Eine Explosion zerfetzt ihn und den Wagen.

Mit dieser Szene beginnt Olivier Assayas seinen Film „Carlos. Der Schakal“.

Die Hauptfigur taucht erst in der nächsten Einstellung auf: Der Venezolaner Ilich Ramírez Sánchez (Édgar Ramírez) landet einen Monat nach dem tödlichen, vermutlich vom Mossad verübten Anschlag in Beirut und lässt sich zu PFLP-Chef Wadi Haddad (Ahmad Kaabour) bringen, um sich als Ersatz für Mohamed Boudia anzudienen. Wadi Haddad ernennt zwar nicht ihn, sondern Michel Moukharbal („André“ – Fadi Abi Samra) zum neuen Vertreter der PFLP in Paris, aber er gibt Ilich Ramírez Sánchez eine Chance, sich für die Aufnahme in die Organisation zu qualifizieren.

Am 30. Dezember 1973 klingelt „Carlos“, wie er sich jetzt nennt, bei Joseph Sieff, dem Vizepräsidenten der britischen Zionistenvereinigung und Miteigentümer von Marks & Spencer. Kaltblütig zwingt er den Butler, ihn zu Sieff zu bringen. Während dessen Ehefrau bereits die Polizei alarmiert, schießt er dem nackt aus dem Bad kommenden Unternehmer ins Gesicht. Nach dem ersten Schuss klemmt allerdings die Pistole, die Carlos von André erhalten hat. Er flieht. Joseph Sieff überlebt schwer verletzt.

Kurz darauf erklärt Carlos seiner kommunistischen Freundin Lydia (Juana Acosta) in einem edlen Restaurant in London, man könne die Welt nicht mit Worten und Demonstrationen verbessern. Gewaltaktionen seien dazu nötig.

Die Handlung entwickelt sich chronologisch weiter. Im ersten Teil des Films verfolgt Olivier Assayas Carlos‘ Aufstieg zu einem namhaften Terroristen. Der Mittelteil beginnt mit dem Anschlag auf die OPEC in Wien am 21. Dezember 1975. Carlos wird zwar im Anschluss daran von der PFLP verstoßen, beginnt aber nun gewissermaßen als Freelancer mit verschiedenen Geheimdiensten und Terrororganisationen – darunter Stasi und RAF – zu konspirieren. Dabei versteht er sich als Aktivist einer internationalen (heute würde man sagen: globalen) Bewegung, und er agiert wie ein polyglotter Geschäftsmann. Den zweiten Teils beschließt Olivier Assayas mit einer Unterredung Carlos‘ und seines deutschen Freundes Johannes Weinrich (Alexander Scheer) mit General Mohammed al-Khouly (Antoine Balabane) in Damaskus. Der Chef des Sicherheitsdienstes der syrischen Luftwaffe möchte sie für Anschläge in Europa gewinnen. Im letzten, im März 1979 in Budapest beginnenden Teil des Films erfolgt der Abstieg. „Carlos. Der Schakal“ endet mit der Abschiebung des Terroristen 1994. Aufstieg, Klimax, Niedergang.

Der venezolanische Schauspieler Édgar Ramírez stellt Carlos facettenreich dar. Dieser narzisstische, ruhmsüchtige Egomane ist Macho und Frauenheld, Terrorist, Kommunist und Geschäftsmann in einer Person. 1973 betrachtet er seinen nackten Körper selbstverliebt in einem Wandspiegel und greift sich stolz ans Gemächt. Im Verlauf der nächsten zweiundzwanzig Jahre nimmt er jedoch kräftig zu, wird nicht nur alkoholkrank, sondern auch drogensüchtig und verliert durch Hodenkrebs seine Zeugungskraft.

Hervorragende schauspielerische Leistungen zeigen neben Édgar Ramírez auch Alexander Scheer als Johannes Weinrich, Nora von Waldstätten als Magdalena Kopp, Julia Hummer als Gabriele Kröcher-Tiedemann, Katharina Schüttler als Brigitte Kuhlmann, Anna Thalbach als Inge Viett, Christoph Bach als Hans-Joachim Klein u.a.

Mit den psychologischen Hintergründen der Figuren beschäftigt sich Olivier Assayas nicht weiter. Ihm kommt es darauf an, ein Stück Zeitgeschichte zu zeigen. Angeblich studierte er dazu nicht nur Polizeiakten und Gerichtsprotokolle, sondern befragte auch Zeitzeugen. Dennoch scheut er nicht davor zurück, die ausgedehnten Leerstellen mit fiktiven Szenen zu füllen. Nicht auf Fakten, sondern auf Spekulationen basieren beispielsweise die Behauptungen, Saddam Hussein sei der Drahtzieher des Anschlags auf die OPEC in Wien gewesen und der damalige KGB-Chef und spätere sowjetische Staats- und Parteichef Juri Wladimirowitsch Andropow habe die Ermordung des ägyptischen Präsidenten Anwar as-Sadat angestrebt. Obwohl „Carlos. Der Schakal“ nicht zuletzt durch eingefügtes schwarz-weißes Archivmaterial und eingeblendete Namens-, Orts- und Zeitangaben authentisch wirkt, entsprechen nur einige Eckpfeiler zweifelsfrei der Wirklichkeit. Der Rest ist Kolportage, und es lässt sich nur schwer zwischen Fiktion und Fakten unterscheiden.

Der Eindruck der Authentizität entsteht auch durch die sachlich-nüchterne Erzählweise. Dramaturgisch geschickt wechselt Olivier Assayas in „Carlos. Der Schakal“ zwischen Action und ruhigen Episoden. Und er nutzt Sex und Gewalt, um die Zuschauer zu fesseln.

Ilich Ramírez Sánchez alias Carlos soll gegen den Film vergeblich geklagt haben.

„Carlos. Der Schakal“ gibt es in einer 140-minütigen Kinofassung und einer dreiteiligen, insgesamt fast sechs Stunden langen Fernsehfassung (die auch in einigen Kinos zu sehen war). Ins Kino kam der Film am 4. November 2010. Die Erstausstrahlung erfolgte am 20./21. Oktober 2011 bei Arte.

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2011

Ilich Ramírez Sánchez alias Carlos (Kurzbiografie)

Olivier Assayas: Paris erwacht

Ingrid Noll - Hab und Gier
Gewiss gibt es spannendere und raffiniertere Thriller als "Hab und Gier", aber Ingrid Noll sorgt mit makabren Humor, unerwarteten Wendungen und einfallsreich ausgestalteten Szenen für gute, fesselnde Unterhaltung.
Hab und Gier