Larissa Boehning : Nichts davon stimmt, aber alles ist wahr

Nichts davon stimmt, aber alles ist wahr
Nichts davon stimmt, aber alles ist wahr Originalausgabe: Verlag Galiani, Berlin 2014 ISBN: 978-3-86971-087-7, 316 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Als Juliane Anna Schmidt ihren Nachbarn Matthias Thies kennenlernt, hofft sie auf eine dauerhafte Beziehung, aber nach kurzer Zeit lässt Matthias nichts mehr von sich hören. Dann sieht sie ihn zusammen mit einer älteren Dame, die sie für seine Mutter hält. Neugierig folgt sie der Frau und beginnt ein Gespräch mit ihr. Die reiche Witwe, die nicht mit Matthias verwandt ist, den Hochstapler jedoch wie einen Sohn bemuttert, heißt Annemarie Funk, ist krebskrank und hat nur noch ein paar Wochen zu leben. Juliane soll ihre Lebensgeschichte aufschreiben ...
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Kritik

In dem Roman "Nichts davon stimmt, aber alles ist wahr" von Larissa Boehning geht es vor dem Hintergrund der Illusionsmaschinerie der Werbung um Lüge und Wahrheit, Hoch­stapelei, Betrug und (Selbst-)Täuschung.
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Juliane Anna Schmidt arbeitet in einer Werbeagentur in Hamburg. Als sie eines Abends nach Hause kommt, liegt eine Katze vor ihre Türe und folgt ihr in die Wohnung. Einige Tage, nachdem Juliane das Tier bei sich aufgenommen hat, klingelt ein Mann bei ihr und fragt nach der Katze.

Er stand vor meiner Wohnungstür. In seinem faltenfreien Anzug in Dunkelblau wirkte er plötzlich, in dem Abendlicht, das noch durch die Etagenfenster fiel, als hätte er sich mittels einer magischen Kraft an Ort und Stelle materialisiert. Mit Sicherheit war er nicht die Treppen in den 3. Stock hochgestiegen. Wenn, dann war er an einem unsichtbaren Seilzug eingeschwebt.

Er heißt Matthias Thies und wohnt im Hinterhaus unter dem Dach. Die Katze sei ihm entlaufen, behauptet er. Juliane lügt, sie habe keine Katze gesehen. Nachdem Matthias mit Juliane geschlafen hat, gesteht er ihr am nächsten Morgen: „Ich habe keine Katze.“

Juliane, die in den letzten Jahren nur unverbindliche Affären hatte, hofft auf eine dauerhafte Beziehung, aber dann lässt Matthias zwei Wochen lang nichts mehr von sich hören und ruft auch nicht zurück, wenn sie eine Nachricht auf seiner Mailbox hinterlässt. Dabei sieht Juliane mitunter Licht bei ihm. Sie versucht sich einzureden, dass er sie vernachlässige, weil er mit familiären Problemen zu kämpfen habe.

Matthias wurde soeben von der neuen Chefin des Versicherungsunternehmens, für das er arbeitete, entlassen, weil er mit zwei Kollegen zusammen eine Spesenabrechnung über 900 Euro für Getränke in einem „Sauna-Club“ eingereicht hatte. Sein letzter Auftrag bestand darin, eine Dame namens Annemarie Funk in Blankenese aufzusuchen, die um einen Hausbesuch gebeten hatte.

Eigentlich sollte sie Anna Maria heißen, aber die Hebamme hatte den Namen falsch aufgeschrieben. Sie wuchs in Oberbayern auf. Ihr Vater starb, als sie zehn Jahre alt war. Die Mutter Ottilie Pehl führte die Gaststätte ihres Vaters weiter – sie war die Engelwirtin – und richtete daneben noch eine Metzgerei ein, in der Annemarie als Kind die Kunden bedienen musste. Eine engere Beziehung hatte Annemarie damals nur zu ihrem Großvater, dem „alten Stenz“. Von ihrer Mutter fühlte sie sich nicht geliebt. Durch die Eheschließung mit dem Lufthansa-Piloten Harald Funk kam sie nach Hamburg. Seit zwölf Jahren ist sie Witwe, aber sie versäumte es, zurück nach Bayern zu ziehen. Nun ist es zu spät. Sie leidet an Krebs, und die Ärzte geben ihr höchstens noch ein halbes Jahr zu leben. Weil sie überzeugt ist, dass eine Chemotherapie nichts entscheidend daran ändern würde, möchte sie lieber ihr Haar behalten.

Als Matthias bei seinem Hausbesuch ihren Besitzstand überschlägt, kommt er auf ein Vermögen von mehreren Millionen Euro. Allein die Villa schätzt er auf drei Millionen. Er tut so, als sei seine Mutter kürzlich gestorben und als würde er um sie trauern. Erwartungsgemäß weckt er dadurch bei Annemarie Funk mütterliche Gefühle. Die kinderlose alte Frau, die weiß, dass sie nur noch kurz leben wird, fühlt sich einsam und freut sich, wenn Matthias sie auch weiter privat besucht.

