Alina Bronsky : Baba Dunjas letzte Liebe

Baba Dunjas letzte Liebe
Baba Dunjas letzte Liebe Originalausgabe: Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015 ISBN: 978-3-462-04802-5, 154 Seiten ISBN: 978-3-462-30972-0 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Das Dorf Tschernowo wurde nach dem Reaktorunfall 1986 evakuiert, aber Baba Dunja ist vor 16 Jahren trotz der Ver­strah­lung zurückgekehrt. Damals war sie Ende 60. Sie könnte bei ihrer als Ärztin in Deutschland praktizierenden Tochter wohnen, aber sie ist noch nie weiter weg gewesen und zieht es vor, ihren Lebens­abend im Heimatdorf zu verbringen, auch wenn das bedeutet, dass sie ihre Enkelin nur auf Fotos sehen kann. Die meisten Häuser stehen leer; nur einige schrullige Alte leben noch in Tschernowo ...
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Kritik

"Baba Dunjas letzte Liebe" ist ein origineller, tragikomischer und skurril-märchenhafter Roman. Der 36-jährigen Autorin Alina Bronsky gelingt es überzeugend, sich in die Ich-Erzählerin zu versetzen, eine einfache, ebenso melancholische wie unbeugsame Russin Mitte 80.
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Nach dem Reaktorunglück im Jahr 1986 wurden die Bewohner des Dorfes Tschernowo in die knapp außerhalb der Todeszone liegende Stadt Malyschi gebracht. Baba Dunja – laut Pass heißt sie Evdokija Anatoljewna – war damals Anfang 50 und arbeitete als medizinische Hilfsschwester. Sie war froh, dass ihre Kinder von der Verstrahlung verschont blieben: Irina studierte in Moskau Medizin, und Alexej unternahm gerade eine Tour im Altai. Bei Baba Dunjas Ehemann Jegor kam es auf die Strahlenbelastung nicht mehr an, denn seine Lebenserwartung war ohnehin nur noch kurz.

Jegor und sie waren drei Jahre lang zusammen gewesen, als sich das erste Kind bei ihr einnistete. Daraufhin heirateten sie. 18 Monate nach Irina gebar sie Alexej. Dabei hatte sie angenommen, dass Frauen nicht schwanger werden, während sie stillen.

Baba Dunja kehrte vor 16 Jahren als Erste wieder zurück in ihr Dorf Tschernowo, obwohl es in dem am stärksten verstrahlten Gebiet liegt. Sie ging bereits auf die 70 zu, hielt es in den grauen fünfstöckigen Häusern aus der Chruschtschow-Ära in Malyschi nicht länger aus, und ihre Rente reichte auch nur für ein Zimmer in Untermiete. Seither lebt sie allein in ihrem alten Haus in Tschernowo und versorgt sich weitgehend selbst mit Obst, Gemüse und Kräutern sowohl aus dem Garten als auch aus dem noch von Jegor gebauten Gewächshaus. Die Nachbardörfer stehen leer, und von den 30 Häusern in Tschernowo sind weniger als die Hälfte bewohnt.

Hin und wieder kamen Forscher in Schutzanzügen nach Tschernowo. Baba Dunja wollte sie bewirten, aber sie aßen und tranken nichts, nahmen nur Proben mit. Das Dorf verfügt über einen eigenen Friedhof, weil es zu aufwendig wäre, die Toten in Malyschi in Bleisärgen zu bestatten. Bis vor 30 Jahren gab es in Tschernowo auch noch eine Schule.

Baba Dunjas Sohn Alexej lebt in Amerika, aber sie weiß nur, dass es dort warm ist; vielleicht ist er in Florida oder Kalifornien.

