Truman Capote : Sommerdiebe

Sommerdiebe
Originalausgabe: Summer Crossing Random House, New York 2005 Sommerdiebe Übersetzung: Heidi Zerning Kein & Aber, Zürich 2006 Taschenbuch: Wilhelm Goldmann Verlag, München 2008 ISBN: 978-3-442-46482-1, 156 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Eine unkonventionelle Siebzehnjährige aus einer privilegierten Familie verbringt erstmals allein den Sommer in New York. Eine Affäre mit einem Mann aus dem Arbeitermilieu verhilft ihr zu ausgelassener Lebensfreude. Ihr standesgemäßer Freund aus Kindertagen hat sich aber nun auch in sie verliebt. Wie wird sie sich entscheiden?
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Kritik

Trotz des ernsten Themas erzählt Truman Capote die Geschichte im Plauderton, ohne oberflächlich zu sein. Amüsant sind die originellen, einfallsreichen Metaphern in "Sommerdiebe".
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Grady ist siebzehn Jahre alt, ein burschikoses Mädchen mit roten Haaren. Ihr unkonventionelles Verhalten passt eigentlich nicht zu dem sozialen Status ihrer Familie. Ihr Vater Lamont McNeil ist in der Finanzbranche reich geworden, und Lucy, die Mutter, stammt aus einer angesehen Familie in den Südstaaten. Sie wohnen am Central Park. Apple, die acht Jahre ältere Schwester Gradys, ist bereits verheiratet und mit ihrem Mann George nach East Hampton gezogen. Die größte Sorge der Mutter ist im Augenblick, das richtige Abendkleid für Grady zum Debütantinnenball zu finden. Lucy hat aber schon eine Idee: Diesen Sommer fährt das Ehepaar mit dem Schiff nach Europa, wo sie sich auch in Paris aufhalten werden, und dort wird Mrs McNeil die Anfertigung des Ballkleids bei einem Schneider in Auftrag geben. Und wenn sie dann schon mal in Frankreich sind, werden sie auch in ihrem Ferienhaus in Cannes vorbeischauen.

Zum ersten Mal wird Grady den Sommer allein in New York verbringen. Ihrer Mutter ist nicht recht wohl bei diesem Gedanken. Die Familie verlässt gerade ein Restaurant, wo sie vor dem Einschiffen alle noch einmal beieinander saßen, als ihnen Peter Bell zufällig über den Weg läuft. Der Jurastudent ist ein guter Freund von Grady, und er fragt, ob er auf der Queen Mary beim Abschiedstrunk mit dabei sein dürfe.

Warum er nicht in Cambridge sei, wundert sich Grady. Nun, die Universität habe ihn gerade rausgeschmissen, bemerkt Peter eher beiläufig. Sie plaudern noch ein wenig miteinander und da sie sich länger nicht sahen, versuchen sie herauszufinden, wo sie in ihrer Beziehung stehen. Grady war ihm schon während der Kindheit schützend beigestanden. Später schätzte sie seine Wortgewandtheit und amüsierte sich über seine Anekdoten. Peter hatte sich immer bemüht, von allen gemocht zu werden, wohingegen Grady darauf keinen Wert legte. Dieses Gefühl des Unbeliebtseins bedrückte ihn sein ganzes Leben. Und was empfindet er jetzt?

„Ich bin froh über dich“, sagte er unerklärlicherweise, aber mit solch einem Schwall von Wärme, dass Grady die Wange an sein Gesicht drückte. „Wenn ich sagen würde, ich liebe dich, dann wäre das inzestuös, nicht wahr, McNeil?“ (Seite 26) [Peter nennt sie nie bei ihrem Vornamen.]

Von Deck winkt Lucys Mutter ihren Töchtern mit tränenverschwommenen Augen nach und macht sich Vorwürfe, ihr Mädchen, die kleine Grady, allein zurückgelassen zu haben.

Immer wenn Grady mit dem Auto in die Stadt fährt, stellt sie es auf einem Parkplatz in einer Seitenstraße des Broadway ab. Dort lernte Grady im April Clyde Manzer kennen, den Parkplatzwächter. Sie interessierte sich wohl gerade deshalb für diesen Burschen, weil man in ihren Kreisen so einen Mann nicht akzeptieren würde. Mit seinem durch die Arbeit im Freien wettergebräunten Gesicht und den geschmeidigen Bewegungen strahlt der Dreiundzwanzigjährige eine stolze Männlichkeit aus; auch die schwarzen kleingelockten Haare und seine leicht gebrochene Nase tragen dazu bei.