Seit seiner Entlassung bekommt er von der Online-Partnervermittlung Yourlove ein Honorar für die Anlage und Pflege von Alvatar-Profilen. Seiner Mutter Ulla Thies, die in Rendsburg das Grünflächenamt leitet, erzählt Matthias jedoch, er habe den unwürdigen Job bei der Versicherung aufgegeben und sich beim diplomatischen Dienst beworben.

Im Krankenhaus hält der Arzt ihn für Annemarie Funks Sohn, erläutert ihm ihren Gesundheitszustand und versichert, man werde seine Mutter ins Schmerzmanagement aufnehmen.

Während Juliane im Café gegenüber dem Wohnhaus sitzt, beobachtet sie, wie ein BMW X5 vorfährt, Matthias aus dem Haus kommt und die ausgestiegene ältere Dame begrüßt. Ist das seine Mutter? Er parkt den SUV ein und kommt mit der Besucherin über die Straße. Juliane verlässt unbemerkt das Café, bevor die beiden es betreten. Als sie einige Tage später Matthias mit dem X5 wegfahren sieht, folgt sie ihm. Er holt die Dame, die sie bereits gesehen hat, in Blankenese ab und bringt sie zu einem Krankenhaus, begleitet sie jedoch nicht hinein. Juliane richtet es so ein, dass sie mit der Fremden im Lift steht und mit ihr ins Gespräch kommt. Annemarie möchte schließlich, dass Juliane ihre Lebensgeschichte aufschreibt, damit sie nicht verlorengeht.

Bei einem ihrer Besuche in Blankenese hört Juliane Matthias kommen. Daraufhin schleicht sie sich durch die Terrassentüre hinaus und versteckt sich zunächst im Garten. Sie hört, wie Annemarie sich darüber wundert, dass sie nicht mehr da ist und Matthias von ihr erzählt. Er warnt Annemarie, bei einer jungen Frau, die sich angeboten habe, ihre Memoiren zu schreiben, könne es sich nur um eine Erbschleicherin handeln.

Beim nächsten Telefongespräch mit Juliane ist Annemarie zunächst misstrauisch. Aber nachdem die Jüngere ihr gestanden hat, dass sie eine Affäre mit Matthias hatte, Annemarie für seine Mutter hielt und aus Neugierde Kontakt mit ihr aufnahm, setzt die alte Dame weiter darauf, dass sie ihre Lebensgeschichte zu Papier bringt.

Zu Hause wird Juliane vom Briefträger angesprochen. Weil Matthias Thiels Briefkasten überquillt, fragt er sie, ob sie bereit sei, dem Nachbarn einen Stapel Briefe weiterzugeben. Juliane wirft die Post in ihr Auto. Dabei fällt ihr ein besonders dickes Kuvert auf, und sie öffnet es. Es sind Matthias‘ Honorarabrechnungen für 21 Profile bei Yourlove.

Sie erzählt ihrem Kollegen Keith Baumer von Matthias. Als Keith, der in New York lebt, vor vier Jahren zum letzten Mal in Deutschland war, hatten sie eine Affäre miteinander. Er schreibt Matthias daraufhin eine Mail und behauptet, er sei ein Freund einer früheren Bekannten von Annemarie Funk, Stichwort Engelwirt in Oberbayern. Seine verwitwete und finanziell sehr gut gestellte Mutter sei etwas älter als Annemarie, lebe in Stuttgart und fühle sich einsam. Ob Matthias nicht zufällig jemanden kenne, der sich um seine Mutter so liebevoll kümmern könne wie er sich um Annemarie? Matthias beißt an und trifft sich mit Keith in einem Restaurant. Aus Neugierde verabredet sich Juliane für dieselbe Zeit mit ihrem Vater in dem Lokal. Matthias begrüßt sie, aber Keith und sie tun so, als würden sie sich nicht kennen.

Matthias besucht Annemarie nur abends. Tagsüber, so lügt er, habe er beruflich viel zu tun. Einmal fährt er mit ihr zur Ruine einer Villa, die er zuvor im Internet fand, und tut so, als handele es sich um die Reste seines Elternhauses. Schließlich richtet Annemarie ihm das Gästezimmer her und kocht für ihn. Er findet Hirnomelette, Kalbslunge, Hühnerfrikasse und Himmelstorte widerlich, und der Kaffee ist ihm zu dünn, aber er spielt die Rolle des liebevollen und dankbaren Sohnes. Im Bad reißt er allerdings den Puschelbezug vom Klodeckel und fegt mit dem Fuß das Puschel-U zur Seite.

Er bringt Annemarie davon ab, ihr Vermögen der Kirche zu vermachen, wird jedoch nervös, weil er noch nicht über eine von ihr unterschriebene Schenkungsurkunde verfügt. Um sie vorzubereiten, erfindet er die Mutter eines Kollegen, die aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr in der Lage war, für sich zu sorgen, aber auch nichts für diesen Fall geregelt hatte. Deshalb traf ein Sozialbetreuer alle Entscheidungen für sie, der nicht einmal ihren Namen richtig aussprechen konnte. Bevor Matthias Annemaries Unterschrift auf dem längst vorbereiteten Papier erhält, verschlechtert sich ihr Zustand so, dass er sie ins Krankenhaus bringen muss.

