Thomas Bernhard : Der Briefwechsel Thomas Bernhard Siegfried Unseld

Der Briefwechsel Thomas Bernhard Siegfried Unseld
Der Briefwechsel Thomas Bernhard / Siegfried Unseld Originalausgabe: Hg.: Raimund Fellinger, Martin Huber, Julia Ketterer Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 2009 ISBN: 978-3-518-41970-0, 869 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

1961 schickte Thomas Bernhard ein Romanmanuskript an den Suhrkamp Verlag und fünf Wochen später wandte er sich in einem Brief an den Verleger Siegfried Unseld. Damit begann nicht nur eine enge Zusammenarbeit der beiden, sondern auch ein reger Briefwechsel. Die Korrespondenz von 1961 bis 1989 dokumentiert das ständige Auf und Ab in der spannungsgeladenen Beziehung zwischen dem schwierigen Autor und seinem geduldigen Verleger ...
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Kritik

Mehr als 500 Briefe, Karten und Telegramme haben die Herausgeber in diesem Band zusammengetragen und in Fußnoten kommentiert. Ergänzt wird der Briefwechsel durch Notizen, die Siegfried Unseld nach seinen zahlreichen persönlichen Gesprächen mit Thomas Bernhard anfertigte.

Am 17. September 1961 schickte der damals 30 Jahre alte Thomas Bernhard, der bis dahin nur Gedichtbände veröffentlicht und ein Libretto geschrieben hatte, das Romanmanuskript „Der Wald auf der Straße“ an den Suhrkamp Verlag in Frankfurt/M. Fünf Wochen später wandte er sich in einem Brief aus Wien direkt an den Verleger:

Sehr geehrter Herr Dr. Unseld,
vor ein paar Tagen habe ich an Ihren Verlag ein Prosamanuskript geschickt. Damit wollte ich mit dem Suhrkamp-Verlag in Verbindung treten. Ich besitze einige Bücher aus Ihrer Produktion und sie gehören zum Besten aus der neueren Zeit. Das ist es auch, was mich veranlasst hat, gewisse andere Verbindungen, die ich eingegangen bin, zu vernachlässigen. Vielleicht lässt sich ein Gespräch mit Ihnen arrangieren: ich komme Ende November durch Frankfurt. Ich kenne Sie nicht, nur ein paar Leute, die Sie kennen. Aber ich gehe den Alleingang.
Mit vorzüglicher Hochachtung
Ihr ergebener
Thomas Bernhard
(Brief vom 22. Oktober 1961)

Obwohl der Verlag das eingesandte Manuskript ablehnte, begann damit nicht nur eine enge Zusammenarbeit von Thomas Bernhard und Siegfried Unseld (1924 – 2002), sondern auch ein reger Briefwechsel, der erst mit dem Tod des Schriftstellers am 12. Februar 1989 endete.

Zumindest Siegfried Unseld dachte schon bald an die Möglichkeit einer späteren Veröffentlichung:

Ich stelle mir vor, was künftige Adepten des Studiums von Literatur- und Verlagsgeschichte bei der Lektüre unseres Briefwechsels sagen werden. (Brief vom 24. Juli 1968)

Mehr als 500 Briefe, Karten und Telegramme aus dem Thomas-Bernhard-Archiv in Gmunden und dem Archiv des Suhrkamp Verlags haben die Herausgeber Raimund Fellinger, Martin Huber und Julia Ketterer in diesem Band zusammengetragen und ausführlich in Fußnoten kommentiert. Ergänzt wird der Briefwechsel durch Notizen, die Siegfried Unseld nach seinen zahlreichen persönlichen Gesprächen mit Thomas Bernhard in Frankfurt, Ohlsdorf, Salzburg, Wien, Sintra und anderswo anfertigte.

Eine Auswahl der Briefe und Notizen gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Peter Simonischek (Thomas Bernhard) und Gert Voss (Siegfried Unseld): „Briefwechsel Thomas Bernhard Siegfried Unseld“ (Regie: Götz Fritsch, München 2008, 3 CDs, ISBN 978-3-86717-275-2).

Die Korrespondenz dokumentiert das ständige Auf und Ab in der spannungsgeladenen Beziehung zwischen Autor und Verleger. Thomas Bernhard schwankte dabei zwischen der Lobpreisung Unselds als dem besten Verleger überhaupt und wüsten Beschimpfungen. Der ebenso egozentrische wie rechthaberische Schriftsteller sah überall im Literatur- und Theaterbetrieb nur bösartige Dummköpfe am Werk. In dieses Urteil schloss er auch die Mitarbeiter des Suhrkamp- bzw. Insel-Verlags bis auf Siegfried Unseld und die Lektorin Anneliese Botond ein. (Und einmal lobte er einen Setzer.)

