Lily Brett : Chuzpe

Chuzpe
Originalausgabe: You Gotta Have Balls Picador by Pan Macmillan Australia, 2005 Chuzpe Übersetzung: Melanie Walz Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 2006 ISBN 3-518-41827-0, 334 Seiten Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt/M 2007 ISBN 978-3-518-45922-5, 334 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der 87-jährige Edek zieht von Melbourne zu seiner Tochter Ruth nach New York, während ihr Ehemann gerade ein halbes Jahr in Australien zu tun hat. Als Edek ein Verhältnis mit der 18 Jahre jüngeren Polin Zofia beginnt und mit ihr und der gemeinsamen Freundin Walentyna in einer Seitenstraße der Lower East Side ein auf polnische Klopse spezialisiertes Restaurant eröffnet, bringt er Ruth an den Rand eines Nervenzusammenbruchs ...
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Kritik

"Chuzpe" ist ein witziger, leicht zu lesender Roman, mit dem sich Lily Brett über den Jugendwahn lustig macht, und es handelt sich zugleich um einen Lobgesang auf die Chuzpe eines Greises.
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Ruth Rothwax wuchs in Australien auf, lebt jedoch seit längerer Zeit in New York. Seit fünfundzwanzig Jahren ist sie mit dem Künstler Garth verheiratet. Sie haben drei Kinder: Zelda, Zachary und Kate. Vor fünfzehn Jahren eröffnete sie einen Briefservice – „Rothway Correspondence“ –, mit dem sie inzwischen so viel Geld verdient, dass sie sich ein Loft in SoHo und ein Ferienhaus außerhalb der Stadt leisten kann. „Ruthie schreibt Briefe, was aussehen wie Briefe, was geschrieben haben diese Leute“, (Seite 118) erläutert ihr siebenundachtzigjähriger Vater Edek, der vor fünf Monaten Melbourne verließ und zu seiner vierundfünfzigjährigen Tochter nach New York zog. Während nun Edek jeden Tag mit Ruth zusammen ist, hat Garth gerade für ein halbes Jahr in Australien zu tun, und Ruth vermisst ihn. Sie hat etliche Stunden bei Psychoanalytikern verbracht, ist aber nach wie vor verklemmt und kopflastig wie die meisten New Yorker, trinkt Kamillentee, um ihren Magen zu beruhigen, achtet ängstlich darauf, nichts Unrechtes zu essen und versucht krampfhaft, sowohl in der Familie als auch im Büro alles unter Kontrolle zu behalten.

Als sie ihrem Vater rät, sich einer Literaturgruppe anzuschließen, versteht er nicht, warum er mit anderen über die Kriminalromane diskutieren soll, die er gelesen hat. Er hält auch nichts von Seniorenclubs, Massagen und Schwimmen. Stattdessen versucht Edek, sich nützlich zu machen und sorgt bei „Rothway Correspondence“ für den Einkauf. Übereifrig bestellt er Wellpappe, Etikettiermaschinen und andere Dinge, die Ruth überhaupt nicht benötigt; Papier und Büroklammern kauft er in solchen Mengen, dass es für Jahrzehnte reichen wird.

Edek war mit seiner inzwischen verstorbenen Ehefrau Rooshka fünf Jahre im Ghetto von Lodz und danach in Auschwitz. Die ganze Verwandtschaft kam beim Holocaust ums Leben. Vor einem Jahr war er zum ersten Mal nach fünfzig Jahren wieder in Polen, und Ruth begleitete ihn. Im Hotel „Mimosa“ in Krakau lernten sie zwei befreundete polnische Witwen aus Zoppot kennen, Zofia und Walentyna, die eine achtundsechzig, die andere zwei Jahre jünger. Als Ruth merkte, dass ihr Vater eine Affäre mit Zofia hatte, war sie entsetzt, denn sie hielt die Frau viel zu jung für ihn.

Nach einer Weile bleibt Edek immer häufiger weg und sagt Verabredungen mit Ruth ab. Offenbar treibt er sich in der Lower East Side herum, und eines Tages äußert er den Wunsch, in dieses Stadtviertel umzuziehen. Dort sei alles viel billiger und für die Miete, die Ruth für sein kleines Apartment in der Second Avenue bezahle, könne er dort er in der Lower East Side eine Dreizimmer-Wohnung bekommen. Er schwärmt Ruth von einem Geschäft vor, in dem es für wenig Geld Büstenhalter in Übergrößen zu kaufen gibt. Denkt er immer noch an Zofia mit ihren enormen Brüsten?

Kurz darauf erhält Ruth einen Anruf von Zofia. Die Polin ist gerade mit Walentyna in Newark angekommen. Ruth denkt zunächst an einen Zwischenaufenthalt, erfährt jedoch zu ihrer Überraschung, dass die beiden vorhaben, sich ein Taxi zu nehmen und zu Edek zu fahren.

Sie stellt ihren Vater zur Rede, und Edek gibt zu, schon länger gewusst zu haben, dass Zofia und Walentyna nach New York kommen würden.

„Ich habe es nicht direkt verheimlicht vor dir, Ruthie, ich habe dir nur nichts gesagt davon.“ (Seite 105)

Acht Wochen lang besuchten die Polinen in Zoppot einen Englischkurs, und sie verfügen über Greencards. Ruth ist entsetzt über die Vorstellung, dass Edek sich die Wohnung mit zwei Frauen teilt, aber weder ihre Freundin Sonia Kaufman noch ihre drei Kinder stören sich daran; im Gegenteil: Sie freuen sich für den alten Herrn, der auf diese Weise Gesellschaft hat.

