Emmanuel Bove : Menschen und Masken

Menschen und Masken
Originalausgabe: Cœurs et visages Éditions de France, paris 1928 Menschen und Masken Übersetzung: Uli Aumüller, Hg.: Bettina Augustin Manholt Verlag, Bremen 1991 dtv, München 2003 ISBN: 3-423-13041-5, 139 Seiten Edition diá, Berlin 2016 ISBN: 9783860345757 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Paris in den 20er-Jahren. Dem Pariser Schuhfabrikanten André Poitou wird das Kreuz der Ehrenlegion verliehen. Aus diesem Anlass richtet der Präsident des französischen Schuhherstellerverbandes in einem Hotel ein Festbankett für ihn aus. – Eine Handlung im engeren Sinne gibt es in "Menschen und Masken" nicht. Emmanuel Bove beobachtet die vornehme Gesellschaft ...
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Kritik

Emmanuel Bove entlarvt die wahren Gedanken hinter den Fassaden der freundlichen Gesichter und schmeichlerischen Worte. "Menschen und Masken" veranschaulicht, dass auf die "gute" Gesellschaft kein Verlass ist.
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Der Schuhfabrikant André Poitou ist Ende 50. Allein in Paris tragen sieben oder acht Läden seinen Namen, und er beschäftigt 3000 Arbeiter. Kürzlich wurde ihm das Kreuz der Ehrenlegion (Légion d’Honneur) verliehen.

Er erfüllte alle nötigen Voraussetzungen. Sein Alter, seine Position, seine Verdienste um den nationalen Handel, die zahlreichen Vereine, Körperschaften und Verbände, denen er angehörte, hatten ihn zu dieser Würde geführt.

Aus diesem Anlass richtet Monsieur Dumesnil, der Präsident des französischen Schuhherstellerverbandes, an diesem Abend [in den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts] im Hotel Gallia in Paris ein Bankett für André Poitou aus.

Erwartungsvoll nähert der Fabrikant sich dem Hotel. Er hat gerade damit angefangen, sein Leben zu ändern. Während früher nur die Arbeit und der berufliche Erfolg für ihn zählten, nutzt er nun jede Gelegenheit, Freunde zu gewinnen, nimmt Einladungen an und geht ins Theater.

Bis vor einigen Wochen hatte er mit außerordentlicher Sturheit nie geraucht und alle Zigaretten abgelehnt, die ihm angeboten worden waren. Jetzt kaufte er ägyptischen Tabak.

Im Bankettsaal des Hotels ist eine Tafel für 120 Gäste gedeckt. Aber der Abend beginnt mit einem Stehempfang.

Ein hoher Kamin, der die Besonderheit hatte, dass er trotz der Feuerböcke, des Rostes, des Kaminschirms und -hakens unecht war, schmückte eine Seite des langen Saals.

Von den Verwandten des Ehrengastes sind sein Bruder Maurice Poitou und seine Schwester Blanche Mesnard gekommen. Der 53-jährige Maurice Poitou lebt von dem Geld, das er von seinem älteren Bruder erhält. Blanche ist mit einem Feldwebel verheiratet, der nach Toulon abkommandiert wurde, der Einladung zum Bankett deshalb nicht folgen konnte und seiner Frau ein Gratulationsschreiben für den Schwager mitgab.

Unter den Gästen entdeckt André Poitou seinen langjährigen Hausarzt Fernand Lorieux, der zu den Menschen gehört, die er seit kurzem als Freunde betrachtet. Lorieux hat zwar nicht vergessen, wie geringschätzig Poitou ihn die ganze Zeit über behandelt hatte, aber die Beziehung könnte sich für ihn vorteilhaft erweisen. Das hält ihn nicht davon ab, Poitou hinter vorgehaltener Hand mit einer Kokotte im Ruhestand zu vergleichen.