In meinem Safe, der gar kein imaginärer ist, ist als Wichtigstes das Vertrauen meines Verlegers zu mir aufbewahrt, ein wunderbarer selbstverständlicher Schatz. Ich finde, die Kritiker, ob dumm oder nicht, haben sich von meinem Buch aufregen lassen, das ist der Sinn eines solchen Buches. Wie Sie ja wahrscheinlich, sicher wissen, gibt es ja überhaupt nur dumme, darunter aber verheerend ganz dumme Kritiker. Ich weiß das und die Kost verdirbt mir nicht den Magen, wichtig ist nur, wie und in welchem Rahmen die Kritikerdummheit aufgetragen wird, das Besprechungsmenu, das auf eine Veröffentlichung folgt. (Thomas Bernhard am 18. Mai 1967 an Siegfried Unseld)

Lieber Doktor Unseld,
was das im Augenblick in Stuttgart probierte Stück betrifft, bitte ich Sie, es absolut und unter allen Umständen unter Verschluss zu halten und keinem einzigen Menschen zu zeigen, nur so kann es zum Erfolg geführt werden. Wir müssen verhindern, dass der Text vor der Aufführung in die Hände der Schwätzer und Intriganten kommt, die bekannte Namen, aber in ihren scheußlichen Köpfen nichts als Geschwätz und Intrigantismus haben. Wir zerstörten uns absolut unser Konzept. Das Theater soll unmittelbar als Aufführung wirken, nicht schon vorher von allen diesen grauenhaften beispiellos dummen und gewissenlosen [Joachim] Kaiser und [Urs] Jenny und [Benjamin] Henrichs vernichtet werden. Alle diese Leute haben nicht einen Funken Theaterverstand und sind gerade durch ihre Inkompetenz so widerwärtig und allgegenwärtig und abstoßend. Ich hoffe sehr, dass das Manuskript des „Ruhestands“ nicht schon in die feindlichen Hände gelangt ist und es sollte, wie besprochen, außer Ihnen und dem Setzer auch niemand zu Gesicht bekommen haben. Sie sollten sich nicht nur in meinem ureigenen, sondern auch in Ihrem Interesse den „Ruhestand“ in den Panzerschrank stellen und erst bis nach der Aufführung in Stuttgart herausnehmen. Ich bitte sehr, das Stück erst eine Woche nach der Uraufführung in Stuttgart zu veröffentlichen. Der größte Fehler war immer, das Manuskript schon vor der Aufführung den Maulaffen zwischen Hamburg und München vorgeworfen zu haben. Es ist mir sehr ernst mit der Bitte um vollkommenen Verschluss des „Ruhestandes“.
Ihr Thomas Bernhard
(Brief vom 7. Mai 79)

Immer wieder beschwerte Thomas Bernhard sich über die angebliche Vernachlässigung durch den Verleger. So beklagte er sich beispielsweise 1968 darüber, dass gerade einmal 1800 Exemplare seines Romans „Verstörung“ verkauft wurden (und zeigte dabei seine Vorliebe für Superlative):

Dass ein so großer und so guter Verlag wie der Ihre aber nicht mehr als tausendachthundert Exemplare verkaufen hat können, ist so absurd, dass das kein Mensch glaubt, wenn ich das sagte, denn selbst wenn ich ganz alleine mit meinem Rucksack durchs Land ginge, verkaufte ich in vier Wochen sicher mehr. Die Enttäuschung ist die größte wie auch die größte Unverständlichkeit, wenn man bedenkt, dass das Buch die allerbesten Kritiken, alles in allem den besten Wirbel gehabt hat usf. Ich rede nicht mehr weiter, sage aber doch, dass ich eine große Chance, wenigstens aber drei Jahre Arbeit verpulvert bekommen habe. (Thomas Bernhard am 11. Juli 1968 an Siegfried Unseld)

In seiner Antwort wies Siegfried Unseld darauf hin, dass sich Samuel Becketts Roman „Malone stirbt“ nicht besser verkaufen ließ (1632 Exemplare) und für die Erstauflagen der Bücher von Franz Kafka nicht mehr als 300 Exemplare gedruckt worden waren.

