Louis Begley : Lügen in Zeiten des Krieges

Lügen in Zeiten des Krieges
Originalausgabe: Wartime Lies Alfred A. Knopf, New York 1991 Lügen in Zeiten des Krieges Übersetzung: Christa Krüger Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 1994 Süddeutsche Zeitung / Bibliothek, Band 56, München 2007, 187 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Seit dem Überfall der Deutschen auf Polen im September 1939 sind Maciek und sein Vater sowie dessen Schwiegereltern und Schwägerin Tanja wegen ihrer jüdischen Herkunft in Lebensgefahr. Ein Deutscher namens Reinhard versteckt Tanja, ihre Mutter und ihren Neffen, obwohl er damit sein Leben riskiert, und als die Gestapo ihn und Macieks Großmutter aufspürt, erschießt er die Greisin und sich, damit Tanja und Maciek nicht verraten werden ...
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Kritik

Obwohl Louis Begley in "Lügen in Zeiten des Krieges" persönliche Erlebnisse verarbeitete, ist weder etwas von Hass noch von Larmoyanz zu spüren, und es ist ihm gelungen, darüber nüchtern, unpathetisch und unprätenziös zu schreiben.
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Geboren bin ich ein paar Monate nach dem Reichstagsbrand, in T., einer Stadt mit ungefähr vierzigtausend Einwohnern in einem Teil Polens, der vor dem Ersten Weltkrieg zur k. u. k. Monarchie gehört hatte. Mein Vater war der angesehenste Arzt in T. Keiner konnte ihm das Wasser reichen, weder der Chef des Krankenhauses, ein katholischer Chirurg, noch die beiden praktischen Ärzte, meines Vaters Kollegen. Nur mein Vater hatte Diplome von der Universität Wien; nur er hatte vom ersten gimnazjum-Jahr an als zeller gegolten und die in ihn gesetzten Erwartungen glänzend erfüllt, indem er eine jener goldenen Uhren gewann, die Kaiser Franz Joseph jedes Jahr an die besten Abiturienten im Kaiserreich verteilen ließ; und keiner tat es ihm gleich an aufopfernder Freundlichkeit und Fürsorge für die Patienten. Meine Mutter, eine Schönheit aus Krakau, war viel jünger als er; sie starb im Kindbett. Die Heirat war durch einen Ehevermittler zustande gekommen, aber der Doktor und die Schönheit verliebten sich so schnell und heftig ineinander, dass man in der Familie die Geschichte wie ein Märchen erzählte, und mein Vater schwor, er werde den Rest seiner Tage nur der Erinnerung an meine Mutter und dem Leben mit mir widmen. Er hielt sein Wort sehr lange. (Seite 11)

Der Halbwaise Maciek wächst in der Obhut seiner Tante Tanja und des Kindermädchens Zosia auf. Zu den Bediensteten seines Vaters zählen auch eine Köchin, ein Dienstmädchen und eine Waschfrau. Der jüngere Bruder seiner Tante und seiner verstorbenen Mutter hatte sich erschossen, nachdem er als Jude nicht zum Studium zugelassen war, ein Blitzschlag ihn entstellt und seine Freundin ihn deshalb verlassen hatte. Tanja ist unverheiratet geblieben, aber sie geht mit dem Bonvivant Bern aus, dem reichsten jüdischen Rechtsanwalt in T. Ihre Eltern – also Macieks Großeltern – leben in einer Stadtwohnung in und auf einem eigenen Landgut bei Krakau.

Nach dem „Anschluss“ Österreichs ans Deutsche Reich im März 1938 sagt Macieks Vater eine für den Sommer geplante Mittelmeer-Kreuzfahrt ab. Er zieht einen Aufenthalt in einen zwei Stunden von T. entfernten Kurort vor, denn die politische Entwicklung beunruhigt ihn.

Nachdem die Deutschen am 1. September 1939 Polen überfallen haben, ziehen Macieks Großeltern zu ihren Angehörigen nach T. Weil sein Vater es für gefährlich hält, weiterhin wie Großbürger zu leben, entlässt er das Dienstpersonal bis auf Zosia, die nun auch im Haushalt helfen muss.

Bald darauf begibt der jüdische Arzt sich nach Russland.

Am 22. Juni 1941 greift das Deutsche Reich die Sowjetunion an.