Irina arbeitet in Deutschland als Chirurgin bei der Bundeswehr. Sie ist mit einem Deutschen namens Robert verheiratet. Als Baba Dunja vor 17 ½ Jahren ihre Tochter aus Malyschi anrief, erfuhr sie zu ihrer Überraschung, dass sie seit elf Tagen eine Enkelin hatte. Laura und ihren Schwiegersohn Robert kennt Baba Dunja nur von Fotos. Es sind auch keine Telefon­gespräche möglich. Nur der über 100 Jahre alte Sidorow behauptet immer wieder, dass sein Anschluss funktioniere, aber die anderen Dorfbewohner halten ihn für verrückt. Irina versuchte vergeblich, ihre Mutter von der Rückkehr nach Tschernowo abzuhalten. Sie wagt sich nicht in die Todeszone, um sie zu besuchen, und für Baba Dunja kommt eine Reise nach Deutschland nicht in Frage. Über Malyschi ist sie noch nie hinausgekommen, und vielleicht dürfte sie wegen ihrer strahlenden Knochen gar nicht weg. Jeden Abend liest sie den jeweils letzten Brief ihrer Tochter, immer wieder, bis ein neuer eintrifft und jemand aus dem Dorf die Post aus Malyschi mitbringt. Dass Irina ihr Pakete schickt, lässt Baba Dunja nur zu, weil sie weiß, dass das für ihre Tochter wichtig ist. Immerhin kann sie beispielsweise in der Dose, in der sich Büroklammern befanden, eine Gurke mitnehmen, wenn sie nach Malyschi unterwegs ist.

Der Fußmarsch zur Bushaltestelle dauert zwei Stunden, die Fahrt dann noch einmal eine Stunde.

Der Busfahrer fährt diese Strecke seit fünf Jahren. Er heißt Boris, und vor einem halben Jahr wurde ihm ein Enkelsohn geboren. Ich frage vorsichtig, wie es dem Baby geht. Es sind heikle Fragen, und ich möchte niemandem wehtun. Boris antwortet heiser, dass der Junge einen guten Appetit habe und ordentlich wachse.
Ich atme aus.

Irina hat ihrer Mutter in Malyschi ein Konto eingerichtet, und Baba Dunja hebt jedes Mal alles ab, weil sie Banken misstraut. Sie zieht es vor, die Geldscheine zu Hause in einem Einmachglas aufzubewahren.

Im Sparkassenvorraum stehen Automaten. Ein Mädchen mit Halstuch fragt mich, ob ich Hilfe brauche. Ich brauche keine Hilfe, sondern nur mein Geld, und das nicht von einer Maschine, sondern von einem Menschen am Schalter.

Als Baba Dunja einen Brief von ihrer Enkelin Laura erhält, kann sie ihn nicht lesen, denn er ist in lateinischen Buchstaben und nicht in Russisch geschrieben. Aber Baba Dunja trägt den Brief nun ständig bei sich.

Baba Dunjas Nachbarin Marja ist mindestens zehn Jahre jünger. Sie war Melkerin. Am 51. Jahrestag ihrer Hochzeit weint sie.

Marja hat mir schon viel von ihrem Alexander erzählt. Hauptsächlich, dass er sie windelweich geprügelt hat und irgendwann im Suff von einem Traktor überfahren wurde.

Noch als Pflegefall warf er Sachen nach Marja. Als nach dem Reaktorunfall die Liquidatoren kamen, ging Marja mit ihnen und ließ ihren Mann zurück.

Marja trägt ungewaschene Sachen, im Ausguss schimmelt es, und als Baba Dunja hinübergeht, springt die Ziege aus dem Bett.

Ich hätte längst darauf kommen müssen, dass Marja nicht einfach nur faul und schlampig ist. Sondern dass sie faul und schlampig ist, weil sie Depressionen hat. Als ich noch medizinische Hilfsschwester war, hatte niemand Depressionen, und wenn sich einer umbrachte, nannte man ihn geisteskrank, außer es geschah aus Liebe.

Vor einem Jahr kam Petrow als bisher letzter Bewohner ins Dorf. Der Körper des Greises ist voller Krebszellen, aber er floh aus dem Krankenhaus, und richtete sich im Haus der Großmutter seiner Ex-Frau in Tschernowo ein, um hier zu sterben.

Überraschend taucht ein Fremder mit seiner kleinen Tochter auf und quartiert sich in einem der leer stehenden Häuser ein. Als Baba Dunja begreift, dass das Kind – es heißt Aglaia – gesund ist, geht sie zu dem Neuankömmling, der sich vermutlich an seiner Frau rächen will, und fordert ihn auf, das Mädchen sofort wegzubringen. Der Streit eskaliert. Baba Dunja wird von einem Faustschlag in die Rippen getroffen. Der Mann wirft sie zu Boden und versucht sie zu erwürgen. Baba Dunja rechnet mit dem Schlimmsten, aber er lässt plötzlich von ihr ab. Petrow hat ihm mit einem Axthieb den Schädel gespalten.