Über die Vermarktung des Romans „Brandung“ von Martin Walser ereiferte sich Thomas Bernhard:

Lieber Doktor Unseld,
wenn ich bedenke, mit was für einem gigantischen Werbeaufwand Sie sich über drei Monate lang für Herrn Walsers Buch ins Zeug legen, während Sie für meine „Alten Meister“ fast nichts getan haben, obwohl Sie wissen, dass heute Werbung beinahe alles ist, könnte mir die Lust an einer Zusammenarbeit mit dem Verlag schon vergehen. Aber ich schreibe ja für mich und nicht für den Verleger und um Geld geht es ja wirklich nicht. Auch sonst haben Sie mich und meine Arbeit tatsächlich, wie gesagt wird, im Regen stehen lassen. Die Lebenszeit ist zu kurz, um sie mit Gezeter und Geplemper noch mehr zu verkürzen, aber Sie sollen wissen, dass ich nach wie vor ein guter Beobachter der Ereignisse bin.
Ihr Thomas Bernhard
P. S.: Die Schamlosigkeit, mit der Sie dieses schauerliche Walserbuch in die Höhe gestemmt haben, ist absolut geschmacklos und auf die verlegerische Zukunft bezogen, deprimierend!
(Brief vom 26. November 1985)

Ähnlich tobte er über den dreibändigen Roman „Dessen Sprache du nicht verstehst“ von Marianne Fritz:

Lieber Doktor Unseld,
vor meiner Abreise aus Österreich habe ich noch einen Blick auf Ihre verlegerische Katastrophe geworfen; was Sie da auf über 3000 Seiten drucken und erscheinen haben lassen, ist die größte verlegerische Peinlichkeit, die mir bis jetzt bekannt ist. Über 3000 Seiten proletarischen stumpfsinnigen Müll mit dem Bombasmus eines Jahrhundertereignisses zu drucken und zu binden, gehört tatsächlich in das Buch der Rekorde: als Stupiditätsrekord. Es geht hier nicht um die Erzeugerin dieses über 3000 Seiten langen Unsinns, sondern um die Tatsache, dass der Verleger sich mit der Herausgabe dieser blödsinnigen Gemeinheit tatsächlich selbst entmündigt hat. Der Herausgeber des Ganzen ist ja ein kleinbürgerlicher schweizerischer Dummkopf und der Lektor, der das Ganze „betreut“ hat, sozusagen ein lieber Idiot. Wie kommen Sie jetzt, der Sie so fest, ja, wie mir scheint, unwiderruflich darauf picken, von dem Leim weg, auf den Sie gegangen sind? Das ist nicht die einzige Frage. Die wichtigste ist jetzt die, wie es überhaupt möglich sein wird, diesem Verleger, der doch bis dahin ein großer zu sein schien, in Zukunft ein Manuskript in die Hand zu geben? Wäre der Vorfall, der tatsächlich einmalig ist in der Literaturgeschichte, nicht so peinlich, wäre es damit getan, die Wiener Müllfrau zum Teufel und Ihr Lektorat ganz einfach gleich in die Hölle zu schicken. Aber der Humor hat Grenzen, wenn es um den elementaren Ernst geht. In Fragen der sogenannten hohen Kunst ist mit mir nicht zu scherzen. Die Ohrfeige, die Sie mir mit der Herausgabe dieser in Frage stehenden 3000 Seiten gegeben haben, hat eine tiefe Wirkung. Hätten Sie doch anstatt den Unsinn von Frau Fritz, nur eine dreitausend Blätter lange Klopapierrolle gedruckt und unter dem Suhrkampsignet herausgegeben, Sie wären auch damit ins Buch der Rekorde gekommen.
Ihr Thomas Bernhard
(Brief vom 19. Januar 1986)

„Um Geld geht es ja wirklich nicht“, behauptete Thomas Bernhard. Tatsächlich kreisten viele seiner Briefe um finanzielle Forderungen, die er auch mit Erpressungen durchzusetzen versuchte. Als er 1965 den Vierkanthof in Ohlsdorf/Obernathal kaufte, erhielt er von Siegfried Unseld 25 000 D-Mark als Darlehen. Über dessen Tilgung durch die Verrechnung mit Honoraren kam es viele Jahre lang häufig zum Streit. Siegfried Unseld musste Thomas Bernhard immer wieder besänftigen und bewies dabei sehr viel Geduld.