Kurz zuvor bekam Juliane einen Anruf von Annemarie. Die alte Dame teilte ihr mit, dass sie Aufzeichnungen zur Abholung bereitliegen habe. Als Juliane jedoch hinkommt, ist niemand da. Sie fragt in Krankenhäusern nach und findet heraus, wo Annemarie liegt. Während sie dort zu Besuch ist, hört sie Matthias kommen und versteckt sich im Bad. Dem belauschten Gespräch entnimmt sie, dass Annemarie ein Papier unterschreibt, das der Besucher mitgebracht hat. Sie kann sich denken, um was es sich handelt, unternimmt jedoch nichts dagegen.

Einige Zeit später erfährt sie durch den Telefonanruf einer Krankenschwester, dass Annemarie Funk gestorben ist.

Am nächsten Tag fährt sie zu der Villa in Blankenese. Davor stehen zwei bereits gefüllte Müllcontainer. In dem fast leeren Haus trifft sie auf zwei Arbeiter und einen Makler, der von der Immobilie schwärmt. Er habe von dem Sohn der verstorbenen Besitzerin den Exklusivauftrag, das Anwesen zu verkaufen, erklärt er.

Juliane klingelt bei Matthias. Seine Mutter öffnet. Ulla Thies weiß nur, dass ihr Sohn auf Reisen und nicht erreichbar ist. Sie vermutet, dass er inzwischen für das Auswärtige Amt arbeitet und an Geheimhaltungsklauseln gebunden ist. Allerdings, so erzählt sie der ihr fremden Besucherin weiter, wundere sie sich über einen Stapel von Mahnungen in seiner Wohnung.

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In dem Roman „Nichts davon stimmt, aber alles ist wahr“ beschäftigt sich Larissa Boehning mit drei Charakteren. Jede der drei Figuren sehnt sich nach Zuneigung und Anerkennung. Aber der Roman beginnt mit zwei Lügen: Matthias sucht nach einer entlaufenen Katze, die angeblich ihm gehört, und Juliane behauptet, sie habe keine gesehen. Damit setzt Larissa Boehning den Akzent: In „Nichts davon stimmt, aber alles ist wahr“ geht es um Lüge und Wahrheit, Illusion, Hochstapelei, Betrug und (Selbst-)Täuschung. Julianes Job in einer Werbeagentur und die mit der gegenwärtigen Handlung verknüpfte Kindheitsgeschichte Annemaries setzt dieses Thema in das Spannungsfeld zwischen dem traditionellen Landleben und der Illusionsmaschinerie der globalisierten Wirtschaft. Dadurch wird „Nichts davon stimmt, aber alles ist wahr“ zu einem Porträt unserer Zeit.

Allerdings ist nicht alles plausibel. Würde eine Mutter tatsächlich einer Fremden erzählen, sie habe bei ihrem Sohn einen Stapel Mahnungen gefunden? Ist es möglich, dass eine Villa in Blankenese, deren Wert auf drei Millionen Euro geschätzt wird, am Tag nach dem Tod der Besitzerin von einem Immobilienmakler ausgeräumt und zum Verkauf angeboten wird, obwohl sein Auftraggeber nur eine kurz zuvor von der Sterbenden unterschriebene Schenkungsurkunde ohne notarielle Beglaubigung vorweisen kann?

Als Keith ein Lockvogelangebot abgibt und Matthias darauf eingeht, erwartet man, dass dem Hochstapler rechtzeitig ein Strich durch die Rechnung gemacht werde. Aber der Handlungsstrang wird unversehens fallengelassen.

Larissa Boehning entwickelt die Handlung im Wechsel der Perspektiven. Dabei lässt sie Juliane in der Ich-Form auftreten. Matthias hat keine eigene Stimme; eine auktoriale Erzählerin schildert seine Erlebnisse und Gedanken. Annemarie erleben wir abwechselnd aus beiden Blickwinkeln.

Den Anmerkungen der Autorin ist zu entnehmen, dass die Kindheitsgeschichte Annemarie Funks auf den Erinnerungen einer Dame basieren, die sich Larissa Boehning anvertraute:

Marianne Reil übergab mir, nach einer langen Phase gemeinsamer Arbeit, einige Monate vor ihrem Tod ihre Erzählungen und Aufzeichnungen zu ihrer Kindheit im Engelwirt, mit der Bitte, daraus einen Roman zu schreiben.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2014
Textauszüge: © Verlag Kiepenheuer & Witsch

Dirk R. Meynecke - Die Autoren-Fibel
Der erfahrene Lektor und Literaturagent Dirk R. Meynecke schildert in seiner "Autoren-Fibel" nicht, wie man einen Roman oder ein Sachbuch schreibt, sondern was es zu beachten gilt, wenn das Manuskript von einem Verlag angenommen und veröffentlicht werden soll.
Die Autoren-Fibel