Saphia Azzeddine : Bilqiss

Bilqiss
Originalausgabe: Bilqiss Éditions Stock, Paris 2015 Bilqiss Übersetzung: Birgit Leib Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2016 ISBN: 978-3-8031-3281-9, 173 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Anstelle des betrunkenen Muezzin ruft die junge Muslima Bilqiss in ihrem Dorf spontan zum Gebet. Deshalb muss sie nun mit der Steinigung rechnen. Stolz und mutig, zornig, frech und zynisch verteidigt Bilqiss sich. Nachdem sie den Richter beinahe zum Lachen gebracht hat, ordnet er erschrocken 37 Peitschenhiebe an. Ein Video von der brutalen Bestrafung im Internet veranlasst die amerikanisch-jüdische Journalistin Leandra Hersham, in das muslimische Dorf zu reisen ...
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Kritik

Mit orientalischer Fabulierlust, aber nicht blumig ausschweifend, sondern flott und stringent, entwickelt Saphia Azzeddine die Geschichte, mit der sie die Unterdrückung der Frau im Islam anprangert, zugleich aber auch die westliche Arroganz.
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In einem muslimischen Dorf steht eine junge Frau vor Gericht. Ein Käfig verhindert, dass Bilqiss, so heißt sie, im Gerichtssaal gelyncht wird, aber die Gitterstäbe können sie nicht vor Spucke oder Hieben mit einem Gürtel schützen.

Bereits mit ihrer Geburt verärgerte sie sowohl ihren Vater als auch die Hebamme, weil sie kein Junge war. Über die Tatsache, dass sie weiblich ist, meint Bilqiss:

„Nichts anderes hat mir jemals so viele Ärgernisse beschert.“

Ihre Eltern starben, als sie noch ein Kind war. Ihr Großvater verkaufte sie dem ehemaligen Fischer Qasim, und der 46-Jährige, der inzwischen als Chauffeur und Spitzel für die Mullahs arbeitete, nahm die 13 Jahre alte Waise zur Frau. Die Schule durfte sie nicht länger besuchen, aber das Gebäude wurde im Jahr darauf ohnehin niedergebrannt – ebenso wie die kommunale Bibliothek. Bilqiss wurde von ihrem Mann misshandelt, bis sie ihn vor einem Jahr mit einer vom Herd genommenen Frittierpfanne totschlug.

Dank hunderter, mit Fensterputzen im Haus verbrachter Stunden hatte ich einen so athletischen Arm, dass es keines dritten Schlages bedurfte.

Am nächsten Morgen wandte sich Bilqiss an die beiden US-Soldaten Dick Stone und Sergeant Ramirez aus der nahen Kaserne, in der sie putzte. Weil Bilquiss nicht verriet, dass Stone und Ramirez in einem Nebengebäude Haschisch rauchten und Pornos guckten, durfte sie deren Laptop mit Internet-Antenne benutzen. Respekt vor Frauen kannten die Männer nicht einmal in ihrer Heimat:

Amerikas Frauen waren alle Schlampen, die für Gleichberechtigung plädierten, ohne ihren Anteil im Restaurant zu bezahlen.

Die beiden Soldaten hatten Erfahrungen mit Kollateralschäden und schlugen die Stirn der Leiche ein paar Mal gegen den Boden, damit es so aussah, als sei Bilqiss‘ Ehemann beim Reparieren der Satellitenschüssel vom Dach gestürzt. Die Polizei fiel darauf herein. Dass Qasims Nase verbrannt war, wunderte offenbar keinen der Ermittler.

Der unentdeckte Totschlag ist also nicht der Grund dafür, dass Bilqiss mit der Steinigung rechnen muss. Wessen ist sie dann angeklagt?

Vor ein paar Tagen kam die Frau des Muezzin zu ihr ins Haus, aber nicht einmal zu zweit schafften sie es, den wieder einmal Betrunkenen zu wecken.

Bevor wir ihn verließen, drehten wir ihn auf den Rücken in der Hoffnung, er würde in seinem eigenen Erbrochenen ersticken.