„Wann werden wir wohl aus unserer Korrespondenz und Beziehung die leidige Geldangelegenheit eliminieren?“, fragte Siegfried Unseld in einem Brief vom 8. Juli 1969. Thomas Bernhard hatte dagegen dreieinhalb Jahre zuvor gemeint: „In die Poesie gehört die Ökonomie, in die Fantasie die Realität, in das Schöne das Grausame, Hässliche, Fürchterliche hineingemischt.“ (Brief vom 14. Dezember 1965)

Sehr geehrter Herr Doktor Unseld,
es besteht gar kein Zweifel, das bestätigen die Kontoauszüge, die ich gestern von Frau Roser bekommen habe, dass ich selbst der weitaus bessere Anwalt meiner Arbeiten gegenüber den sogenannten Kulturkonzernen, das sind vor allem die Rundfunkanstalten und die Theater, bin, als der Verlag, der infolge seiner Größe in den Verhandlungen mit diesen Riesenkulturkonsumvereinen auf den einzelnen Autor weniger Rücksicht nehmen kann und, das muss offen ausgesprochen sein, wie in meinem Falle, dem Autor mehr schadet, als nützt – ab einem gewissen Zeitpunkt. […] Sie selbst wissen genau, dass ich mit meiner Prosaarbeit, die ich nach wie vor als die wichtigste meiner Arbeiten einschätze, und mit welcher ich jahraus, jahrein beschäftigt bin, nicht einmal die Lohnhöhe meines Nachbarn, der als Hilfsarbeiter in der Schottergrube arbeitet, erreiche, ein Umstand, mit dem ich mich abgefunden habe, mir ist meine Arbeit zu wichtig, ja lebenswichtig […] [Dass ich mich] verlogenen Kulturmammutunternehmungen, also Rundfunk und Theatern gegenüber in einer Art unseligen perversen, durch nichts zu rechtfertigenden und zu entschuldigenden Autorenohnmacht befinde, dulde ich nicht länger, das ist mir unerträglich und damit finde ich mich naturgemäß nicht ab. Bevor ich einem einzigen Theater oder einem einzigen Rundfunk auch nur einen Schilling schenke, diesen mondänen und monumentalen Kulturrechtsbrechern zwischen Stavanger und Brindisi, mache ich völlig kostenlos hundert Vorlesungen, verbunden mit den abscheulichsten aller Grimassenschneidereien, nämlich des sogenannten freien Schriftstellers in allen nur möglichen Strafanstalten, Irrenhäusern, Altenheimen und Kindergärten und habe mein Vergnügen daran. […] Was die Prosa betrifft, bin ich nur daran interessiert, dass sie in korrekten, fehlerfreien, mir dadurch Freude machenden Ausgaben im Suhrkamp Verlag erscheinen; es liegt mir nichts daran, ob der und der Rundfunk daraus etwas auf unerträgliche Weise in die Welt hinauskräht für DM 22.87 oder ob die oder die Zeitung daraus etwas für ihre blödsinnigen Leser für DM 13.74 abdruckt. Meine Ansicht ist die, dass mein Name nicht selten genug in Zeitungen und Rundfunk genannt werden kann. Höre ich meinen Namen aus dem Rundfunk, sehe ich mich im Dreck liegen, lese ich meinen Namen in der Zeitung, glaube ich, ich bin in einer Kloake. (…)
Im Vertrauen auf Sie
Ihr Thomas Bernhard
(Brief vom 22. November 1972)

Nach einem Gespräch am Frankfurter Flughafen während einer Zwischenlandung Thomas Bernhards auf dem Weg nach Portugal notierte Siegfried Unseld am 1. März 1975:

Es ist ja immer dasselbe: er ist rücksichtslos, erpresserisch und erhebt das auch zu seiner künstlerischen Ideologie. Und dies wird jedes Mal schlimmer werden.

Er täuscht sich nicht. Als der Verlag ein von Thomas Bernhard am 17. Dezember 1981 verlangtes Darlehen in Höhe von 20 000 D-Mark verweigerte, geiferte der Autor:

Lieber Doktor Unseld,
ab sofort dürfen keine Neuauflagen oder Neuausgaben meiner in den Verlagen Suhrkamp und Insel erschienenen Bücher mehr gemacht werden. Dies betrifft ausnahmslos alle in diesen beiden Verlagen erschienenen Bücher – sie sollen auslaufen und dann endgültig vergriffen sein. Was die Theaterstücke betrifft, so wünsche ich, ab sofort mit keinem Theater und mit niemandem mehr einen Vertrag abzuschließen ohne mein ausdrückliches Einverständnis. Ich bitte umgehend um eine lückenlose Aufstellung aller Theater oder Veranstalter, mit welchen bis heute Verträge gemacht worden sind über Aufführungen meiner Stücke, die noch in Gang sind oder geplant. Ich bitte ausdrücklich nur um schriftlichen, keinen telefonischen Kontakt.
Herzlich
Ihr Thomas Bernhard
(Brief vom 7. Januar 1982)

