Margaret Atwood : Das Zelt

Das Zelt
Originalausgabe: The Tent Bloomsbury Publishing Plc, London 2006 Das Zelt Übersetzung: Malte Friedrich Berlin Verlag, Berlin 2006 ISBN: 978-3-8270-0015-6, 160 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Margaret Atwood hat unter dem Titel "Das Zelt" 33 Kurzgeschichten und zwei Prosagedichte zusammengestellt. Der längste Text ist sieben Seiten lang, für den kürzesten genügen 13 Zeilen. Es sind minimalistische Prosawerke, aber die Autorin verwahrt sich gegen den Verdacht, es handele sich um Fingerübungen; sie vergleicht "Das Zelt" lieber mit einer Schachtel Pralinen ...
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Kritik

Die Themenvielfalt in "Das Zelt" ist groß. Einige der Kurzgeschichten, die Margaret Atwood hier erzählt, sind maliziös, andere komisch, satirisch, unterhaltsam, manche verstörend, und bei einigen handelt es sich um böse Träume.
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Das Zelt

Titelgebend ist die einprägsame Kurzgeschichte „Das Zelt“. Margaret Atwood hat sie in der zweiten Person Singular verfasst. Sie handelt von einer Person in einem in der Wildnis aufgestellten Zelt aus Papier.

Viele Dinge heulen da draußen in der heulenden Wildnis. Viele Menschen heulen. Einige heulen vor Kummer, weil ihre Lieben gestorben sind oder getötet wurden, andere heulen im Triumph, weil sie es geschafft haben, dass die Lieben ihrer Feinde gestorben sind oder getötet wurden. Einige heulen, um Hilfe herbeizurufen, einige heulen aus Rache, andere heulen, um etwas zu essen zu kriegen. Der Lärm ist ohrenbetäubend.

Die Person im Zelt fürchtet sich und schreibt unaufhörlich auf die Zeltplane aus Papier. Einiges davon soll die Welt außerhalb des Zeltes schildern, aber das ist nicht so einfach, wenn man es nicht wagt, hinauszuschauen. Die grafomane Person weiß, dass die heulenden Wesen da draußen ihren vom Kerzenlicht auf die Zeltwände geworfenen Schatten sehen können.

Du bist zu auffällig, du hast dich auffällig gemacht, du hast dich verraten.

Es ist eine Illusion, dieser Glaube, dass dein Buchstabensalat eine Art Panzer ist, so etwas wie ein Zauber, denn niemand weiß besser als du, wie zerbrechlich dein Zelt in Wirklichkeit ist.


Kleiderträume

Um Identitätsfindung und Selbstinszenierung geht es in „Kleiderträume“:

Oh nein. Nicht schon wieder. Das ist der Kleidertraum. Den hab ich schon seit fünfzig Jahren. Gang um Gang, Schrankvoll um Schrankvoll, Metallständer um Metallständer mit Kleidung, unter dem grellen Licht von Neonröhren erstrecken sie sich bis in die Ferne […]
Es riecht nach altem Achselschweiß. Alles ist schon getragen worden. Nichts passt. Zu klein, zu groß, zu magentafarben. Diese Polster, Reifen, Raffungen, Drahtkrägen, Samtkapuzen – keine der Verkleidungen ist meine. […] Wessen Leben lebe ich? Wessen Leben vermag ich nicht zu leben?


Der undurchdringliche Wald

Ein Mann glaubt, er habe sich in einem undurchdringlichen Wald verirrt. (Der Titel lautet denn auch: „Der undurchdringliche Wald“.)

Sein Kopf ist voller Bäume.

Da kommt eine Fee vom Himmel. Ihr Kleid ist voller Angelhaken, an denen noch Köderreste hängen: „Grillenflügel, Wurmtorsi, alte Kontoauszüge“. Und sie zaubert den undurchdringlichen Wald weg. „Voilà!“, sagt sie dann.

Deine Schulden sind bezahlt, deine emotionalen Probleme sind gelöst, deine Krankheiten geheilt. mehr noch, deine Kindheitskümmernisse – die dich gehemmt und immer wieder heruntergezogen haben –, sie sind ausgelöscht. Jetzt kannst du loslegen.

Ohne eine Spur von Dankbarkeit sieht er die Fee an.

