Anatomie einer Entführung

Anatomie einer Entführung

Anatomie einer Entführung

Anatomie einer Entführung – Originaltitel: The Clearing – Regie: Pieter Jan Brugge – Drehbuch: Justin Haythe, Pieter Jan Brugge – Kamera: Denis Lenoir – Schnitt: Kevin Tent – Musik: Craig Armstrong – Darsteller: Robert Redford, Helen Mirren, Willem Dafoe, Alessandro Nivola, Matt Craven, Melissa Sagemiller, Wendy Crewson, Larry Pine, Diana Scarwid, Elizabeth Ruscio, Gwen McGee, Sarah Koskoff, Graciela Marin u.a. – 2004; 95 Minuten

Inhaltsangabe

Der Fabrikarbeitersohn Wayne Hayes hat den amerikanischen Traum verwirklicht und als Unternehmer ein Vermögen verdient. Eines Tages meldet ihn seine Frau Eileen als vermisst. Ihre erwachsenen Kinder Tim und Jill kommen zu ihr, um ihr beizustehen. Das FBI quartiert sich ebenfalls in der Villa ein. Zunächst schickt der Entführer nur Waynes Autoschlüssel und eine kurze Bandaufnahme von ihm. Erst nach Tagen verlangt er 10 Millionen Dollar ...
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Kritik

"Anatomie einer Entführung" ist ein Mix aus spannendem Thriller und fesselndem Ehedrama. Pieter Jan Brugge entwickelt die Geschichte im Wechsel von zwei Handlungs-strängen. Wie intelligent diese Parallelmontage gestaltet ist, wird erst kurz vor dem Ende klar.
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Mit Zielstrebigkeit und viel Arbeit hat der Fabrikarbeitersohn Wayne Hayes (Robert Redford) den amerikanischen Traum verwirklicht und als Unternehmer ein Vermögen verdient. Entsprechend luxuriös ist die Villa, die er seit sechs Jahren mit seiner Ehefrau Eileen (Helen Mirren) in einer Vorstadt bewohnt. Sohn und Tochter sind erwachsen und leben anderswo. Das Dienstmädchen Graciela (Graciela Marin) kümmert sich um den Haushalt. Die Ehe ist zur Routine geworden. Vor einigen Jahren erfuhr Eileen, dass ihr Mann eine Affäre mit seiner Sekretärin hatte. Auf ihr Verlangen hin entließ Wayne die Frau, und für Eileen ist das inzwischen auch kein Thema mehr.

Bevor Wayne an diesem Morgen ins Büro fährt, erinnert Eileen ihn daran, dass sie das Ehepaar Finch zum Abendessen eingeladen haben. Er soll deshalb spätestens um 18 Uhr zu Hause sein.

Am Abend kommen Eva und Tom Finch (Diana Scarwid, Larry Pine), wie verabredet. Eileen muss ihren Mann entschuldigen. Er bleibt aus und hat nicht einmal telefonisch abgesagt. Im Büro ist er nicht, und unter der Nummer seines Handys erreichte Eileen nur die Mailbox. Als Eva und Tom Finch gegangen sind, ruft Eileen die Polizei an und meldet Wayne als vermisst.

Tim Hayes (Alessandro Nivola) kommt, um seiner Mutter beizustehen. Kurz nach ihm reist auch seine Schwester Jill (Melissa Sagemiller) an, und schließlich holt er auch seine Frau Lane (Sarah Koskoff) und den kleinen Sohn Oscar nach.

Eileen erhält einen Brief des Erpressers mit den Autoschlüsseln ihres Mannes. Der Wagen wird irgendwo gefunden: unbeschädigt und abgeschlossen.

Der FBI-Agent Ray Fuller (Matt Craven) leitet die Ermittlungen und richtet sich in der Villa des Entführten ein. Als Eileen am nächsten Morgen aus dem Schlafzimmer kommt, sitzt er beim Frühstück. Während der Vernehmungen fragt er Eileen nach Kontaktpersonen ihres Mannes, unter anderem auch nach seiner früheren Sekretärin Louise Miller (Wendy Crewson). Eileen sagt ruhig, dass ihr Mann mit der Frau eine Affäre hatte. Erst jetzt erfährt sie, dass die beiden auch nach der Beendigung des Arbeitsverhältnisses im Juni 2001 weiterhin regelmäßig miteinander telefonierten.