Während Siegfried Unseld im Rahmen seiner Möglichkeiten auf die finanzielle Situation des Autors einging, verstieß dieser rücksichtlos gegen Abmachungen oder verlangte die Annullierung von schriftlichen Verträgen wie im folgenden Beispiel:

Lieber Herr Dr. Unseld,
die eingehende Lektüre des „Kalkwerk“-Vertrages, den ich in Frankfurt unterschrieben habe, lässt mich die Unterschrift unter diesen Vertrag mit sofortiger Wirkung zurückziehen. Es sind Sätze in dem Vertrag enthalten, die ich unter keinen Umständen akzeptieren kann und ich bitte Sie, meine Unterschrift unter den Vertrag als nicht geleistet zu betrachten und mir das unterschriebene Exemplar des „Kalkwerk“-Vertrages nach Ohlsdorf zu schicken. Dasselbe gilt für den „Watten“-Vertrag. Meine Deutschlandfahrt kann, alles in allem, als eine deprimierende Bestandsaufnahme aller Zustände betrachtet werden, mit welchen ich zwischen Passau und Lübeck konfrontiert worden bin. Der Unsinn und die mit dem Unsinn gemeinsame Sache machende Dummheit, mit welcher noch nie so viel Staat zu machen gewesen ist wie heute, ist erschreckend in Deutschland. Die Oberfläche ist eine enervierend-gemeine, unter welcher sich eine ungeheuere Körper- und Geisteskatastrophe anzukündigen scheint. Der Verrat ist in allen Köpfen und in allem, worauf diese Köpfe sich zu existieren getrauen, ein vollkommener. Die Revolutionäre als Intelligenzler oder Intelligenzler als Revolutionäre (das alles ist nichts als zum speien!) überfressen sich in den chinesischen und jugoslawischen und italienischen Restaurants. Das Ganze ist abstoßend, weil es in Deutschland ist.
Mit sehr herzlichen Grüßen
Ihr Thomas B.
(Brief vom 27. Oktober 1970)

Für Siegfried Unseld war es am schlimmsten, dass Thomas Bernhard seine autobiografischen Schriften „Die Ursache“, „Der Keller“, „Der Atem“, „Die Kälte“ und „Ein Kind“ eine nach der anderen von 1975 bis 1982 im Salzburger Residenz Verlag erscheinen ließ, obwohl der Suhrkamp Verlag ein vertragliches Optionsrecht besaß.

[…] mit den liebenswürdigsten Worten treffen Sie mich ins Herz und brechen Vereinbarungen, die wir von Mann zu Mann, kurz und gut beschlossen hatten: […] Und nun ist es wieder so, dass das, was manche als wichtigste Seite Ihrer Produktion bezeichnen, nicht hier im Hause veröffentlicht wird. Mich macht das traurig, das können Sie sich denken. (Siegfried Unseld am 29. Dezember 1981 an Thomas Bernhard)

Schließlich versprach Thomas Bernhard dem Frankfurter Verleger wenigstens eine Sonderausgabe dieser fünf Bücher, aber auch die veröffentlichte am Ende der Residenz Verlag. Daraufhin stöhnte Siegfried Unseld in einem Telegramm:

lieber herr bernhard
ich habe gestern ihren brief vom 20. november erhalten. fuer mich ist eine schmerzensgrenze nicht nur erreicht, sie ist ueberschritten. nach all dem, was in jahrzehnten und insbesondere in den beiden letzten jahren an gemeinsamem war, desavouieren sie mich, die ihnen gewogenen und fuer sie wirkenden mitarbeiter, und sie desavouieren den verlag. ich kann nicht mehr.
ihr siegfried unseld
(Telegramm vom 24. November 1988)

Thomas Bernhards Antwort fiel brutal aus:

Lieber Siegfried Unseld,
wenn Sie, wie Ihr Telegramm lautet, „nicht mehr können“, dann streichen Sie mich aus Ihrem Verlag und aus Ihrem Gedächtnis. Ich war sicher einer der unkompliziertesten Autoren, die Sie jemals gehabt haben.
Ihr Sie sehr respektierender
Thomas Bernhard
(Brief vom 25. November 1988)

In einem persönlichen Gespräch versöhnten sich Thomas Bernhard und Siegfried Unseld noch einmal. Aber die neu besiegelte Zusammenarbeit der beiden endete zwei Wochen später, am 12. Februar 1989, mit dem Tod des Schriftstellers.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2012
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag

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