Clyde ist nicht ihr erster Geliebter. Mit sechzehn hatte sie ein Verhältnis mit Steve Bolton, einem verheirateten Rechtsanwalt, der in einer Kanzlei arbeitete, die für ihren Vater tätig war. Sie half dem Ehepaar Bolton bei der Haussuche und beim Umzug. Da Mrs Bolton schwanger war, ging sie ihr im Haushalt zur Hand. Zufällig kam sie dazu, als die Geburt zu früh einsetzte und arrangierte die Fahrt ins Krankenhaus. Dort wartete sie zusammen mit Steve bis das Kind geboren war.

[…] ich bin ein sehr glücklicher Mann, sagte er. Das war es, mehr wollte sie von ihm nicht, die Sehnsüchte des Sommers waren vergangen zu Wintersamen […] (Seite 39)

Grady lädt Clyde in ein Selbstbedienungsrestaurant neben dem Zoo ein. Sie kennt das Lokal zur Genüge, denn die Wohnung der McNeils liegt direkt gegenüber. Aber für ihren Freund wäre es wahrscheinlich etwas Neues, im Freien zu essen, und sie erwartet von ihm, mehr über sein persönliches Umfeld zu erfahren. Sie weiß zwar, dass sein verstorbener Vater Polizist war und Clyde mit seiner Mutter, zwei Schwestern und einem jüngeren Bruder irgendwo in Brooklyn wohnt, aber über seine Freunde erzählte er bisher nichts. Überhaupt ist er sehr verschlossen. Seine allgemeine Gleichgültigkeit und sein mangelndes Interesse, wenn sie ihm etwas erzählt, fallen ihr negativ auf.

Sie meint, dass er ihre Verliebtheit eigentlich erkennen müsste, aber ihr Geständnis wahrscheinlich lieber nicht hören würde. Am Ende der Mahlzeit hat er es plötzlich eilig. Er müsse bald nach Hause, das habe er vergessen, ihr zu sagen. Grady ist verärgert, weil er damit ihre Pläne durchkreuzt. Sie versucht, ihn damit zu ködern, dass sie ihre Wohnung für sich allein hätten und sie ihm abends gerne etwas kochen würde. Clyde erklärt ihr, dass sein kleiner Bruder Bar-Mizwa habe, und er bei der Feier dabei sein müsse. Grady wusste nichts von seiner Glaubenszugehörigkeit, und sie stört sich auch nicht daran. Aber der Ton, in dem er ihr sagt, dass er Jude sei, und sie davon nur beiläufig erfährt, macht sie wütend.

„Tja“, begann sie langsam. „Und was soll mich das kümmern? Das kümmert mich nämlich nicht, weißt du.“
„Was verdammt meinst du mit kümmern? Was verdammt bildest du dir ein, wer du bist? Kümmre dich um dich selber. Ich bin nichts für dich.« (Seite 54)

Gekränkt läuft Grady weg. Als Clyde sie nach ein paar Minuten einholt, ist ihr Zorn verflogen.

„Du bist etwas für mich, Clyde; und mehr als das. Aber ich kann es nicht entdecken, weil wir anscheinend nie über dieselben Dinge reden.“ (Seite 55)

Immerhin reicht die Zeit für einen kurzen Rundgang durch den Zoo.

Das Raubtierhaus im Zoo hat einen aufreizenden Geruch, eine Luft, durchpirscht von Schlaf, räudig von altem Atem und toten Gelüsten. Eine Komödie in trauriger Tonart, das ist die liederliche Löwin, die in ihrem Käfig ruht wie eine Filmkönigin mit stummem Ruhm; und einen ungeschlachten, grotesken Anblick bietet ihr Partner, der ins Publikum blinzelt, als könnte er eine Bifokalbrille brauchen. (Seite 55)

Clyde geht dann doch mit ihr in die Wohnung. Er steht verlegen in ihrem Zimmer herum, zieht sich aus, und Grady führt ihn zum Bett.