Es kommt noch aufregender: Eines Tages kündigt Edek seiner Tochter an, er werde mit Zofia und Walentyna zusammen ein Restaurant eröffnen, einen „Klopsladen“. Zofia mache hervorragende Klopse, Walentyna könne in der Küche helfen und er werde sich um die Gäste kümmern.

Ruth kam aus dem Staunen nicht heraus. Sie war wie vor den Kopf geschlagen. Das ganze Vorhaben, der ganze Plan war absurd. Man konnte nicht einfach von Zoppot herfliegen und sich einbilden, Fleischklöpse seien das, was dem Leben in der Stadt New York fehlte. (Seite 164)

Es dauert nicht lang, bis Edek in einer menschenleeren Nebenstraße einen ungenutzten Laden zwischen zwei Autowerkstätten gemietet hat. Um ihren Vater nicht zu enttäuschen, stellt ihm Ruth die erbetenen 30 000 Dollar Startkapital zur Verfügung. Das ist eine Menge Geld, aber viel zu wenig, um in New York ein Restaurant zu eröffnen. Und selbst wenn es gelänge, wird kaum jemand das Lokal in dieser ungünstigen Lage entdecken.

Edek, Zofia und Walentyna machen sich jedoch unverdrossen ans Werk. Sie finden polnische Immigranten, die mauern, Leitungen verlegen und schreinern; Architekturstudenten zeichnen ihnen die Pläne, und sowohl die Möbel als auch die Küchengeräte kaufen sie gebraucht.

In einem Telefongespräch mit ihrem Mann bezweifelt Ruth, ob es richtig war, Edek das Geld zu geben. Garth meint:

„Du hast völlig richtig gehandelt. Überleg dir mal, wieviel Aufregung und Spaß sie schon dabei hatten. Dein Vater steht mitten im Leben und ist mit echten Dingen beschäftigt.“ (Seite 245)

Kurz vor der Eröffnung des Restaurants „Klops braucht der Mensch“ gesteht Edek seiner Tochter, er habe auch gleich die benachbarte Werkstatt mit gemietet, die Wand durchgebrochen und es sich genehmigen lassen, im Sommer Tische und Stühle aufs Trottoir zu stellen.

„Um zu sagen die Wahrheit, Ruthie, es war meine Idee. Ich habe gesagt zu Zofia, dass es nicht schlau ist, zu stecken so viel Geld in ein Restaurant, was wird haben einen Riesenerfolg. Und wenn es dann ist ein Riesenerfolg, wir werden haben keinen Platz für mehr Kunden.“ (Seite 270)

Obwohl es Ruth missfällt, wie die vollbusige Zofia sich an ihren Vater heranmacht, kann sie nicht leugnen, dass die neunundsechzigjährige Polin ausgezeichnet schmeckende Klopse macht und zupacken kann.

Die Selbstverständlichkeit, mit der Zofia handelte, schüchterte sie ein. Tagsüber recherchierte sie in Restaurants, abends bewirtete sie Gäste, nachts kochte sie Klopse, und frühmorgens ging sie schwimmen. Ohne jemals zu jammern. (Seite 238)

Vier Wochen nach der Eröffnung läuft „Klops braucht der Mensch“ schon so gut, dass Edek, Zofia und Walentyna außer zwei jungen Mexikanern eine Küchenhilfe, zwei Kellnerinnen und ein Mädchen für die telefonischen Reservierungen einstellen müssen. In der „New York Times“ entdeckt Ruth eines Morgens ein Foto von Edek und einen Artikel mit der Schlagzeile „Im Paradies der Klopse“. Sogar Steven Spielberg und Luciano Pavarotti essen in „Klops braucht der Mensch“.

Zofia, die in der heißen Küche des Restaurants nur einen Büstenhalter unter der Schürze trägt, sagt unbekümmert zu Ruth:

„Ihr Vater und ich, wir haben sehr guten Sex […] Wir essen gut miteinander, und wir haben guten Sex miteinander.“ (Seite 239f)

Garth kündigt am Telefon seine vorzeitige Rückkehr nach New York an. Ruth freut sich. Erst ein paar Tage später findet sie den Grund heraus: Edek und Zofia wollen heiraten. Garth kommt zur Hochzeitsfeier.

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„Chuzpe“ ist ein witziger, leicht zu lesender Roman, mit dem sich Lily Brett über den Jugendwahn lustig macht. Im Mittelpunkt steht eine vierundfünfzigjährige erfolgreiche, Unternehmerin. Wie ängstlich, verklemmt und kopflastig sie ist, zeigt sich im Vergleich mit ihrem siebenundachtzigjährigen Vater, der zusammen mit zwei polnischen Freundinnen, die beide Ende sechzig sind, in New York ein Restaurant eröffnet, sich dabei über die grüblerischen Bedenken seiner Tochter hinwegsetzt, unbekümmert an den Erfolg glaubt und sich voller Chuzpe in das Abenteuer stürzt. Lily Brett versteht es, die Leser zu unterhalten, ohne ins Triviale abzugleiten.

Lily Brett wurde 1946 in Deutschland geboren. Ihre Eltern heirateten im Ghetto von Lodz. 1948 übersiedelte die Familie nach Australien.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2007
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag

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