Margaret Atwood : Der blinde Mörder

Der blinde Mörder
Originalausgabe: The Blind Assassin McClelland & Steward, Toronto 2000 Der blinde Mörder Übersetzung: Brigitte Walitzek Berlin Verlag, Berlin 2000 ISBN 3-8270-0013-0, 700 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Kurz vor ihrem Tod im Mai 1999 blickt die Greisin Iris Griffen auf ihr Leben zurück. Sie erinnert sich, wie das Familienunternehmen in Port Ticonderoga, Ontario, Mitte der 30er-Jahre vor dem Bankrott stand und sie deshalb im Alter von 18 Jahren die Frau eines doppelt so alten Industriellen in Toronto wurde, von dem sich ihr Vater die Rettung des Unternehmens erhoffte. Dabei hatten sie und ihre jüngere Schwester sich damals gerade in einen mittellosen Bolschewiken verliebt ...
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Kritik

Neben der kunstvoll verschachtelten Konstruktion sind es vor allem Margaret Atwoods geschliffene Sprache, der Sarkasmus, der Esprit und die elegante Gedankenführung, die "Der blinde Mörder" zu einem brillanten Roman und außergewöhnlichen Lesevergnügen machen.
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Die Anfänge

Anfang der Siebzigerjahre des 19. Jahrhunderts gründete Benjamin Chase in Port Ticonderoga, Ontario, eine Knopffabrik. 1889 wurde sein Wohnsitz „Avilion“ in derselben Stadt fertiggestellt. Er und seine Frau Adelia hatten drei Söhne: Norval, Edgar („Eddie“) und Percival („Percy“). Damit sie nicht in der Fabrik ihres Vaters „verrohten“, sorgte ihre aus der vornehmen Familie Montford in Montreal stammende Mutter Adelia dafür, dass sie die Trinity College School in Port Hope besuchten. Wenn sie in den Ferien nach Hause kamen, ließen sie ihren Vater spüren, dass sie ihn verachteten, weil er kein Latein konnte, nicht einmal schlechtes wie sie. Keiner von ihnen war willens, die Fabrik zu übernehmen.

Im Juli 1914 – ein Jahr nach dem Krebstod seiner Mutter – heiratete Norval die achtzehnjährige Tochter eines Rechtsanwalts: Liliana. Dann brach der Erste Weltkrieg aus. Eddie und Percy fielen 1916 in Frankreich. Daraufhin traf den Vater der Schlag. Norval wurde mehrmals verwundet und befördert; Captain Norval Chase kam mit Orden, aber einem verkrüppelten Bein und einäugig aus dem Krieg zurück. Nach dem Tod des Vaters und der jüngeren Brüder fühlte er sich verpflichtet, das Familienunternehmen Chase Industries weiterzuführen. Vor Verzweiflung begann er zu trinken.

Iris Chase wurde Anfang Juni 1916 geboren, ihre Schwester Laura knapp vier Jahre später. Als Iris neun und Laura sechs Jahre alt waren, erlitt ihre Mutter eine Fehlgeburt und starb fünf Tage später. Die beiden Halbwaisen blieben in der Obhut des Kindermädchens Reenie.

Adelia Chase hatte in Port Ticonderoga ein Denkmal für Colonel Parkman, einen Veteran der amerikanischen Revolution, errichten lassen.

Mit hocherhobenem Degen sitzt er auf seinem Pferd und sieht aus, als würde er jeden Augenblick ins nächste Petunienbeet galoppieren […] Niemand weiß, wie Colonel Parkman in Wirklichkeit aussah, da er keine bildlichen Zeugnisse hinterließ und die Statue erst 1885 errichtet wurde, aber jetzt sieht er so aus. Das ist die Tyrannei der Kunst. (Seite 195)

Nach dem Vorbild seiner Mutter gab Captain Norval Chase ein Kriegerdenkmal in Auftrag und ließ deshalb die Bildhauerin Callista („Callie“) Fitzsimmons kommen.