Weil der Zeitpunkt für den Ruf des Muezzin gekommen war, betrat Bilqiss spontan das Minarett und stieg die Wendeltreppe hinauf. Ohne über die Konsequenzen nachzudenken, rief sie von der Turmspitze zum Morgengebet.

Die Höhe gab mir Flügel, und ohne zu überlegen, wandelte ich hier und da ein paar allzu doktrinäre Passagen ab, um sie mit Nuancen, Erbarmen und Alltäglichem anzureichern.

Damit erregte sie den Zorn der Dorfbewohner. Deshalb steht sie vor Gericht. Die von Herrn Karzi vertretene Anklage wurde bereits um etwa 20 Sittenwidrigkeiten ergänzt. Bilqiss wird beschuldigt, Make-up verwendet, Seidenstrümpfe und Stöckelschuhe getragen zu haben. Bei der Plünderung ihres Hauses fand man ein Plüschtier, einen persischen Gedichtband und Kassetten mit Liedern von Abdelhalim Hafez. Außerdem lagen in ihrem Kühlschrank Zucchini und Auberginen, obwohl Frauen phallisch geformtes Gemüse vom Händler auf dem Markt in Stücke schneiden lassen müssen.

Herr Karzi will das Böse an der Wurzel ausrotten. Dem stimmt Bilqiss zu. Allerdings meint sie mit Wurzel den Penis.

Der Richter wirft Bilqiss vor, den Adhan modifiziert und die Worte Mohammeds eigenmächtig ausgelegt zu haben.

– Und Sie, haben Sie die Erlaubnis? fiel ich ihm ins Wort. […] Ist der Name Allahs ein eingetragener Markenname? Sie haben Sein Wort gestohlen und es als Geisel genommen, um aus Ihm eine Marionette zu machen, deren Bauchredner Sie sind.

Eine spontan formulierte Passage in Bilqiss‘ Adhan lautete:

„[…] Allah ist erfreut, […] den Gläubigen zu sehen, der etwas vollbringt; so wie du, Bäcker, den ich zu deinem Laden gehen sehe, wo du dein Brot kneten wirst, um die Gemeinde zu ernähren, wie du, Gemüsebauer, der du deine Ernte auf deinem Stand ausbreitest, um der Erste und Bestplatzierte auf dem Markt zu sein, wie du, Gärtner, der du unsere Gärten stündlich gleichmäßig bewässerst, damit sie üppig gedeihen, und wie du, ja auch dich sehe ich, Lehrer für Geschichte und Geografie, der du deine Schularbeiten im Schein einer Straßenlaterne korrigierst, damit die Jungen, wenigstens die, trotz allem lernen, dass die Welt weit und nicht festgefahren ist, euch alle sehe ich von da aus, wo ich bin, und ich glaube, dass Allah euch sehr lieb hat, obwohl ihr heute Morgen vergesst zu beten. Gott ist groß.“

Aufgrund der Anschuldigung, das Morgengebet versäumt zu haben, ordnet das Gericht nun an, den Bäcker, den Gemüsebauer, den Gärtner und den Lehrer zum Dorfplatz zu bringen und jeden von ihnen mit 20 Peitschenhieben zu bestrafen.

Der Staatsanwalt zeigt ein Foto von Bilqiss unverschleiertem Gesicht als Belastungsmaterial. Bilqiss wundert sich darüber, dass das Bild noch existiert. Sie war 14, als ein englischer Abenteurer sie dazu überredete, für ein paar Bücher und Münzen ein Porträtfoto von ihr knipsen zu dürfen.

Ungeduldig warten die Aasgeier darauf, dass Bilqiss endlich gesteinigt wird. Aber der Richter versucht, Zeit zu gewinnen.

Hasan, so lautet der Name des Richters, war nach dem Besuch der Koranschule Zimmermann geworden.

Mir gefiel es, über triviale Dinge zu lachen, Zwänge hinter mir zu lassen, mich von einer trübseligen Existenz loszulösen und auch, ich gebe es zu, weniger an Gott zu denken. Weniger an Ihn zu denken, um Ihn mehr zu lieben.