Eileen bekommt ein Band geschickt. Beim Abspielen hört sie ihren Mann sagen: „Eileen, es geht mir gut.“ Fuller rät ihr, den Erhalt des Bandes mit einer Kleinanzeige in der Zeitung zu bestätigen, so wie es der Entführer verlangt, aber zugleich eine Lösegeldforderung zu erwähnen. Auf diese Weise sollen dem Verbrecher, der noch keine Forderung gestellt hat, Trittbrettfahrer vorgetäuscht werden. Fuller hofft, ihn dadurch aus der Reserve locken zu können.

Obwohl Eileen verzweifelt ist, besteht sie darauf, den ersten Geburtstag ihres Enkels Oscar zu feiern.

Erst nach Tagen trifft eine Lösegeldforderung ein. Der Erpresser verlangt 10 Millionen Dollar: 9,5 Millionen in kleinen Diamanten und eine halbe Million in bar. Innerhalb von drei Tagen soll Eileen das Geld und die Edelsteine besorgen. Als sie auf Fullers Rat hin um ein Lebenszeichen ihres Mannes bittet, erhält sie ein Paket mit seiner Brille und einem Fläschchen Blut. Die Laboranalyse ergibt, dass das Blut einige Tage alt ist.

Dennoch hält Eileen sich an die Forderungen des Erpressers und fährt mit dem Geld und den Diamanten in einer Sporttasche ihres Mannes zu einem Hotel. In der Halle erhält sie einen Anruf des Verbrechers. Er beschwert sich über die angeblich überall lauernden FBI-Agenten und herrscht sie an, zu einer U-Bahn-Station in der Nähe zu gehen. Dort soll sie ihr Handy wegwerfen. Ein FBI-Agent beschattet sie, schafft es jedoch nicht mehr in den Zug, mit dem sie wegfährt. Eileen wird zu einem Parkhaus geschickt. Dort steht ein Wagen für sie, und im Handschuhfach findet sie ein Handy. Der Erpresser lotst sie in einer abgelegenen Gegend auf eine Brücke über einen Feldweg und fordert sie auf, die Tasche übers Geländer zu werfen. Eileen verlangt zuerst noch ein Lebenszeichen ihres Mannes. Übers Handy hört sie ihn „Eileen“ sagen. Sie lässt die Tasche von der Brücke fallen und fährt weiter.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Erst jetzt erinnert sie sich an das Band, das sie vor einer Woche bekam und begreift, dass sie gerade nichts anderes als den Anfang der alten Aufnahme gehört hat. Entsetzt kehrt sie zur Brücke zurück, lässt das Auto stehen, sucht nach der Tasche und ruft verzweifelt nach ihrem Mann. Aber die Tasche ist weg, von ihrem Mann fehlt jede Spur, und dann fährt jemand mit dem auf der Brücke abgestellten Auto weg.

–   –   –

An dem Morgen, an dem Wayne seine Frau zum letzten Mal sah, hielt er noch einmal mit dem Wagen an, weil die Zeitung mitten auf der Zufahrt lag. Da klopft jemand ans Seitenfenster. Wayne erkennt den Mann zunächst nicht, aber dieser nennt seinen Namen – Arnold Mack (Willem Dafoe) – und erinnert ihn daran, dass sie sich zwölf Jahre zuvor begegneten. Arnold war damals ein kleiner Angestellter in einer Firma, die Wayne kurz danach verließ, um sein eigenes Unternehmen zu gründen. Jetzt gibt Arnold ihm ein Kuvert mit Fotos von Eileen am Pool, die jemand heimlich geknipst haben musste. Dass Wayne dadurch abgelenkt ist, nutzt Arnold, um die Beifahrertüre aufzureißen und mit einer Pistole in der Hand in den Wagen zu springen.