Zosia wird von ihrem Vater abgeholt, einem Hilfsstationsvorsteher der fünfzig Kilometer von T. entfernten Bahnstation Drohobycz, der nicht zulässt, dass sie weiterhin für Juden arbeitet. Maciek, seine Großeltern und Tanja müssen das von der SS requirierte Haus verlassen. Sie ziehen in ein einfacheres Gebäude und teilen sich die Räume mit der ebenfalls jüdischen Familie Kramer. Bern, der sich im Judenrat engagiert, besorgt Tanja, die fließend Deutsch spricht, Schreib- und Übersetzungsarbeit im Magazin der Wehrmacht. Der achtjährige Maciek und Irina, der zwei oder drei Jahre älteren Tochter der Kramers, haben viel Zeit zum Spielen, denn vom Schulbesuch sind jüdische Kinder ausgeschlossen.

Macieks Großvater versteckt sich in Warschau.

Tanja hat einen neuen Freund, einen Deutschen namens Reinhard, der bei einem Arbeitsunfall einen Arm verloren hat und nun für die Organisation des Nachschubs zuständig ist. Aus Armeebeständen verschafft er Bern die Ausrüstung, die dieser benötigt, um sich Partisanen anzuschließen. Am Abend bevor die Juden in T. zusammengetrieben und deportiert werden, warnt er Tanja. Ohne der Familie Kramer etwas zu sagen, stehlen sich Tanja, deren Mutter und Maciek im Dunkeln aus dem Haus. Reinhard holt sie ab und bringt sie bei sich unter, obwohl er damit sein Leben riskiert.

Juden, die bei Bauern Zuflucht suchen, werden nicht selten zuerst um ihre Habe gebracht, dann denunziert und abgeholt.

Drei Personen kann Reinhard nicht längere Zeit bei sich verstecken. Das würde auffallen. Also besorgt er Tanja und Maciek ein Quartier in Lwów und behält nur Tanjas kranke Mutter bei sich.

Eines Abends werden Tanja und Maciek auf der Straße angesprochen. Tanja, die davon gehört hat, dass Juden häufig mit der Drohung, man werde sie den Deutschen melden, erpresst werden, befürchtet das Schlimmste, aber der Herr beteuert, selbst Jude zu sein und Hertz zu heißen. Er kenne sowohl Bern als auch Macieks Vater, behauptet er. Einige Tage später kommt er zu ihnen ins Versteck und berichtet ihnen, was er erfahren hat: Weil polnische nichts mit jüdischen Partisanen zu tun haben wollen, blieb Bern mit seiner Gruppe zur Untätigkeit verurteilt. Sie versteckten sich im Wald, und was sie zum Leben benötigten, stahlen sie in Bauernhöfen – bis die Bauern den Deutschen einen Hinweis gaben. Beim Verhör brachte die Gestapo Bern offenbar dazu, Reinhard zu verraten. Bevor die Deutschen die Tür aufbrechen konnten, erschoss Reinhard Macieks Großmutter und dann sich selbst, um zu verhindern, dass die Deutschen etwas von Tanja und Macieks Aufenthaltsort erfuhren. Hertz rät den beiden dennoch, sich ein anderes Versteck zu suchen. Aufgrund der neuen Ausweise, die Hertz ihnen besorgt, heißt Maciek nun Janek, und er ist jetzt nicht mehr Tanjas Neffe, sondern ihr Sohn.

In dem Bordell, in dem sie unterkommen, tauchen nach einigen Tagen drei Männer von der Gestapo auf: Jemand muss Tanja und Maciek denunziert haben, denn die Deutschen suchen gezielt nach einer Jüdin mit Sohn. Während Maciek im Nebenraum darauf achtet, kein Geräusch zu machen, spielt Tanja überzeugend eine kinderlose Prostituierte und behauptet, die Gesuchten hätten im Nachbarzimmer gewohnt, seien aber kürzlich verschwunden. Nebenan öffnet niemand. Bevor die Gestapo wiederkommt, verlässt Tanja mit Maciek das Haus.

Am 30. März 1943 kommen sie nach Warschau. Drei Tage später treffen sie Tanjas Vater, setzen sich mit ihm in eine katholische Kirche und berichten ihm vom Tod seiner Frau. Als sie von zwei Polizisten in Zivil aufmerksam beobachtet werden, schlagen sie das Kreuzzeichen und verlassen die Kirche.

Im April beobachten Tanja und Maciek vom Hausdach den Aufstand der letzten Getto-Bewohner und wie die Deutschen das Getto daraufhin in einem wochenlangen Kampf mit Geschützen, Flammenwerfern und Sprengkommandos zerstören.