Er verliebte sich in Nafisa, aber ein Handwerker galt als nicht standesgemäß für die Grundschullehrerin. Das wurde er erst, indem er sich als Spitzel verdingte und zum Direktor aller Madrasas in den nördlichen Provinzen avancierte. Ohne Nafisa zu fragen, heiratete er sie. Die Unglückliche rammte sich ein Messer in den Bauch, um sich umzubringen, aber Hasan brachte sie mit Hilfe seines Chauffeurs Qasim und dessen Ehefrau Bilqiss ins nächste, 100 Kilometer entfernte Krankenhaus. (Im Dorf stehen zwar 22 Moscheen, aber ein Krankenhaus gibt es weit und breit nicht.) Offiziell handelte es sich nicht um einen Selbst­mord­versuch, sondern es hieß, Nafisa sei beim Tranchieren einer Hammelkeule mit dem Messer abgerutscht. Bald darauf biss Nafisa sich die Pulsadern auf. Sie lebte noch, als Hasan dazu kam, aber er zwang sie nicht länger zum Leben, sondern nahm sie nur in die Arme, und sie ließ ihn gewähren. Der Witwer ehelichte dann die Analphabetin Seniz, die später einmal auf die Frage, warum sie nie versucht habe, Lesen und Schreiben zu lernen, antwortet:

Aus der Sicht des Regenwurms ist ein Teller Spaghetti eine Orgie.

Hasan stieg bis zur Spitze der Ulama des Distrikts auf und wurde Richter.

Als er die weibliche Stimme vom Minarett hörte, erkannte er sie sofort.

Der Richter besucht die Angeklagte regelmäßig in ihrer Zelle und legt ihr unter vier Augen nahe, öffentlich um Verzeihung zu bitten. Dann würde er alles tun, um ihr die Steinigung zu ersparen. Aber die stolze Frau geht nicht darauf ein.

Während der Verhandlung äußert Bilqiss die Hoffnung, dass es den Männern irgendwann einmal gelingen werde, unverschleierte Frauen zu betrachten, ohne eine Erektion zu bekommen. Richter Hasan kann ein Auflachen gerade noch unterdrücken, erschrickt über sich selbst, und um von seinem Fehlverhalten abzulenken, geht er sofort auf die vom Staatsanwalt geforderte Auspeitschung der Angeklagten ein, allerdings ordnet er 37 statt der verlangten 100 Peitschenhiebe an. Die Strafe wird auf dem Dorfplatz vollstreckt.

Die Mullahs machten sich gleich daran, das Seil an dem einzigen soliden Ast zu binden, der einem Körper standhielt, der sich 37-mal aufbäumen würde.

Bevor Bilqiss an den Händen festgebunden wird, muss sie in aller Öffentlichkeit unter ihrer Burka alles ausziehen, damit die Peitschenhiebe ihre Haut zerfetzen können. Obwohl sie sich zu beherrschen versucht, schreit sie vor Schmerzen und nässt sich vor den Augen der Zuschauer ein. Sie befürchtet, dass die beiden Männer, die sich beim Auspeitschen ablösen, nicht zählen können und statt 37-mal vielleicht 89- oder 208-mal zuschlagen.

Später schmuggelt Richter Hasan Salbe in ihre Zelle, wagt es jedoch nicht, ihr den mit Wunden übersäten Rücken einzucremen.

Auf meiner Pritsche liegend flehte ich Gott an, er möge wirklich existieren.

Inzwischen werden Handy-Fotos und -Videos von Bilqiss ins Netz gestellt. Ein Video von der Auspeitschung fällt der amerikanischen Journalistin Leandra Hersham auf.

Leandra Hersham wuchs mit ihren Schwestern Ethel, Tabitha und Hortense in einer jüdischen Familie in Essex/Connecticut auf. Ihre Mutter war Mannequin und Künstlerin, ihr Vater verdiente als Filmproduzent Milliarden, verachtete jedoch den Beruf des Schauspielers und sorgte dafür, dass die Familie nicht mit dem Milieu in Berührung kam. Leandra studierte Journalismus in New York und begann dann dort zu arbeiten. Während sie gerade eine Filmschauspielerin interviewte, rief Kenneth Smoller, der Chefredakteur des New York Magazine an, und teilte ihr mit, dass er ihre Bewerbung annehme. Daraufhin brach sie das Interview sofort ab.