Womit soll ich denn loslegen?, sagt er. […]
Dir ist wohl einiges nicht klar?, sagte er. Warum, glaubst du, habe ich mich überhaupt erst in dem undurchdringlichen Wald verirrt?


Lebensgeschichten

In „Lebensgeschichten“ denkt die Erzählerin bei der Betrachtung alter Fotoalben:

Die Abgebildeten haben keine Wahl mehr – wir nehmen das hier, werfen das da weg. Die, die das in Frage stehende Leben gelebt haben, hatten ihre Chancen, die sie meist nicht genutzt haben. Sie hätten den Fotografen im Busch entdecken müssen, sie hätten nicht mit offenem Mund essen dürfen, sie mussten das trägerlose Oberteil ja nicht tragen […]

Die Erzählerin wirft Notizhefte, Fotoalben, Tagebücher weg.

Wenn man erst mal angefangen hat, macht es Spaß. So viel Freiraum öffnet sich da. Zerreißen, zusammenknüllen, verbrennen, aus dem Fenster werfen.

Ich wurde geboren.
Ich wurde.
Ich.


Salome war eine Tänzerin

„Salome war eine Tänzerin“ lautet der Titel einer weiteren Kurzgeschichte.

Bereits im Alter von fünf Jahren wurde Salome von ihrer Mutter geschminkt und zu Schönheitswettbewerben für Kinder gebracht. Ihr Stiefvater leitet die größte Bank in der Stadt und hat ihr zum 16. Geburtstag einen Porsche versprochen. Als sie von ihrem Religionslehrer eine schlechte Zensur bekommt und unter Druck gerät, verführt sie den verklemmten Mann in der Hoffnung, dass sie dann ein besseres Zeugnis bekommt, ohne sich dafür anstrengen zu müssen. Als die beiden im Ferienlager erwischt wurden, hat sie keine Bluse mehr an, und er fingert am Verschluss ihres Büstenhalters herum. Die Schlampe habe ihn angestiftet, behauptet er, aber die minderjährige Schülerin beschuldigt den Lehrer, sie sexuell belästigt zu haben. Er wird entlassen.

Zum letzten Mal wurde der Typ gesehen, als er in U-Bahn-Stationen bettelte, unten in Toronto.

Doch mit Salome nimmt es ebenfalls ein schlimmes Ende: Sie strippt in Nachtklubs, vermutlich vor allem, um gegen die Eltern zu rebellieren. Jedenfalls schlagen ihr zwei Kerle mit einer Vase den Schädel ein.


Drei Romane, die ich nicht so bald schreiben werde

Unter dem Titel „Drei Romane, die ich nicht so bald schreiben werde“ erzählt Margaret Atwood eine recht unterhaltsame Satire.

Der erste Roman, den sie so bald nicht schreiben wird, hieße „WURM ZERO“.

Da verenden gleich zu Beginn alle Würmer, Maden und Nematoden. Dadurch wird der Boden unfruchtbar, und eine Hungersnot bricht aus. Für Chris und Amanda – „ein nettes junges Paar, das im ersten oder vielleicht zweiten Kapitel großartigen Sex hat“ – muss den Plan aufgeben, die Küche zu renovieren. Stattdessen flüchten die beiden ins Sommerhäuschen. Nachdem entweder Chris oder Amanda einen kathartischen Schrei ausgestoßen hat, zeigt sich in einem Winkel des Gartens ein kleiner, mit sich selbst kopulierender Wurm.

Das schlüge einen Ton verhaltener Hoffnung an. Das setze ich immer gerne als Schlusspunkt.

„SCHWAMMTOD“ würde der Titel des zweiten Romans lauten, den Margaret Atwood nicht so bald schreiben wird.

Auf einem Riff vor der Küste Floridas beginnt ein Schwamm rasend schnell und unaufhaltsam zu wachsen. Rasch erreicht er das Festland. Chris beobachtet es vom Dach seines Hauses aus, und Amanda ist verzweifelt:

Wie schade das alles ist – sie haben die Wohnung gerade gekauft, und darin hatten sie den großartigen Sex im ersten Kapitel. Und nun – guck dir das an. Die ganze Inneneinrichtung für die Katz.