Miss Callista Fitzsimmons war nicht nur eine Frau, sie war auch achtundzwanzig Jahre alt und rothaarig. Sie fing an, häufig nach Avilion zu kommen, um mit Vater über das geplante Vorhaben zu sprechen. Diese Besprechungen fanden in der Bibliothek statt, erst bei offener Tür, dann nicht mehr. Sie wurde in einem der Gästezimmer untergebracht, erst im zweitbesten, dann im besten […]
Vater wirkte glücklicher; jedenfalls trank er weniger. (Seite 196)

Die Dreißigerjahre

Anfang der Dreißigerjahre hätte Norval Chase Teile seiner Fabrik schließen und Arbeiter entlassen müssen, um sich dem Nachfragerückgang anzupassen, aber das wollte er nicht.

Der Gedanke war ihm unerträglich. Es war ihm unerträglich, seinen Männern die Arbeit wegzunehmen. Er schuldete ihnen Treue, diesen seinen Männern. Auch wenn einige von ihnen Frauen waren. (Seite 224)

Beim jährlichen Betriebsfest musste 1934 kräftig gespart werden, doch wie üblich hielt Chase eine Rede.

Die Rede selbst war nie sehr aussagekräftig, aber man konnte zwischen den Zeilen lesen. „Grund zur Freude“, war gut; „Grund zum Optimismus“ war schlecht […]
Vater sagte vier Mal „Grund zum Optimismus“ und kein einziges Mal „Grund zur Freude“. Es gab besorgte Gesichter. (Seite 230)

1934 wurde der härteste Konkurrent des Chase-Unternehmens, Richard E. Griffen von Royal Classic Knitwear in Toronto, zu einem Abendessen nach Avilion eingeladen. Ohne ihren Vater zu fragen, lud die vierzehnjährige Laura auch einen Studenten ein, den sie gerade erst kennen gelernt hatte: Alex Thomas. – Griffen erschien mit seiner Schwester Winifred („Freddie“) Griffen Prior.

„Was für ein bezauberndes Haus“, sagte Winifred Griffen Prior mit einem sorgfältig abgemessenen Lächeln, als wir ins Esszimmer hinübergingen. „Es ist so – so gut erhalten! Was für erstaunliche Buntglasfenster – so Fin de siècle! Es muss für Sie sein, als lebte man in einem Museum […]
„Wenn Sie Museum sagen, wollen Sie damit verstaubt sagen?“, sagte Alex Thomas. „Oder haben Sie altmodisch gemeint?“
Vater runzelte die Stirn. Winifred besaß, wie ich fairerweise sagen muss, den Anstand, zu erröten. (Seite 250f)

Im Oktober 1934 tauchten bolschewistische Agitatoren und Gewerkschaftsfunktionäre in Port Ticonderoga auf und wiesen darauf hin, dass die Firma Chase in Schwierigkeiten sei.

Beide Gerüchte – die über die auswärtigen Agitatoren und über die Schwierigkeiten in den Fabriken – wurden öffentlich abgestritten. Beide wurden geglaubt. (Seite 274)

Ende des Jahres wurde das Unternehmen bestreikt. Callista Fitzsimmons, die mit ihren Künstlerfreunden auf Kosten ihres Geliebten gelebt hatte, warf Norval Chase plötzlich vor, ein Plutokrat zu sein. Und als er ihr erklärte, dass man kein Plutokrat sein könne, wenn man pleite sei, bezeichnete sie ihn als reaktionären Bourgeois. Darüber zerbrach das Liebesverhältnis.

In der Fabrik wurde Feuer gelegt. Den Nachtwächter Al Davidson hatten die Brandstifter vorher erschlagen. Militärs griffen ein. Als sie die Ruhe wieder hergestellt hatten, kamen Mounties nach Avilion und fragten nach Alex Thomas, den sie als einen der Rädelsführer verdächtigten. Gleich darauf fand Iris heraus, dass Laura den Gesuchten im Kühlkeller versteckt hatte. Da hätte er jedoch entdeckt werden können. Deshalb brachte Iris ihn auf den Dachboden. Einmal, als sie ihm etwas zu essen brachte, küsste er sie unversehens. Schließlich versorgten die Schwestern Alex Thomas mit einem alten Mantel ihres Vaters und steckten ihm ein paar Äpfel für die Flucht zu. – Längst hatten beide sich in ihn verliebt, aber darüber sprachen sie nicht.