Peter Bell ist mit Grady am Abend in einem Club verabredet. Grady entschuldigte sich kurz zum Frischmachen, aber nun sitzt Peter schon eine halbe Stunde allein an der Bar und wartet auf ihre Rückkehr. Er befürchtet, sie sei nach Hause gegangen, weil er sich nicht begeistert zeigte, als sie ihm „die Wunder der Liebe“ beschrieb. Soviel hat er verstanden, dass sie verliebt ist, auch wenn ihn das rasend macht. Sie hat doch nicht etwa vor, den Betreffenden zu heiraten? Das wagt er nicht zu fragen.

Peter Bell weiß nun, dass er in Grady verliebt ist. Es ist ihm aber auch bewusst, dass sie ihm schon immer überlegen war und er ihr eigentlich nichts zu bieten hat: Also wäre Leidenschaft zwischen ihnen unwahrscheinlich. Da kommt Grady zurück. Es fällt nicht nur Peter auf, wie hinreißend sie aussieht. Viele Leute drehen sich nach ihr um, wissen sie doch auch, dass sie die Tochter eines prominenten Vaters ist.

Es gab einige wenige, deren Augen sie aus einem anderen Grunde fesselte: und das war, weil diese wenigen in ihrer Aura eigenwilligen und privilegierten Zaubers spürten, dass sie ein Mädchen war, dem etwas widerfahren würde. (Seite 63)

Als Peter und Grady von der Tanzfläche an ihren Tisch zurückkommen, bittet ein Reporter darum, ein Foto machen zu dürfen. Außerdem möchte er sich notieren, um wen es sich bei Gradys Partner handelt. Peter sagt, er sei Walt Whitman. Ist das nicht jemand, der alt oder tot oder berühmt ist, fragt der Reporter verunsichert, also Walt Whitman der Zweite sozusagen, sicherlich ein Enkel?

Eine Woche später ist Clyde bei Grady wieder einmal in der Wohnung. Es hat sich eingebürgert, dass er drei, vier Mal die Woche dort übernachtet. Er schläft in Lucys Zimmer, das man nach seinem Aufenthalt beschönigend als unaufgeräumt bezeichnen würde. Clyde fühlt sich in der vornehmen Umgebung nicht wohl, weil er merkt, dass er dort nicht hinpasst. Grady versucht sich an der Zubereitung eines Kuchenteiges, als er in der Zeitung auf das Foto von Peter und Grady stößt. Unterschrift:

Debütantin Grady McNeil, die Tochter des Finanzmagnaten Lamont McNeil, und ihr Verlobter, Walt Whitman der Zweite, in privatem Gespräch im Atrium Club. Whitman ist ein Enkel des berühmten Dichters. (Seite 80)

Ob dieser Bursche wirklich ihr Verlobter sei, möchte Clyde wissen. Als Glady ihm sagt, dass Peter ein alter Freund ist, platzt er mit einem Geständnis heraus: „Kann sein, du weißt es noch nicht. Kann sein, das ist für dich neu: aber ich bin verlobt.“ Als er während der Militärzeit in Deutschland war, schickte er Rebecca einen Ring – „wenn das heißt, verlobt zu sein“ –, weil sie ihm jeden Tag schrieb und seine Mutter sie auch für ein nettes Mädchen hält.

Das Läuten des Telefons kommt Grady gerade recht, sie aus der Verlegenheit zu erlösen. Ihre Schwester Apple ist im Apparat. Sie hat das Zeitungsfoto entdeckt und wirft Grady wutentbrannt vor, ihre ganze Familie zu ruinieren. Grady kann ihre Schwester etwas besänftigen: Am nächsten Morgen werde sie zu ihr für eine Woche nach East Hampton kommen.

Eine Heirat ist etwas für Erwachsene, und deshalb ist noch Zeit für eine Entscheidung, überlegt Grady. Aber war Clyde nicht schon zu sehr und zu lange ein Teil von ihr? Sie wünscht, er wäre tot. Aber wodurch wäre so ein Todesurteil gerechtfertigt?