Maciek ist im Januar 1944 bei seinem Großvater zu Besuch, als polnische Polizisten nebenan Einlass verlangen. Dort hat sich eine Jüdin mit ihrem Sohn versteckt. Sie behauptet, Henryk sei beim Schlittschuhlaufen. In Wirklichkeit spielt er nebenan mit Maciek. Statt die Frau festzunehmen und nach ihrem Sohn zu fahnden, vergewaltigen die Männer sie und rauben sie aus. Weil die Gefahr besteht, dass sie noch einmal kommen, muss Frau Basia mit Henryk ein neues Versteck suchen.

Wenn Großvater Geld brauchte, brachte er etwas vom Familienschmuck zu einem Juwelier. Nachdem dieser verschwunden ist, versucht Tanja es bei Frau Wodolska, der Witwe eines Philosophieprofessors der Universität Krakau, die jetzt in Warschau wohnt. Tanja war früher mehrmals bei dem Ehepaar zu Besuch. Frau Wodolska erklärt sich bereit, Juwelen für Tanja zu verkaufen und fordert sie auf, ihr alles zu bringen. Unter dem Vorwand, die Wertsachen seien bei verschiedenen Leuten versteckt, bringt Tanja ihr erst einmal nur zwei Ringe und eine Halskette. Als sie das Geld abholen will, beschuldigt Frau Wodolska sie, ihr wertlose Imitate angedreht zu haben. Ein angeblicher Polizist hat in der Wohnung mit Frau Wodolska auf Tanja gewartet. Der bleibt nichts anderes übrig, als den beiden alles Geld und Wertvolle zu überlassen, das sie bei sich hat.

Tanja tut so, als handele es sich bei ihr und Maciek um Katholiken. Einem Priester erklärt sie, ihr Sohn habe aus gesundheitlichen Gründen keine Schule besuchen können, und nachdem Maciek einige Zeit Katechismusunterricht erhalten hat, geht er zur Erstkommunion.

Als die Rote Armee Vorstädte von Warschau erreicht, beginnt Armia Krajowa am 1. August 1944 mit einem Aufstand gegen die deutschen Besatzer, doch wider Erwarten greifen die sowjetischen Streitkräfte nicht ein, und am 2. Oktober bricht der Aufstand zusammen. Tanja und Maciek überleben die Kämpfe und Luftangriffe zusammen mit anderen Polen in einem Keller.

Als Vergeltung für den Aufstand werden Männer, Frauen und Kinder zusammengetrieben. Dabei halten die deutschen Offiziere sich im Hintergrund. Ukrainer in den Diensten der Deutschen prügeln die Menschen und greifen sich Frauen aus der Marschkolonne, um sie hinter der nächsten Ecke zu vergewaltigen. Tanja und Maciek sehen, wie ein Ukrainer eine besonders attraktive und elegant gekleidete Frau mit einem Baby auf dem Arm zur Seite zerrt. In ihrer Verzweiflung rennt sie zu einem deutschen Offizier und wirft sich ihm zu Füßen. Der Deutsche tritt die Frau in die Brust, entreißt ihr das Kind und wirft es in einen offenen Kanalschacht.

Während Tanja an diesem Tag ein Kopftuch trug, ihr Gesicht mit Ruß beschmiert hatte und gebückt wie eine Greisin ging, wäscht sie sich vor dem Weitermarsch am nächsten Morgen, schminkt sich und verwandelt sich wieder in eine selbstbewusste Dame. Am Bahnsteig, wo der Zug nach Auschwitz bereitsteht, herrscht Tanja einen deutschen Hauptmann an. Sie sei die Ehefrau eines Arztes aus R. und habe in Warschau die Augen ihres Sohnes untersuchen lassen, bevor sie in dieses Chaos geraten sei. Ob der Hauptmann nicht für Ordnung sorgen und sie zum Zug nach R. bringen könne. Der Offizier meint lachend, nicht einmal seine Frau würde ihn so herumkommandieren. Tatsächlich führt er Tanja und Maciek zu einem anderen Bahnsteig und hilft ihnen beim Einsteigen in einen Soldatenzug nach R.

Aus Sorge, der Deutsche könne es sich am Ende doch noch anders überlegt haben und in R. nach ihnen suchen lassen, steigen Tanja und Maciek beim ersten Halt des Zuges aus.