Rettungsversuch

Anfang 1935 fuhr Norval Chase mit Iris für ein paar Tage nach Toronto. Mehrmals trafen sie sich mit Richard Griffen zum Essen. Einmal brachte Chase seine ältere Tochter zu der Verabredung und bereitete sie darauf vor, dass er sie mit Griffen allein lassen werde, denn der reiche Unternehmer wolle ihr einen Heiratsantrag machen. Er habe bereits sein Einverständnis erklärt, denn die Verbindung sei die einzige Möglichkeit, das bankrotte Familienunternehmen zu erhalten. Andernfalls wären fünfzig oder sechzig Jahre Arbeit umsonst gewesen, und sie würden auch Avilion verlieren. Aber die Entscheidung liege selbstverständlich ganz bei ihr; er wolle ihr nichts aufzwingen. Die Achtzehnjährige erschrak zutiefst über die Aussicht, einen fast doppelt so alten Mann zu heiraten, aber sie wusste auch, dass ihr nichts anderes übrig blieb.

Eine Woche nach der Verlobung traf Winifred sich mit Iris zum Mittagessen in einem Restaurant. Sie war neunundzwanzig oder dreißig, also fünf oder sechs Jahre jünger als ihr Bruder. Ihr oblag es offenbar, Iris zu einer Großstadtdame zu erziehen, sie passend einzukleiden und ihre ländlichen Tischmanieren zu verbessern.

Nicht zuletzt aus Rücksicht auf den Brautvater, der kein Geld gehabt hätte, um die Feier zu bezahlen, fand die Hochzeit 1935 in Winifreds Pseudo-Tudor-Fachwerkhaus in Rosedale statt. Iris hatte nur eine ungefähre Vorstellung, was sie in der Hochzeitsnacht erwartete und fand die Erfahrung dann abstoßend. Am nächsten Tag reiste Richard mit ihr nach New York, wo sie an Bord der „Berengeria“ gingen. London, Paris, Rom und Berlin waren die Reiseziele in Europa. Dort hatte Richard geschäftlich zu tun.

Erst nach ihrer Rückkehr erfuhr Iris von Laura, dass ihr Vater wenige Tage nach der Hochzeit gestorben war. Richard hatte die Telegramme absichtlich unterschlagen, angeblich aus Rücksicht auf seine junge Frau, vermutlich aber vor allem, um die Reise wie geplant durchführen zu können. Ihr Vater habe sich zu Tode getrunken, erzählte Laura, als seine Fabrik geschlossen worden war. Richard hatte die beiden Unternehmen zusammengelegt – „Griffen-Chase Royal Consolidated“ – und alle Produktionsanlagen nach Toronto geschafft. Iris wusste, dass Richard das vor der Hochzeit ganz anderes mit ihrem Vater vereinbart hatte.

Ich hatte Richard also umsonst geheiratet – ich hatte weder die Fabriken gerettet, noch hatte ich Vater retten können. (Seite 421)

Meine Aufgabe bestand darin, die Beine breit zu machen und den Mund zu halten.
Falls das brutal klingt, so war es das auch. Aber es war nichts weiter Ungewöhnliches. (Seite 444)

Laura

Die fünfzehnjährige Laura wohnte nun bei ihrer Schwester und deren Ehemann. Im August riss sie aus und wurde erst nach tagelanger Suche gefunden, aber Griffen stellte das Ganze als Missverständnis dar, um Aufsehen zu vermeiden.

Einmal besuchten Iris und Laura Reenie in Port Ticonderoga. Sie war inzwischen mit einem Mann namens Ron Hincks verheiratet und hatte ein Baby: Myra.