Ich […] packte meine Sachen und entschuldigte mich, dass ich so überstürzt wegmüsse, doch man erwarte mich im Gefängnis für Madoffs wöchentlichen Blowjob, denn auch ich sei ehrenamtlich im Milieu des Strafvollzugs tätig.
[Bernard („Bernie“) L. Madoff (* 1938) wurde 2009 wegen Anlagebetrugs zu 150 Jahren Haft verurteilt.]

Kenneth Smoller beschäftigt ausschließlich Frauen. Die sitzen alle in einem Großraumbüro, das er als seinen „Hühnerstall“ bezeichnet. Seine neue Mitarbeiterin Leandra Hersham stößt bei der Suche nach einem ersten Thema, über das sie beim New York Magazine schreiben könnte, auf ein Video von Bilqiss‘ Auspeitschung im Internet. Ihre für eine NGO tätige Freundin Rula findet Einzelheiten über den Fall heraus, unter anderem, dass die ausgepeitschte Burka-Trägerin mit der Steinigung rechnen muss. Als Leandra ein Foto von Bilqiss‘ Gesicht sieht, kommt es ihr bekannt vor. Tatsächlich erhielt sie vor längerer Zeit nach einer Konferenz über häusliche Gewalt eine Tasse mit diesem Porträt geschenkt.

Steinigungen kamen in der Antike vereinzelt vor. Leandra findet heraus, dass die Steinigung dem jüdischen Gesetz entsprach. Jesus Christus lehnte sie dagegen ab („Wer von euch ohne Sünde ist, werfe zuerst den Stein auf sie“ – Joh 8,7). Obwohl diese grausame Hinrichtungsart nicht im Koran vorkommt und nach allgemeiner Auffassung gegen die Menschenrechte verstößt, wird sie auch heute noch in einigen muslimischen Staaten praktiziert.

Weil Kenneth Smoller nicht auf das Thema anspringt, organisiert und finanziert Leandra Hersham die Reise selbst. Hamza Vafaï, ein Freund Yann Borgstedts, des Gründungspräsidenten der Womanity Foundation, holt sie vom Flughafen ab. Er wohnt mit seiner Familie in dem Dorf, in dem auch Bilqiss zu Hause ist.

Zuleikha, die älteste seiner drei Schwestern, ging mit Bilqiss zur Schule, und Nafisa war ihre Lehrerin. Sie missbilligt Leandras Vorgehen und hält mit ihrer Meinung nicht zurück.

– [Leandra:] … In meinen Augen rechtfertigt nichts eine Steinigung … Ganz egal, ob einer schuldig ist oder nicht.
– [Zuleikha:] Einverstanden, aber Sie haben keine Indizien für Bilqiss‘ Unschuld. Sie wissen nichts, aber Sie sind hier. Sie haben drei der vier Videos gesehen, von denen Sie gerührt waren, und haben sofort Partei für diese arme verschleierte Frau ergriffen, denn sie tun Ihnen leid, die verschleierten Frauen. Für sie gehen Sie schnell auf die Barrikaden, ohne irgendetwas nachzuprüfen. Ihre Herablassung, um nicht zu sagen Einmischung in unsere inneren, obgleich barbarischen Angelegenheiten macht mich perplex.

Kenneth Smoller teilt Leandra in einer SMS mit, dass die First Lady den Fall Bilqiss im Fernsehen erwähnt habe. Damit ist er auch für den Chefredakteur interessant geworden, und er fordert Leandra skrupellos auf, am „Tag X“ gute Fotos zu machen.