Sie befinden sich in G. Ein Wirt, bei dem sie etwas essen und trinken, durchschaut, dass es sich bei ihnen um Flüchtlinge handelt. Er lässt sie mit einem Fuhrwerk in das Dorf Piasowe bringen, wo die Bauern keine Zeitungen lesen und nicht wissen, dass es verboten ist, Flüchtlinge aufzunehmen. Der Bauer Kula beschäftigt Tanja und Maciek gegen Kost und Logis, zuerst als Erntehelfer, dann Tanja als Magd und Maciek als Kuhhirten.

Nach einiger Zeit beginnt Tanja, mit illegal gebranntem Schnaps zu handeln und befreundet sich mit dem Großhändler Nowak. Für die Unterkunft bei Kula bezahlt sie nun, statt weiter dafür zu arbeiten.

Eines Tages hört sie von einem Mann in dem 30 Kilometer entfernten Dorf Bieda, der ihr Vater sein könnte. Zu Fuß geht sie hin und stellt fest, dass es sich wirklich um ihren Vater handelte – doch er wurde vor einer Woche als Jude enttarnt und von Deutschen erschossen.

Als Nowak beim Weihnachtsbesuch zudringlich wird, beschimpft Tanja ihn. Daraufhin meldet er den Deutschen, dass es sich bei ihr und ihrem Sohn um Juden handeln könnte.

Tanja und Maciek fliehen und gelangen über Kielce nach Krakau.

Ein Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bringen Polen in Kielce vierzig Juden um.

Tanja zieht es deshalb vor, bei den falschen Identitäten zu bleiben. Sie schickt Maciek aufs Gymnasium und sorgt dafür, dass er Messdiener in einer katholischen Pfarrei wird. Sein Vater kehrt aus Russland zurück, mit neuem Namen, passenden Lügen und einer Geliebten: der Frauenärztin Olga.

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Er bewundert die Äneis. In ihr fand er zum ersten Mal literarisch ausgedrückt, was ihn quälte: die Scham, am Leben geblieben, mit heiler Haut, ohne Tätowierung davongekommen zu sein, während seine Verwandten und fast alle anderen im Feuer umgekommen waren […] (Seite 7)

In einer Art Prolog beschreibt Louis Begley den Protagonisten Maciek im Alter von fünfzig Jahren. Die eigentliche Handlung des Romans „Lügen in Zeiten des Krieges“, die in den Jahren 1939 bis 1945 stattfindet, wird von dem zwischen sechs und zwölf Jahre alten Maciek in der Ich-Form erzählt. Für das abschließende achte Kapitel über die Nachkriegszeit wählte Louis Begley die Perspektive eines auktorialen Erzählers.

Maciek und seine Tante Tanja überleben den Holocaust nur, weil sie lügen, falsche Identitäten annehmen, sich als Mutter und Sohn ausgeben und so tun, als seien sie Katholiken. Daher der Titel „Lügen in Zeiten des Krieges“.

Obwohl Louis Begley in seinem Debütroman persönliche Erlebnisse und Traumata verarbeitete, ist weder etwas von Hass noch von Larmoyanz zu spüren, und es ist ihm gelungen, darüber nüchtern, unpathetisch und unprätenziös zu schreiben. Louis Begley vermeidet jede Effekthascherei. Dennoch oder gerade deshalb ist „Lügen in Zeiten des Krieges“ ein glaubwürdiger und erschütternder Roman.

Der Grund, ihn [seinen ersten Roman „Lügen in Zeiten des Krieges“] zu schreiben, war: dass ich ihn schreiben wollte. Ich war nicht in finanziellen Schwierigkeiten, ich war ein erfolgreicher Anwalt und schon über 60 Jahre alt, ich hatte keine Botschaft, ich wollte nicht predigen, ich wollte nicht einmal, wie man sonst oft zu sagen pflegt: etwas aufarbeiten. Nein, ich wollte nur diese eine Geschichte erzählen […] Ich könnte also auch 18 Stunden schlafen pro Tag statt zu schreiben. Ich bilde mir nicht ein, dass es Amerika dann schlechter ginge. Ich bin bescheiden genug zu wissen, dass nichts von dem, was ich schreibe, wichtig ist für die Welt oder für Amerika. Lediglich für mich selbst ist es wichtig. (Louis Begley in einem Interview mit Alexander Gorkow, Süddeutsche Zeitung, 22. Juli 2006)

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2007
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag

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