Ende Oktober 1936 teilte Iris ihrem Mann mit, sie sei schwanger. Im siebten Monat der Schwangerschaft unterrichtete Richard sie darüber, dass er Laura in eine geschlossene Anstalt mit dem Namen BellaVista hatte einweisen lassen. Die Adresse – Arnprior, Ontario – verriet er ihr nicht. Laura habe Wahnvorstellungen, behauptete er, bilde sich ein, schwanger zu sein und solle auf ärztlichen Rat weder Briefe noch Besuche erhalten.

Anfang April 1937 wurde Iris von ihrer Tochter Aimee entbunden.

Schließlich entkam Laura aus BellaVista: Ein Anwalt tauchte dort auf, zweifelte die Vollmacht für die Einweisung an, drohte mit einem Skandal und nahm sie mit. Iris ließ einige Zeit vergehen, dann fuhr sie zu Reenie nach Port Ticonderoga. Wie sie vermutet hatte, war der Rechtsanwalt von Reenie geschickt worden. Reenie wollte nicht verraten, wo Laura sich jetzt aufhielt, doch Iris ahnte, dass ihre Schwester sich auf dem Dachboden in Avilion versteckte.

Die Vierzigerjahre

Bei Kriegsausbruch geriet Richard Griffen in Schwierigkeiten, weil er geschäftliche Beziehungen mit Hitler-Deutschland gepflegt hatte, die jetzt wegbrachen. Aber es gelang ihm, sich politisch umzuorientieren, und sein Unternehmen profitierte von dem erhöhten Bedarf der Armee. Iris lebte an seiner Seite und fügte sich.

Ich hatte eine Fehlgeburt, dann noch eine. Richard seinerseits hatte eine Geliebte, dann noch eine, vermutete ich zumindest […] (Seite 633)

Im Winter 1944/45 erhielt Iris ein Telegramm mit der Nachricht, dass Alex Thomas in den Niederlanden gefallen war. Der verwaiste und unverheiratete Mann hatte ihre Adresse als die seiner nächsten Angehörigen angegeben.

Unmittelbar nach Kriegsende, am 19. Mai 1945, trafen Iris und Laura sich heimlich in einem Café. Laura versicherte ihrer Schwester, sie sei wirklich schwanger gewesen, und man habe in BellaVista eine Abtreibung vorgenommen. Über den Vater verriet Laura nichts, aber Iris vermutete, dass das Kind – wenn es denn eines gegeben hatte – von Alex gezeugt worden war. Laura rechnete fest damit, dass Alex demnächst aus dem Krieg in Europa zurückkehren würde. Statt sie in dem Glauben zu lassen, klärte Iris sie darüber auf, dass er tot war. Da stand Laura wortlos auf, nahm die Handtasche ihrer Schwester und verließ das Café. Iris musste mit einem Taxi nach Hause fahren, denn auch ihr Auto war fort. Am nächsten Tag überbrachten zwei Polizisten die Nachricht, dass Laura mit dem Auto von der wegen Bauarbeiten gesperrten Brücke an der St. Clair Avenue in die Tiefe gestürzt war.

Griffen sorgte dafür, dass die Zeitungen statt von einem Selbstmord von einem tragischen Unfall schrieben.

In einer Schublade stieß Iris auf frühere Schulhefte mit Notizen ihrer Schwester. Andeutungen legten den Schluss nahe, dass Laura tatsächlich schwanger gewesen war, und zwar nicht von Alex Thomas, sondern von Richard Griffen.

Nach Lauras Beerdigung wartete Iris noch eine Woche, dann verließ sie ihren Mann. In einem Brief schrieb sie ihm, dass sie aus Rücksicht auf seine politischen Ambitionen auf eine Scheidung verzichte. Als Gegenleistung verlangte sie Geld, um sich in Port Ticonderoga ein Häuschen kaufen und mit Aimee leben zu können. Für den Fall, dass er ihr Schwierigkeiten machen würde, drohte sie ihm mit einem Skandal.

Knapp zwei Jahre nach dem Tod ihrer Schwester schickte Iris ein Manuskript an den Verlag Reingold, Jaynes & Moreau in New York, der den Roman noch im gleichen Jahr veröffentlichte: „Der blinde Mörder“ von Laura Chase.