[…] dass er sich verlobt hatte, war kein Verbrechen, sondern sein gutes Recht: welchen Anspruch hatte sie überhaupt auf ihn? Es gab keinen, den sie geltend machen konnte; denn sie hatte, uneingestanden, […] immer eine Vorahnung von Kürze gehabt, ein Wissen, dass er sich nicht in die Alltagskleidung ihrer Zukunft hineinschneidern ließ: aus eben diesem oder fast diesem Grund hatte sie beschlossen, ihn zu lieben […] (Seite 84)

Clyde hört sich in der Küche immer noch ein Baseballspiel im Radio an und beißt geistesabwesend auf seinen Nägeln herum. Grady tritt auf ihn zu und lässt sich zu einer Bösartigkeit hinreissen: Sie hält ihm eine Puderdose unter die Nase, die sie in ihrem Auto fand. Sie weiß, dass Clyde manchmal ihren auf dem Parkplatz abgestellten Wagen benutzt; er wird wohl mit seiner Rebecca damit herumgefahren sein.

(Grady weiß allerdings nicht, dass die Puderdose nicht von Rebecca ist. Die Puderdose gehörte Clydes jüngster Schwester Anna. Er nahm sie einmal in Gradys Auto mit, und da fiel sie ihr wohl aus der Tasche. Anna lebt nicht mehr: Sie stürzte nach dieser Autofahrt bei der Rückkehr ins Haus von der Treppe.)

Um die nervenzerreißende Situation zu entspannen, schlägt Clyde vor, sich einen Film anzuschauen. Als sie aus dem Kino kommen, ist es immer noch sehr heiß. Grady hatte bisher noch nie einen Sommer in der Großstadt verbracht und das Spiel der wechselnden Farben der Neonlichter erlebt. Vor einem Blumenstand bleibt Clyde stehen und schickt Grady über die Straße, wo sie auf ihn warten soll. Als er sie dort abholt, hat er einen Strauß Veilchen in der Hand – sie ist sich sicher, dass er ihn gestohlen hat – und sie umarmen sich.

Zu Hause ruft Grady ihre Schwester an und sagt ihren angekündigten Besuch ab. Clyde fährt mit ihr nach Red Bank in New Jersey, wo sie gegen zwei Uhr morgens heiraten.

An einem Sonntag stellt Clyde Grady seiner Mutter und den Schwestern vor. Da man Grady zu erkennnen gibt, dass sie nicht zur Familie passt, und sie begutachtet und ausgehört wird, fühlt sie sich nicht wohl.

Denn die Manzers waren in der Tat eine Familie: die abgestandenen Düfte und die abgenutzten Möbel ihres Hauses rochen stark nach einem gemeinsamen Leben und einer Eintracht, die kein Aufruhr sprengen konnte. Es gehörte ihnen, dieses Leben, diese Zimmer; und sie gehörten einander, und Clyde war weit mehr ihr Eigentum, als er wusste. (Seite 105)

Als sie Clyde verstohlen auffordert, von ihrer Hochzeit zu erzählen, winkt er ab. Peinlich wird es, als eine der Schwestern auf Rebecca zu sprechen kommt, die sich beschwerte, dass Clyde sich so selten bei ihr sehen lässt. Wäre Grady jetzt gegangen, hätte sie sich eine unliebsame Szene ersparen können: Es läutet an der Haustür und Rebecca kommt. Clyde rastet aus, weil er eine hinterhältige Absprache seiner Schwestern vermutet. Er sagt ganz einfach: „das ist meine Frau“, und dass er nie wieder einen Fuß in dieses Haus setzen würde. Seine Schwester Ida behauptet, er habe seine Mutter geschlagen, aber Clyde kann sich daran nicht erinnern und glaubt, sie unterstelle ihm das, um alles noch schlimmer zu machen.

Grady läuft dann weg und wartet seither auf den von Clyde angekündigten Anruf. Wahrscheinlich steckt er in Schwierigkeiten, und ruft deshalb nicht an, tröstet sie sich. Stattdessen klingelt Peter an der Tür, was ihr in diesem Augenblick nicht passt; was wäre, wenn Clyde jetzt käme. Peter möchte bei ihr duschen, weil er gerade von einer heißen Eisenbahnfahrt zurückkommt. Er ist braun gebrannt von einem Strandurlaub. Da fällt ihm Gradys blasse Hautfarbe besonders auf. Es sei ihr nicht besonders gut gegangen, sagt sie, wegen der Hitze in der Stadt wahrscheinlich. Gestern sei sie sogar ohnmächtig geworden. Peter hört das unter der Dusche nicht. Leider habe er am Abend eine Verabredung mit jemandem, der ihm vielleicht zu einer Stellung verhilft, kündigt er an, und könne deshalb nicht bleiben. Als sie miteinander auf der Couch etwas trinken, malt er sich aus , wie seine Zukunft aussehen könnte, in der er Grady gerne als seine Ehefrau sehen würde. Grady bemerkt seine Nachdenklichkeit und fragt sich, ob er in sie verliebt ist.