Soll der Roman damit enden, dass Chris die Menschheit rettet? Bevor die Autorin diese Frage beantworten und sich darüber klarwerden müsste, ob es der menschliche Geist in der Lage wäre, es mit einem bösartigen Lappen Zellulose aufzunehmen, fängt sie lieber gar nicht erst an, den Roman zu schreiben.

Der dritte Roman, den Margaret Atwood allerdings auch nicht so bald schreiben wird, hätte den Titel einer Eingebung verdankt: KÄFERSTURZ. Aber vielleicht heißt es nicht Käfersturz oder Käfer Sturz, sondern Koffer Sturz.

Chris und Amanda hatten im ersten Kapitel großartigen Sex, aber im zweiten Kapitel tauchte Amandas Ehemann auf […], gerade als Chris – der Student ist und als ihr Gärtner in der geschlossenen und bewachten Siedlung jobbt – Amanda eine postkoitale Erklärung der Celeoptera-Plage (rot und schwarz mit orangefarbenen Kauwerkzeugen) gab, die in dieser Saison die Hecken abfraßen.

Der Ehemann springt durchs Fenster herein. Chris und Amanda flüchten mit dem Auto. Bei der Verfolgungsjagd stürzt der eifersüchtige Ehemann – „ein korrupter Öl- und Gasmanager und sadistischer Fußfetischist“ – mit seinem Wagen über das Kliff in die Tiefe.

Aber vielleicht heißt das Wort auch gar nicht Koffer Sturz, sondern Kata Strophe.


Postkolonial

Sarkastisch ist die Kurzgeschichte „Postkolonial“.

Wir haben unsere Museen und können sie mit Ausnahme von Montagen besuchen.

Wir sinnen dort über alte Zeiten nach, wir sinnen über das nach, was damals getan wurde, wir sinnen über die Eingeborenen Ureinwohner nach, denen es trotz der Pfeile oder trotz ihrer Hilfsbereitschaft schlecht erging unter unseren Händen.

Was sie betrifft, so haben unsere Hauptstädte Namen, die auf ihre Namen zurückgehen, das gilt auch für unsere Biermarken und einige, wenn auch nicht alle Waren, die wir den Touristen andrehen. […] Manchmal tauchen sie in den Museen auf, ohne Hüte, in den alten farbigen Trachten, und singen authentische Lieder und tun so, als wären sie sie selbst. Damit verdienen sie Geld.


Plots für Exoten

In der Kurzgeschichte „Plots für Exoten“ erhält der Ich-Erzähler, dessen Ehrgeiz es ist, in einem Plot mitzuspielen, von einem polyglotten Freund den Rat, sich bei der Plotfabrik zu bewerben, und er geht zu einem Vorstellungsgespräch. Der gelangweilte Angestellte hinter dem Schreibtisch fragt, welche Rolle er sich vorgestellt habe.

Rolle?, sagte ich. Ja, sagte er, damit arbeiten wir hier. Plots und Rollen. Das eine ist ohne das andere nicht zu haben. Na ja, sagte ich, ich kann es ja mal mit der Hauptrolle probieren.

Aber der Interviewer meint sogleich, dafür komme er wegen seines exotischen Aussehens nicht in Frage.

Wenn wir woanders wären, würden Sie nicht so aussehen, als wären Sie von draußen reingekommen, weil Sie schon draußen wären, wie jeder andere dort. Dann wär ich der Exot, nicht wahr? Er lachte kurz auf. Aber wir sind hier, nicht wahr. Hier sind wir. Und Sie sind da.

Daraufhin erklärt sich der Bewerber bereit, auch andere als Hauptrollen zu übernehmen. Für Exoten habe es früher nur sehr wenige Rollen gegeben, erklärt der Angestellte der Plotfabrik. Heute sei das besser.

Sie könnten der beste Freund sein, sagte er. […] Sie könnten der Hauptrolle beibringen, wie man Köpfe abschlägt, einhändig, mit einem Schwert. So was können wir immer gebrauchen. Oder Sie könnten ein weiser Mann sein; Sie könnten religiös sein, irgendein uralter Glaube, oder Sie könnten bedeutungsvolle, aber dunkle Dinge sagen, wie-heißen-die-gleich aussprechen. Weissagungen, sagte ich. Ja, sagte er, so was.