Leandra Hersham passt den Richter ab und bittet ihn höflich um ein Gespräch. Als aus einem Aktenstapel ein Foto von Bilqiss herausfällt, beeilt er sich mit der Erklärung, es handele sich um Beweismaterial, aber die Journalistin fragt sich, warum das Bild lose zwischen die Akten geschoben war. Sie glaubt, einem Geheimnis auf der Spur zu sein: Der Richter und die Angeklagte lieben sich!

Sie erhält die Genehmigung, Bilqiss in der Gefängniszelle zu besuchen. Als diese merkt, welchen Verdacht Leandra hegt, erzählt sie ihr von einem heimlichen Kuss des Richters. Es macht ihr Spaß, die Szene auszumalen, und sie weiß, dass amerikanische Journalisten so etwas hören möchten. Allerdings durchschaut Leandra nach einiger Zeit die Lüge. Es gelingt ihr, Bilqiss mit einer Tasse zu verblüffen, auf der diese sich selbst erkennt. Es handelt sich um das auch dem Gericht vorliegende, vor Jahren von dem englischen Abenteurer aufgenommene Foto. Bilqiss verabscheut die Vorstellung, dass ihr Konterfrei auf Souvenirs und T-Shirts prangen könnte.

Ähnlich wie Zuleikha kritisiert sie die Menschen im Westen, die sie für „narzisstische Schwatzbasen“ hält:

Veranstaltet Ihr Solidaritätsmärsche für die Millionen anonymer weißer Frauen, die durch Schläge von Männern sterben, oder ist es euch lieber, sie bleiben eine undefinierbare Masse in amtlichen Statistiken? Ich werde sterben, genauso wie sie, aber auf spektakuläre Art und Weise, denn wir haben eine Veranlagung fürs Demonstrative und Theatralische, wir lieben die Show, aber wir waren nicht intelligent genug, ein Business daraus zu machen, das ist alles. Eure emotionale Übereinkunft ist wie die Mikrowelle im Vergleich zur Kochkunst: einfach und schädlich.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Eine offene Liebeserklärung des Richters in ihrer Zelle weist Bilqiss höhnisch zurück.

Daraufhin meldet er sich tagelang krank, setzt den Prozess aus und geht selbst zu Fuß zu einem Steinbruch im Nachbardorf, um passende Steine für Bilqiss‘ Hinrichtung auszusuchen. Es ist üblich, dass zunächst nur kleine runde Kieselsteine geworfen werden und erst allmählich größere, kantigere Gesteinsbrocken folgen.

Seniz geht während der Abwesenheit ihres Mannes heimlich ins Gefängnis, um Bilqiss zu warnen, dass die Steinigung voraussichtlich am folgenden oder spätestens übernächsten Tag stattfinden werde. Als Leandra später in die Zelle kommt, bittet Bilqiss sie, den ersten Stein zu werfen, und zwar einen möglichst großen und kantigen, damit das Leiden nicht zu lange dauert.

Bis zum Hals eingegraben, verfolgt Bilqiss, wie sich Gegner und Befürworter der Steinigung auf dem Dorfplatz streiten. Diese unerwartete Meinungs­verschieden­heit gibt Bilqiss den Lebenswillen zurück. Sie will noch nicht sterben. Leandra ist augenscheinlich bereit, Bilqiss‘ inzwischen überholten Wunsch zu erfüllen, denn sie schleppt eine Umhängetasche auf den Marktplatz. Bilqiss versucht, ihr Zeichen zu geben. Sie schreit, aber in dem für die Amerikanerin ungewohnten Tumult hört diese sie nicht. Leandra holt einen großen, schroffen Felsbrocken aus der Tasche und schleudert ihn. Bilqiss sieht ihn kommen, erwartet den Aufprall an der rechten Schläfe und schließt die Augen. Aber das Krachen und der Schmerz bleiben aus.

Der Gedanke, tot zu sein, erfüllt mich mit Schrecken.