Nach kurzer Fahrt fesselt Arnold sein Opfer und zwingt Wayne, eine Nachricht für seine Frau in ein Mikrofon zu sprechen. „Eileen, es geht mir gut.“ Arnold zieht den Schlüssel ab und verschließt Waynes Limousine, bevor er ihn zwingt, sich in den Kofferraum eines anderen Wagens zu legen. Er fährt zu einem Bergwald und holt dort das Entführungsopfer aus dem Kofferraum.

Wie viel Lösegeld er erpressen wolle, fragt Wayne. Der Geschäftsmann ist schwierige Verhandlungen gewohnt, aber Arnold lässt ihn ins Leere laufen, indem er ihm erklärt, er habe nichts zu bestimmen, sondern führe nur gegen Bezahlung die Anordnungen einer Bande aus. Seine Aufgabe sei es, Wayne zu einer Berghütte zu bringen. Sobald er ihn dort abgeliefert habe, werde er wieder verschwinden.

Wayne bezweifelt, dass man ihn gegen ein Lösegeld freilassen wird. Immerhin kennt er einen der Täter.

Dennoch hofft Wayne auch weiterhin, Arnold beeinflussen zu können. In seinem Berufsleben gelang es ihm mehrmals, in scheinbar aussichtslosen Situationen einen Ausweg zu finden. Um Ansatzpunkte dafür zu suchen, verwickelt er Arnold immer wieder in Gespräche. So erfährt er, dass dieser seit acht Jahren arbeitslos ist und aus finanziellen Gründen mit seiner Frau Cindy (Elizabeth Ruscio) und den beiden Töchtern bei den Schwiegereltern leben muss. Mit der von den Auftraggebern gut bezahlten Entführung, sagt Arnold, wolle er sich aus der Misere herausarbeiten. Er erklärt Wayne, man müsse sich das scheinbar Unmögliche nur so klar wie möglich vorstellen. So habe er es auch bei der Planung der Entführung gemacht.

Als ein Handy klingelt, erschrickt Arnold und schlägt Wayne nieder. Offenbar übersah er das Gerät bei der Durchsuchung des Entführten. Es dauert einige Minuten, bis er es findet. Dann wirft er es auf den Boden und zertritt es.

Schließlich erreicht Wayne, dass er eine Liebeserklärung für seine Frau auf einen Zettel schreiben darf, und Arnold verspricht ihm, Eileen den Zettel zu schicken.

Einmal gelingt es Wayne, ein Stück wegzulaufen und sich zu verstecken. Arnold sucht ihn, und als er zu dem Versteck kommt, stürzt Wayne sich auf ihn. Trotz der gefesselten Hände ringt er ihn nieder und würgt ihn, aber bevor Arnold erstickt ist, lässt Wayne ihn los und lehnt sich erschöpft gegen einen Baumstamm. Arnold kommt zu sich, sucht seine Pistole und übernimmt wieder die Kontrolle.

–   –   –

Einige Zeit später. Arnold wohnt mit seiner Familie noch immer bei den Schwiegereltern. Er solle nicht vergessen, den Müll runterzubringen, rufen sie ihm nach, als er einkaufen geht. Unterwegs wirft er ein Kuvert mit dem von Wayne beschriebenen Zettel in den Briefkasten. Im Foodland-Supermarkt will er mit einem 100-Dollar-Schein bezahlen. Die Kassiererin (Audrey Wasilewski) ist nicht befugt, so große Scheine zu akzeptieren. Der herbeigerufene Manager Larry Schmid (Tom Arcuragi) nimmt die Banknote mit ins Büro, vergleicht die Seriennummer mit den Angaben auf einer Liste, ruft die Polizei an und weist darauf hin, dass in den letzten Tagen mehrmals 100-Dollar-Noten aus dem Lösegeld für Wayne Hayes aufgetaucht seien und nun erneut jemand mit so einem Schein bezahlen wolle. Dann kehrt er zur Kasse zurück und tut so, als sei alles in Ordnung. Arnold geht, dreht sich aber am Ausgang noch einmal um und blickt zurück. Offenbar ahnt er, dass der Manager die Polizei alarmierte.