Können Sie singen? Nicht besonders gut, sagte ich. Schade, sagte er. Dann wird es nichts mit der Oper. Da gibt’s jede Menge Plots. Ich hätte Sie im Chor unterbringen können. Denen ist egal, wie Sie aussehen.

Da fragt der Bewerber, ob nicht ein Job in der Plotfabrik selbst frei wäre. Er könnte sich neue Plots ausdenken oder vorhandenen eine neue Wendung geben. Heimlich malt er sich aus, dass er einen Plot schreiben könnte, dessen Hauptrolle genau für ihn passen würde. Der Angestellte kneift die Augen zusammen.

Ich weiß nicht, sagte er. Wir haben einen gewissen Standard, den wir aufrechterhalten müssen. Ich glaub nicht, dass es funktionieren würde.


Unser Kater kommt in den Himmel

Eine der farbigsten, witzigsten und bösesten Geschichten – „Unser Kater kommt in den Himmel“ – handelt von einem kastrierten Kater, der in den Himmel kommt, dort zwar seine Hoden wiederfindet, sich jedoch erst einmal gar nicht wohlfühlt, weil er weder Höhe noch Sonne mag.

Dann sah er Gott, der auf einem Baum saß. Engel flogen mit ihren flatternden weißen Flügeln hin und her; sie gaben Laute von sich wie Tauben. Immer mal wieder streckte Gott eine große, fellbedeckte Pfote aus und griff sich einen aus der Luft und zermalmte ihn zwischen den Zähnen. Der Boden unter dem Baum war bedeckt von abgebissenen Engelsflügeln.

Gott ist eine Katze! Was am Boden herumwuselt, hält der Kater für Mäuse, und Gott fordert ihn auf, sich darüber herzumachen:

Fang ruhig, so viele du willst. Bring sie nicht gleich um. Lass sie leiden.

Gott klärt ihn darüber auf, dass es sich um die Seelen menschlicher Wesen handelt, die auf der Erde Böses taten.

Aber was machen die dann im Himmel?, sagte unser Kater.
Unser Himmel ist ihre Hölle, sagte Gott. Ich schätze ein Universum, in dem sich alles ausgleicht.

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Margaret Atwood hat unter dem Titel „Das Zelt“ 33 Kurzgeschichten und zwei Prosagedichte zusammengestellt und das Buch in drei Abschnitte eingeteilt. Der längste Text („Drei Romane, die ich nicht so bald schreiben werde“) ist sieben Seiten lang, für den kürzesten („Keine Fotos mehr“) genügen 13 Zeilen. Es sind minimalistische Prosawerke, aber die Autorin verwahrt sich gegen den Verdacht, es handele sich um Fingerübungen: „Wenn ich diese Inhalte nicht genauso minimalistisch ausdrücken wollte, würde ich sie nicht publizieren“, sagt Margaret Atwood im Interview mit Bernadette Conrad (Neue Zürcher Zeitung, 2. Dezember 2006).

Man könnte es vergleichen mit … (lacht) einer Schachtel Pralinen – alle klein und alle aus Schokolade; innen drin sind sie alle verschieden. Nüsse, Nougat – oder eben: Fabeln, Science-Fiction, Spiel mit Geschichte und Mythologie, viele Dialoge, Prosagedichte. (Margaret Atwood, a. a. O.)

Hinsichtlich der Themenvielfalt hinkt der Vergleich ein wenig, denn die ist größer als bei einer Schachtel Pralinen. Einige der Geschichten, die Margaret Atwood hier erzählt, sind maliziös, andere komisch, satirisch, unterhaltsam, manche verstörend, und bei einigen handelt es sich um böse Träume.

Die Zeichnungen, mit denen das Buch „Das Zelt“ illustriert ist, stammen von der Autorin selbst. Margaret Atwood hat auch das Cover gestaltet: ein schwarzes Zelt aus Buchstaben, das von zwei roten Höllenhunden mit flammenden Schweifen bedroht wird. Auf einer Zeichnung im Inneren des Buches ist das Zelt zu einem Haufen Buchstaben geworden, und die Höllenhunde machen sich darüber her.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2014
Textauszüge: © Berlin Verlag

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