Als sie die Augen öffnet, blickt sie dem unmittelbar vor ihr liegenden Richter ins blutüberströmte Gesicht. Mit letzter Kraft flüstert der Sterbende:

„Meine fünf Säulen waren auf Treibsand gebaut. Dich geliebt zu haben, hat den Sockel verstärkt. Es hat mich von den Dogmen entfernt, aber meinem Glauben nähergebracht. […] Für dich zu sterben, wird meine Rettung sein. Und wenn es dir unmöglich ist, mich ebenfalls zu lieben, soll mein Besuch auf Erden wenigstens der Humus für dein zukünftiges Leben sein.“

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Mit orientalischer Fabulierlust, aber nicht blumig ausschweifend, sondern flott und stringent, entwickelt Saphia Azzeddine in dem Roman „Bilqiss“ die märchenhafte Geschichte von einer jungen Muslima, die sich gegen die hasserfüllte Anklage von Fundamentalisten stolz und zynisch verteidigt, während die Prozessbeobachter ungeduldig auf ihre Steinigung warten.

Saphia Azzeddine prangert die Unterdrückung der Frau im Islam an, die engstirnige Auslegung des Koran, Scheinheiligkeit und Unfreiheit. Sie lässt Bilquiss sagen:

Schon seit sieben Jahrhunderten ging es mit uns abwärts, wir sahen den Zug der Zukunft an uns vorüberfahren, ohne einsteigen zu können. […] Seit sieben Jahrhunderten nannte man diese Situation fruchtbare Regression, anstatt sich den Stillstand einzugestehen. Weit zurück lag die Zeit, als der geistige Wert eines Muslims sich nach der Anzahl der Bücher in seinem Besitz richtete […]

Zugleich kritisiert Saphia Azzeddine die Wohlmeinenden im Westen, die beispielsweise muslimische Frauen bemitleiden und nicht merken, wie anmaßend sie sich verhalten, wenn sie über andere Kulturen vorschnell urteilen und sich in Angelegenheiten fremder Gesellschaften einmischen.

Saphia Azzeddine lässt die Angeklagte Bilqiss, den Richter Hasan und die amerikanisch-jüdische Journalistin Leandra Hersham in der Ich-Form zu Wort kommen. Anfangs wechselt die Erzählperspektive von Kapitel zu Kapitel, aber schließlich auch von einem Satz auf den anderen. Dadurch werden die Ansichten der drei Hauptfiguren ausgeleuchtet, obwohl es der Autorin nicht auf eine tiefschürfende Darstellung der Charaktere ankommt.

Mit Bilqiss ist Saphia Azzeddine eine außergewöhnliche Frauenfigur gelungen. Deren Mut und Stolz, Zorn, Frechheit, Witz und Zynismus spiegelt sich auch in Form und Sprache des Romans. Elegant ist „Bilqiss“ nicht, aber originell und provokativ. Auch wenn sich dadurch ein besonderes Lesevergnügen ergibt, muss die Kritik sowohl an den muslimischen wie westlichen Gesellschaften ernstgenommen werden.

Bilqiss, Bilkis oder auch Balkis lautet übrigens der Name der Königin von Saba im muslimischen Kulturkreis. Ob es für die aus dem Alten Testament, dem Koran und äthiopischen Legenden bekannte Königin ein historisches Vorbild gibt, ist unklar. Der Bibel zufolge soll die Königin von Saba im 10. Jahrhundert vor Christus zu König Salomon nach Jerusalem gereist sein.

Saphia Azzeddine wurde am 12. Dezember 1979 in Agadir als Tochter einer Französin und eines Marokkaners geboren. Als sie neun Jahre alt war, emigrierte die Familie nach Frankreich und siedelte sich in der Nähe von Genf an. Saphia Azzeddine arbeitete vorübergehend als Diamantenschleiferin, studierte dann Soziologie, schrieb als Journalistin und debütierte 2008 mit dem Roman „Confidences à Allah“ („Zorngebete“, Übersetzung: Sabine Heymann, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2013, ISBN 978-3-8031-3248-2). Auch ihren Roman „Mon père est femme de ménage“ (2009) gibt es in deutscher Sprache („Mein Vater ist Putzfrau“, Übersetzung: Birgit Leib, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2015, ISBN 978-3-8031-3270-3).

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2016
Textauszüge: © Verlag Klaus Wagenbach

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