Madame Wegener, eine ältere, geschminkte Frau, ruft „Monsieur Poitou!“ und macht ihn ungeniert auf sich aufmerksam. Sie weist Umstehende darauf hin, dass sie die Witwe eines Generals sei. Nach dessen Tod habe sie vier Tage lang nichts zu essen gehabt und sei erst durch Monsieur Poitou aus ihrer armseligen Lage befreit worden, indem er sie mit der Leitung einer Filiale beauftragt habe.

Fortunat, ein Kriegsversehrten um die 40, den Poitou als Bürodiener beschäftigt, wendet sich an ihn.

„Entschuldigen Sie bitte, Herr Direktor, dass ich hier mit Ihnen über Persönliches rede. Aber ich bin in einer sehr kritischen Situation. Meine Frau ist sehr krank.“

Poitou ahnt eine ärgerliche Bitte um Geld und antwortet unwirsch:

„Sie brauchen nur einen Antrag zu stellen. Der wird mir vorgelegt. Ich werde ihn wohlwollend prüfen. Wenn er berechtigt ist, sehe ich keinen Grund, ihn abzulehnen.“
„Ich habe einen gestellt, Herr Direktor.“
„Was wollen Sie denn dann? Ich werde doch jetzt nicht in mein Büro gehen. Ich werde ihn prüfen, das ist alles, was ich Ihnen sagen kann.“

Der Fabrikant lässt den Bittsteller stehen und wendet sich anderen Gästen zu. Insgeheim denkt er:

„Ich werde ihn hinauswerfen. So was tut man nicht. Im Übrigen habe ich es verdient. Wenn man Angestellte einlädt, bekommt man immer solche Geschichten.“

Ein junger Mann schwadroniert:

„Der Handel ist meiner Meinung nach der Liebling unserer Zeit. Man braucht nur zu kaufen und weiterzuverkaufen, um sich maßlos zu bereichern. Das ist ein Skandal. Ich wage sogar zu behaupten, dass es ein Anzeichen für eine kommende barbarische Ära ist. Wenn die Materie den Sieg über den Geist, der rücksichtslose Handel den Sieg über die Werke der Intelligenz davonträgt, ist es äußerst selten, dass daraus nicht soziale Unruhen entstehen.“

Gleich darauf erklärt er Poitou beschwichtigend:

„Ich weiß, dass es im Leben anders ist. Ich selbst, Monsieur, und das wird Ihnen klarmachen, dass ich keinerlei Hass gegen Kaufleute empfinde, ich bin der Sohn eines Lederwarenhändlers. Nächstes Jahr zieht mein Vater sich zurück, und natürlich werde ich die Führung seines Geschäfts übernehmen.“

Robert Mourlon, der Direktor einer Gerberei, beobachtet seinen wichtigsten Kunden inmitten der anderen Gäste und denkt:

„Der arme Mann nimmt das alles ernst.“

Monsieur Dumesnil, der Präsident des französischen Schuhherstellerverbandes, wird von seinem Sohn Jean begleitet. Aristide Baladis, ein griechisch-stämmiger, seit 1910 in Frankreich lebender und eingebürgerter Hersteller von Maßschuhen, begrüßt den Präsidenten, und als er merkt, dass dieser sich nicht an ihn erinnert, nennt er seinen Namen.

„Ach ja … ach, ja … ich glaube, ich erinnere mich. Sie sind Baladis … ja … ja … ich verstehe … Jetzt erinnere ich mich an Sie. Ach … ja … ja … ja … Monsieur Baladis. Sie haben einen Namen, den man leicht behalten kann … Baladis … Ballade … Rondo … Das ist Griechisch, nehme ich an … Nicht … das ist Griechisch? Das ist doch reines Griechisch!“
„Ich bin Franzose, Herr Präsident, aber griechischer Abstammung.“
„Griechischer Abstammung … Baladis … Das ist Griechisch … kein Zweifel. Sie sind Grieche … So, so … Sie sind Grieche. Tja, also ich bin Franzose … Das ist nicht ganz dasselbe.“
„Wir sind Franzosen, Herr Präsident.“
„Ist das wahr, was Sie sagen? Ist es wirklich wahr?“
„Ich nehme an, Herr Präsident.“ […]
„Nun ja, ich sage, was mir durch den Kopf geht. Im Grunde wäre es nicht verwunderlich, wenn ich Deutscher wäre. Kommt es nicht vor, dass anständige Leute sich für Schurken halten?“
„Dann hätten sie nicht diesen Esprit, Herr Präsident! Da bin ich sicher … Sie sind Franzose bis in die Fingerspitzen.“
„Jawohl, Monsieur Baladis, wenn Sie von Esprit sprechen, bin ich ein anderer Mensch. Ja, wenn man von Esprit spricht, bin ich Franzose und stolz darauf.“