Eileen steht während Arnold Macks Vernehmung durch Ray Fuller hinter einem Einwegspiegel. Der Täter gibt zu, Wayne noch am ersten Abend im Bergwald erschossen zu haben. Fuller vermutet, dass er es wegen seiner Schuldgefühle auf seine Verhaftung angelegt habe. Anders kann er sich nicht erklären, dass der sonst so planmäßig und umsichtig handelnde Mörder mehrmals mit auffälligen 100-Dollar-Scheinen aus dem Lösegeld im selben Supermarkt bezahlte.

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Bei „The Clearing“ / „Anatomie einer Entführung“, der ersten Regiearbeit des niederländischen Filmproduzenten Pieter Jan Brugge (* 1955), handelt es sich um eine Mischung aus Thriller und Ehedrama. Pieter Jan Brugge entwickelt die Geschichte im Wechsel von zwei Handlungssträngen. Wie intelligent diese Parallelmontage gestaltet ist, lässt sich schon bald ahnen, klar wird dies jedoch erst kurz vor dem Ende, wenn wir begreifen, dass wir auf unsere Sehgewohnheiten hereingefallen sind.

In einem der beiden Handlungsstränge folgen wir dem Entführer und seinem Opfer. Ein arbeitsloser Verlierertyp hat einen erfolgreichen Selfmade-Unternehmer in seine Gewalt gebracht. Der gibt jedoch nicht so schnell auf, sondern vertraut darauf, die scheinbar ausweglose Situation durch sein Verhandlungsgeschick und seine Manipulationstechniken retten zu können. Damit hat der Verbrecher allerdings gerechnet, und weil er weiß, dass er dem erfahrenen Unternehmer verbal nicht gewachsen wäre, dachte er sich eine wirksame Abwehrmaßnahme aus (die an dieser Stelle nicht verraten wird).

Das spannende Psychoduell wird von Robert Redford und Willem Dafoe überzeugend und facettenreich gespielt.

Im anderen Teil des Films „Anatomie einer Entführung“ beobachten wir die Ehefrau des Entführten, eine Dame, die selbst in dieser entsetzlichen Lage darauf achtet, nicht die Contenance zu verlieren und sich trotz ihrer Verzweiflung nicht gehen lässt. Verkörpert wird sie von Helen Mirren, und die britische Schauspielerin beweist wieder einmal ihr außergewöhnliches Können: Mit kaum merklichen Gesten und nuancierten Veränderungen der Mimik drückt sie aus, was in der Filmfigur vorgeht.

In beiden Handlungssträngen dreht sich „Anatomie einer Entführung“ um die Ehe des Unternehmers Wayne Hayes und seiner Frau Eileen. Nachdem sich die durch einen Seitensprung Waynes vor ein paar Jahren ausgelösten Wogen wieder geglättet haben, wird die Beziehung der beiden älteren Menschen durch Gewohnheiten geprägt. Erst in der Ausnahmesituation der Entführung merkt Wayne, wie sehr er seine Frau noch immer liebt.

Kinogänger, die lieber rasante Verfolgungsjagden und spektakuläre Action-Szenen mögen, könnten sich bei „Anatomie einer Entführung“ langweilen. Pieter Jan Brugge verzichtet nämlich auf jegliche Effekthascherei, nimmt sich Zeit für einen sorgfältigen Handlungsaufbau und setzt auf Dialoge. Gerade deshalb ist „Anatomie einer Entführung“ zugleich ein spannender Thriller und ein unter die Haut gehendes Ehedrama.

Zwei reale Entführungsfälle regten Pieter Jan Brugge zu diesem Film an: Im „Deutschen Herbst“ 1977 wurde Hanns Martin Schleyer, der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, entführt, und während die Angehörigen noch immer hofften, dass er am Leben blieb, hatten die Täter ihn bereits erschossen. Noch deutlicher sind die Parallelen zum Fall Gerrit Jan Heijn.

Gedreht wurde „Anatomie einer Entführung“ in Atlanta/Georgia, Pittsburgh/Pennsylvania und Asheville/North Carolina.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2013

Gerrit Jan Heijn (Entführungs- und Mordfall)

Herta Müller - Herztier
Herta Müller schildert die trostlose Geschichte nicht chronologisch zusammenhängend, sondern in viele kurze Impressionen zerhackt. "Herztier" liest sich wie ein Prosagedicht.
Herztier