Baba Dunja holt das verwaiste Kind zu sich und umwickelt es gegen die Strahlung mit Alufolie aus einem der Pakete, die Irina ihr schickte.

Am nächsten Morgen findet das Ehepaar Gavrilow den Toten. Wer soll nach Malyschi und die Miliz verständigen? Sidorow meldet sich zu Wort und weist darauf hin, dass man die Miliz auch anrufen könne. Niemand achtet auf ihn, bis Aglaia erzählt, sie habe mit ihrer Mutter telefoniert, die werde sie abholen und die Miliz verständigen.

Einige Zeit später nähern sich drei Autos. Aus einem davon steigt eine Frau mit hohen Absätzen. Sie nimmt ihre Tochter in die Arme und streift ihr den mitgebrachten Schutzanzug über. Ein paar Mal ruft sie zornig den Namen Germann, aber dann fährt sie mit Aglaia fort, ohne sich weiter um ihren Mann zu kümmern. Dass er tot ist, weiß sie noch nicht.

Baba Dunja zeigt der Miliz die Leiche. Die Männer kündigen an, dass sie Kollegen schicken werden.

Als die Dorfbewohner wieder unter sich sind, schaufeln sie ein Grab und bestatten den Toten.

Milizionäre in Strahlenschutzkleidung verhaften sie alle.

Baba Dunja fragt ihren jungen vom Staat bezahlten Rechtsanwalt Arkadij Sergejewitsch, was geschehen würde, wenn jemand den Mord gestünde, ob die anderen dann freikämen. Während der Gerichtsverhandlung klopft Baba Dunja an das Gitter des Käfigs, in dem die Angeklagten sitzen. Sie legt ein Mordgeständnis ab und behauptet, sie habe die anderen unter Androhung von Gewalt dazu gebracht, die Leiche zu begraben. Die Richterin verurteilt Baba Dunja daraufhin wegen Totschlags im Affekt zu drei Jahren Arbeitslager.

Eines Tages nutzt Baba Dunja eine Arbeitspause in der Näherei, um einen Brief an Laura zu schreiben.

Ich sitze bestimmt eine halbe Stunde da. Vielleicht auch länger oder kürzer. Dann versuche ich um Hilfe zu rufen, aber es gelingt mir nicht. Meine Augen fallen langsam zu. ich weiß genau, was mit mir passiert, aber das Wort dafür will mir nicht einfallen. Mein Rückgrat schmerzt vom zu langen Sitzen. Wann werde ich endlich gesucht, ich müsste doch längst zurück an die Arbeit. Jemand dreht mich auf den Rücken – ich habe gar nicht bemerkt, dass ich umgefallen bin.

Als Baba Dunja nach dem Schlaganfall wieder zu sich kommt, erfährt sie, dass ihre Tochter bereits seit zwei Wochen im Land ist und mit dem jungen Rechtsanwalt zusammen um Baba Dunjas Verlegung in ein Krankenhaus kämpft.

Baba Dunja fragt nach ihrer Enkelin. Irina berichtet ihr, dass Laura im Alter von 13 Jahren ihre erste Alkoholvergiftung hatte, von zwei Schulen relegiert wurde, ihren verhassten Eltern Geld stahl und seit Monaten als vermisst gemeldet ist. In Lauras Brief, den Baba Dunja ihrer Tochter nun zum Lesen gibt, schreibt die junge Frau angeblich von ihrem verkorksten Leben. Irina sagt, Laura hasse die Familie mit Ausnahme der Großmutter, die sie nur aus Briefen kennt.