„Der blinde Mörder“

„Der blinde Mörder“ handelt von einer Frau, die sich immer wieder stundenweise in billigen Hotelzimmern und von Freunden zur Verfügung gestellten Wohnungen mit einem Mann trifft, der aufgrund seiner politischen Aktivitäten von der Polizei gesucht wird. Auch die Frau muss darauf achten, dass niemand hinter ihr Geheimnis kommt. Die beiden gehen zusammen ins Bett, und der Mann erzählt der Frau Geschichten.

Eine davon spielt auf dem Planeten Zykron, der sich in einer anderen Dimension befindet. Es ist die Geschichte der unter einem Steinhaufen begrabenen, früher einmal prachtvollen Stadt Sakiel-Norn. Deren Reichtum beruhte auf kostbaren Teppichen, die von Sklaven gewebt wurden, und zwar ausschließlich von Kindern, deren Hände noch fein genug waren. Die Arbeit führte unweigerlich zur Erblindung.

Aber die unermüdliche Feinarbeit, die diesen Kindern abverlangt wurde, führte dazu, dass sie im Alter von acht oder neun Jahren erblindeten, und ihre Erblindung war der Gradmesser, anhand dessen die Teppichhändler ihre Waren bewerteten und anpriesen: Dieser Teppich hat zehn Kinder blind gemacht, sagten sie beispielsweise. Dieser hier fünfzehn, dieser hier zwanzig. Da er Preis dementsprechend stieg, übertrieben sie immer. Es war Brauch, dass die Käufer über die Behauptungen der Händler spotteten. Ganz gewiss höchstens sieben, höchstens zwölf, höchstens sechzehn, sagten sie, während sie den Teppich befingerten. (Seite 36f)

Die erblindeten Kinder wurden an Bordelle verkauft, wo sie wegen ihrer immer noch feinen Finger sehr begehrt waren. Einigen von ihnen gelang die Flucht, und weil sie sich geräuschlos bewegen konnten und über ein feines Gehör verfügten, schlugen sie sich als Auftragsmörder durch.

Der Legende über die Gründung der Stadt zufolge hatten neun gottesfürchtige Väter ihre Töchter geopfert. Zum Gedenken an die Stadtgründung wurden seither jedes Jahr neun Jungfrauen ausgesucht, denen der König in einer feierlichen Zeremonie die Kehle durchschnitt. Es wäre eine Beleidigung der Götter gewesen, dabei nicht einige der schönsten Mädchen auszusuchen. Lange vor der Opferzeremonie wurden sie in den Tempel gebracht und dort vorbereitet. Dazu gehörte auch, dass man ihnen einige Wochen vor dem Tod die Zunge herausschnitt und der Herr der Unterwelt sie in der letzten Nacht entjungferte. Dabei war es bald ein offenes Geheimnis, dass in der Rolle des Herrn der Unterwelt verkleidete Zykroniten auftraten, die der Hohepriesterin dafür heimlich eine Menge Geld bezahlten.

Schließlich planten einige Höflinge eine Palastrevolte und beauftragten einen der blinden Mörder, nach dem Besuch des „Herrn der Unterwelt“ eines der Mädchen zu töten, dessen Kleider anzuziehen und Schleier anzulegen, um während der Opferzeremonie den König erdolchen zu können.

Der blinde Mörder schlich sich in den Tempel, schnitt der Wächterin die Kehle durch und betrat das Gemach einer der Jungfrauen irrtümlich noch vor dem „Herrn der Unterwelt“. Er betastete das Gesicht der Stummen und ihren Körper. Vorsichtig, um ihr nicht unnötig weh zu tun, drang er in sie ein. Dabei verliebten sich die beiden. Bevor der geile Zykronit, der dafür bezahlt hatte, erschien, flohen der Blinde und die Stumme aus dem Tempel. Außerhalb der Stadt legten sie sich erschöpft zum Schlafen nieder.