Joseph Billan, der Betriebsleiter der Firma Poitou, bringt seine Ehefrau mit. Von den Angestellten sind auch der Buchhalter Monsieur Chamuzet und Madame Belamont, die Vertreterin der Verkäuferinnen in den Filialen, der Einladung gefolgt.

Monsieur Lorentz, der Direktor einer Dekorationsfirma, und seine Frau kommen mit ihrer 22-jährigen Tochter.

John Hardley, der Repräsentant einer amerikanischen Schuhmarke in Frankreich, wird von Madeleine begleitet, einer kleinen Tänzerin, die er Poitou als seine Frau vorstellt, obwohl sie nur seine Mätresse ist. Gleich nach seinem Eintreten weist er Madeleine mit einer Handbewegung einen Platz zu, während er zu Aristide Baladis geht, der sich mit der berühmten Sängerin Yvonne Stella unterhält, damit dieser ihn mit der begehrenswerten Dame bekanntmacht.

Nachdem der Senator Marchesseau mit einigen Stadträten seinen Einzug gehalten hat, nehmen die Gäste an der langen Tafel Platz. Je länger das Diner dauert, desto lauter unterhalten sich die Gäste.

Schließlich steht Monsieur Dumesnil auf, erklärt sich zum Sprachrohr aller versammelten Freunde von André Poitou und hält eine Eloge auf ihn, in der er ihn als „Beispiel für Ausdauer, Beharrlichkeit und Ehrlichkeit unserer hiesigen Geschäftswelt“ hervorhebt. Auf die Ansprache des Präsidenten des französischen Schuhherstellerverbandes folgt eine des Senators Marchesseau. Er nennt André Poitou seinen Freund und meint unter anderem:

„Gering ist die Zahl derer, die sich rühmen können, eine so große, von Sympathie ganz überwältigte Gesellschaft um sich versammelt zu sehen.“

André Poitou bleibt nichts anderes übrig, als sich für die beiden Lobeshymnen zu bedanken, aber er ist so gerührt, dass er kaum reden kann.

Die Gäste sind beim Likör, als ein Fotograf mit seinem Assistenten den Bankettsaal betritt, mit Hilfe von Hotelangestellten auf einen Tisch klettert und die Gesellschaft im Bild festhält.

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Eine Handlung im engeren Sinne gibt es in „Menschen und Masken“ nicht. Emmanuel Bove beobachtet eine illustre Abendgesellschaft in den Zwanzigerjahren im Bankett-Saal eines Pariser Hotels. Dabei beleuchtet er nicht nur Peinlichkeiten, sondern entlarvt vor allem die wahren Gedanken der Gäste hinter den Fassaden der freundlichen Gesichter und schmeichlerischen Worte. Auf geschickte Weise verbindet Emmanuel Bove die prägnanten Demaskierungen so, dass eine unterhaltsame Lektüre entsteht. Er beschränkt sich nicht auf das Hier und Jetzt im Hotel, sondern fügt hin und wieder auch Erinnerungen bzw. Rückblenden ein, in denen es ebenfalls um die Diskrepanz zwischen Schein und Wirklichkeit in menschlichen Beziehungen geht. „Menschen und Masken“ veranschaulicht, dass auf die „gute“ Gesellschaft kein Verlass ist.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2016
Textauszüge: © Uli Aumüller / Edition diá

Emmanuel Bove (kurze Biografie / Bibliografie)

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