Der Präsident begnadigt Baba Dunja. Arkadij Sergejewitsch holt sie mit dem Auto ab. Es sei alles geregelt, erklärt er. Er bringe sie zum Flughafen. Sie werde zu ihrer Tochter nach Deutschland fliegen. Aber Baba Dunja besteht darauf, dass er stattdessen nach Malyschi fährt. Am Rand der Todeszone entschuldigt er sich, weil er sich nicht weiter wagt. Drei Stunden geht Baba Dunja noch zu Fuß, dann ist sie wieder zu Hause. Sie macht sich Gedanken über ihre Enkelin:

Das ist es, was diesem Mädchen immer gefehlt hat. Sie hatte nie ein Zuhause, weil ich ihrer Mutter nicht beigebracht habe, sich im Leben wohl zu fühlen. Ich habe es selbst zu spät gelernt.

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Im Mittelpunkt des tragikomischen Romans „Baba Dunjas letzte Liebe“ von Alina Bronsky steht eine eigenwillige Witwe Mitte 80, die nach dem Reaktorunfall 1986 in Tschernobyl trotz der Strahlenbelastung so rasch wie möglich in ihr (fiktives) Dorf Tschernowo zurückgekehrt ist. Sie ist froh, dass ihre Kinder zur Zeit des Unfalls nicht da waren. Baba Dunja könnte zwar bei ihrer in Deutschland als Ärztin tätigen Tochter wohnen, aber Tschernowo ist ihre Heimat; dort will sie ihren Lebensabend verbringen.

Alina Bronsky lässt die Protagonistin des Romans „Baba Dunjas letzte Liebe“ in der Ich-Form und im Präsens von sich und den wenigen anderen Menschen in Tschnernowo erzählen. Es sind allesamt schrullige Frauen und Männer im Rentenalter. Baba Dunja selbst, eine ehemalige medizinische Hilfsschwester, wirkt zwar melancholisch, aber zugleich unbeugsam, unbeirrbar und mit sich im Reinen. Die Sprache ist ruhig, unspektakulär und besonnen. Verblüffend ist es, wie überzeugend sich die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung 36-jährige Schriftstellerin Alina Bronsky in „Baba Dunjas letzte Liebe“ in die 50 Jahre ältere Romanfigur versetzt. Den einfachen Plot hat sie durch eine Reihe skurril-märchenhafter Episoden bereichert. Originalität, Humor und Sprachwitz sorgen für ein außergewöhnliches Lesevergnügen.

Den Roman „Baba Dunjas letzte Liebe“ von Alina Bronsky gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Sophie Rois (ISBN 978-3-86484-301-3).

Alina Bronsky (der Name ist ein Pseudonym) wurde am 2. Dezember 1978 in Swerdlowsk im Osten der Ukraine als Tochter einer Astronomin und eines Physikers geboren. Die Familie emigrierte Anfang der Neunzigerjahre nach Deutschland. Nachdem Alina Bronsky ihr Medizinstudium abgebrochen hatte, volontierte sie in der Redaktion der Regionalzeitung „Darmstädter Echo“.

2008 debütierte Alina Bronsky mit dem Jugendroman „Scherbenpark“. Thomas Richhardt schrieb dazu eine Bühnenfassung, die am 3. Juli 2010 im Theaterhaus Stuttgart uraufgeführt wurde. Außerdem verfilmte Bettina Blümner den Roman nach einem Drehbuch von Katharina Kress mit Jasna Fritzi Bauer in der Hauptrolle: „Scherbenpark“.

Der Vater der ersten drei Kinder von Alina Bronsky kam im Januar 2012 bei einem Unfall in den Alpen ums Leben. Sie lebt in Berlin mit dem Schauspieler Ulrich Noethen zusammen und hat mit ihm seit August 2013 eine Tochter.

Mit den Romanen „Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche“ und „Baba Dunjas letzte Liebe“ schaffte es Alina Bronsky auf die Longlists zum Deutschen Buchpreis 2010 bzw. 2015.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2016
Textauszüge: © Verlag Kiepenheuer & Witsch

Alina Bronsky: Scherbenpark (Verfilmung)

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Als in den 70er-Jahren deutlich wurde, dass herkömmliches rationalistisches Denken in linearen Ursache-Wirkung-Ketten bei neuen komplexen Problemsituationen an Grenzen stieß, wurden Schlagworte wie "Vernetzung" und "ganzheitliches Denken" populär (vgl.: Frederic Vester: Neuland des Denkens).
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