So wurden sie von drei Kundschaftern des Volkes der Verzweiflung gefunden. Man brachte sie zum Anführer, der sich Diener des Frohlockens nannte. Sie erklärten ihm, auf welchem Weg er mit seinen Männern in die Stadt eindringen konnte, und während der blinde Mörder und seine stumme Geliebte sich in die Berge zurückzogen, wurde Sakiel-Norn vom Diener des Frohlockens und seinem Volk der Verzweiflung zerstört.

1936 verabschiedete der Erzähler sich von seiner Geliebten, um im Spanischen Bürgerkrieg mitzukämpfen. Sie machte sich Sorgen um ihn, bis er kam unverletzt zurückkehrte. Allerdings reiste er einige Zeit später erneut nach Europa in den Krieg.


Iris

Das Buch „Der blinde Mörder“ löste in Toronto einen Skandal aus. Erneut wurden Zweifel daran geäußert, ob Laura bei einem Unfall ums Leben gekommen war oder sich das Leben genommen hatte. Die Polizei durchsuchte BellaVista und stieß dabei auch auf die Korrespondenz des Anstaltsdirektors mit Richard Griffen. Die Einrichtung wurde geschlossen. Griffen, der gerade vorhatte, für die „Fortschrittlich Konservativen Partei“ im Wahlbezirk St. David’s in Toronto zu kandidieren, zog sich aus der Politik zurück. Im Juni 1947 wurde die Leiche des Siebenundvierzigjährigen auf seinem Segelboot „Wassernixe“ gefunden. Es war an seiner privaten Anlegestelle am Jogues-River in der Nähe seiner Sommerresidenz Avilion in Port Ticonderoga festgemacht. Als Todesursache stellte der Arzt eine Gehirnblutung fest.

Aimee Griffen glaubte nicht, dass Iris und Richard ihre leiblichen Eltern waren; sie vermutete, in Wirklichkeit die Tochter von Laura und dem männlichen Protagonisten in „Der blinde Mörder“ zu sein. Sie war alkohol- und drogenabhängig, zog häufig um, wurde mehrmals von der Polizei aufgegriffen und in entsprechende Kliniken eingeliefert. 1971 gebar sie eine Tochter: Sabrina. Den Vater kannte niemand außer ihr. Im August 1975 wurde die Achtunddreißigjährige von Nachbarn tot am unteren Ende der Treppe zu ihrer Souterrainwohnung in Toronto aufgefunden: Sie hatte sich beim Sturz das Genick gebrochen.

Iris nahm die vierjährige Sabrina bei sich auf, aber ihre Schwägerin ließ sie von einem Privatdetektiv beschatten, der schließlich mit Fotos dokumentieren konnte, dass Iris wechselnde Männer mit in ihre Wohnung nahm. Mit diesem Material erstritt Winifred vor Gericht das Sorgerecht für Sabrina.

Wäre es Sabrina bei mir besser ergangen als bei Winifred? Wie muss es für sie gewesen, sein, bei einer reichen, rachsüchtigen, verbitterten alten Frau aufzuwachsen? Statt bei einer armen, rachsüchtigen, verbitterten alten Frau, nämlich mir. Aber ich hätte sie geliebt. (Seite 575)

Winifred Griffen Prior starb im Februar 1998 nach langer Krankheit im Alter von zweiundneunzig Jahren in ihrem Haus in Rosedale.

Die ehemalige Knopffabrik in Port Ticonderoga konnte vor dem Abriss bewahrt werden. In dem Gebäude befinden sich jetzt verschiedene Läden, darunter auch „The Gingerbread House“, in dem Myra Geschenke und Antiquitäten verkauft. Avilion heißt inzwischen „Valhalla“ und ist ein Altersheim.

Ich habe das Gefühl, dass sie mich verachten, weil ich so wenig Geld habe; aber auch, weil ich früher so viel hatte. Natürlich hatte ich nie wirklich Geld. Vater hatte welches und dann Richard. (Seite 194)

Iris leidet vor allem darunter, dass Sabrina nichts von ihr wissen will. In der Hoffnung, dass ihre Enkelin die Aufzeichnungen einmal lesen wird, schreibt sie ihre Autobiografie, in der sie auch gesteht, dass „Der blinde Mörder“ nicht von Laura, sondern von ihr geschrieben und Aimee nicht von Richard Griffen, sondern von Alex Thomas gezeugt wurde.

Iris Chase Griffen stirbt im Mai 1999 im Alter von dreiundachtzig Jahren in Port Ticonderoga.

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Die Handlung des Romans „Der blinde Mörder“ erstreckt sich über mehr als hundert Jahre: von der Gründung des Familienunternehmens Anfang der Siebzigerjahre des 19. Jahrhunderts in Port Ticonderoga, Ontario, bis zum Tod der dreiundachtzigjährigen Erzählerin Iris Chase Griffen im Mai 1999. Der Schwerpunkt liegt auf der Zeit von 1935 bis 1945, als Iris und ihre jüngere Schwester Laura sich in einen mittellosen Bolschewiken verliebten, die achtzehnjährige Iris jedoch aus Vernunftgründen einen doppelt so alten Industriellen in Toronto heiraten musste, Laura nach dem Tod ihres Vaters von ihrem Schwager aufgenommen wurde und sich zehn Jahre später das Leben nahm. „Der blinde Mörder“ handelt von der Ausgeliefertheit der beiden Frauen an den ehrgeizigen Unternehmer Richard Griffen.

Zehn Tage nach Kriegsende lenkte meine Schwester Laura ein Auto von einer Brücke. (Seite 13)

So beginnt Margaret Atwood ihren Roman „Der blinde Mörder“. Sie entwickelt die komplexe, facettenreiche Geschichte nicht chronologisch, sondern kunstvoll verschachtelt auf mehreren Ebenen: Zunächst einmal schreibt Iris am Ende des 20. Jahrhunderts eine Autobiografie, aus der ihre Enkelin Sabrina die Wahrheit über ihre Mutter, Großmutter und deren Schwester erfahren soll. Iris beschreibt ihre Gegenwart als Greisin kurz vor dem Tod (ein unverblümtes Porträt!) und erzählt von früher. Eingestreut sind datierte Zeitungsartikel über markante Ereignisse in der Familiengeschichte wie zum Beispiel Lauras Tod. Die von Iris verfassten Kapitel wechseln sich mit Abschnitten aus dem unter Lauras Namen veröffentlichten Roman „Der blinde Mörder“ ab, in dem es um ein namenloses Liebespaar geht, bei dem man an Laura Chase und Alex Thomas denken muss, aber auch um einen Zukunftsroman (also einen Roman im Roman im Roman), dessen Handlung der Mann sich in den Gesprächen mit seiner Geliebten ausdenkt.

Neben dieser virtuosen Konstruktion sind es vor allem Margaret Atwoods geschliffene Sprache, der Sarkasmus, der Esprit und die elegante Gedankenführung, die „Der blinde Mörder“ zu einem brillanten Roman und außergewöhnlichen Lesevergnügen machen.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005 / 2008
Textauszüge: © Berlin Verlag

Margaret Atwood (Kurzbiografie / Bibliografie)

Margaret Atwood: Der Report der Magd (Verfilmung)
Margaret Atwood: Lady Orakel
Margaret Atwood: Katzenauge
Margaret Atwood: Moralische Unordnung
Margaret Atwood: Das Zelt
Margaret Atwood: Hexensaat
Margaret Atwood: Die Zeuginnen
Margaret Atwood: Penelope und die zwölf Mägde

Herbert Heinrich Beckmann - Es sind Kinder
Geschickt schafft Herbert Heinrich Beckmann in "Es sind Kinder" von Anfang an Suspense und evoziert das Gefühl einer Bedrohung. Er konzentriert sich auf Tine und Stefan. Abwechselnd und mit großer Empathie versetzt er sich in die beiden Hauptfiguren. Das zeigt sich auch in den lebensechten Dialogen. Sogar Belanglosigkeiten lösen einen Streit aus, der dann durch Wortverdrehungen und aufgrund unterschwelliger Aggressionen eskaliert.
Es sind Kinder