[…] sie lauschte mit halbem Ohr, ob Clyde kam, wovor sie sich jetzt eher fürchtete, denn Peter würde sein Urteil über ihn fällen und sie zwingen, sich über das, was sie getan hatte, Rechenschaft abzulegen, und das brachte sie noch nicht übers Herz. (Seite 124)

Als Peter gegangen ist, zieht ein Gewitter auf. Stundenlang sitzt Grady in ihrem Zimmer und wartet auf Clyde. Er kommt nicht. Um Mitternacht steigt sie in ihr Auto, bei Sonnenaufgang erreicht sie das Meer.

Nach dem Tumult mit seiner Familie war Clyde erst einmal in die Bar gegangen, in der sein Freund Bubble arbeitet und fand für ein paar Tage bei ihm Unterschlupf. Vielleicht ist Grady beleidigt, weil er nicht gleich bei ihr angerufen hatte, überlegte er, aber manchmal muss man eben auch allein sein dürfen. Wenn sie weiter mit ihm verheiratet bleiben wollte, dann musste er sie aus ihrer Wohnung holen. Er hat auch schon eine Zweizimmerwohnung im Visier. Seine wiederholten Telefonanrufe bei Grady waren vergebens, es meldete sich niemand.

An einem der Abende trieb er sich mit seinem Freund Gump in der Stadt in den Bars herum. Am Ende der Trinktour schleppte Gump seinen Kumpel zu einem Tätowierer, der Clyde am Handgelenk G–R–A–D–Y einritzte. Die Buchstaben brannten ihn noch am nächsten Tag.

Clyde fuhr zum Wohnhaus der McNeils. Vom Portier wurde er abgewiesen: Miss McNeil sei nicht zu Hause und habe auch keine Nachricht hinterlassen. Vom Liftboy erfuhr er, dass Gradys Post zu ihrer Schwester nach East Hampton weitergeleitet wird.

Jeden Morgen nach dem Frühstück geht Grady mit einem Lunchpaket ans Meer. Sie mag nicht unter Menschen sein, und traut sich auch nicht ins Wasser zu gehen. Von Apple wurde sie schon wegen ihrer Eigenbrötelei gerügt: sie solle sich von einem Arzt helfen lassen. Einen Arzt hatte sie schon aufgesucht, aber aus einem anderen Grund. Grady ist in der sechsten Woche schwanger. Ein Brief der Eltern kündigt deren Rückkehr für Oktober an. Und Grady solle sich freuen, „ihr Kleid ist fantastischer als ein Traum geworden, einfach unglaublich“. Sie wird dieses Kleid nie tragen, soviel ist ihr jetzt klar.

[…] wenn sie also fragt: was habe ich getan?, meint sie im Grunde: was tue ich da eigentlich? […] (Seite 136)

Gradys Neffe hat Geburtstag und sie versprach, die Kinderspiele zu organisieren. Sie vergaß aber, sich darum zu kümmern. Als sie vom Strand zurückkommt, erkundigt sie sich bei Apple wie das Fest läuft. Johnnylein weint sich die Augen aus, weil sie die Kinder nach Hause schicken musste, wirft Apple ihrer Schwester vor. Grady will sich das nicht anlasten lassen; warum sie ihr Angst mache? Es ist eher umgekehrt mit der Angst, kontert Apple: „Wer ist Clyde Manzer?“ Warum sie das wissen wolle, stottert Grady. Weil sie vor zwanzig Minuten erfahren habe, dass er ihr Ehemann sei, und zwar von ihm selbst!

Zuerst will Grady den Auftritt Clydes als einen von Peter arrangierten Scherz hinstellen, aber Apple fällt darauf nicht herein. Dann gibt Grady zu: Clyde arbeitet auf einem Parkplatz; im April lernte sie ihn dort kennen und vor knapp zwei Monaten heirateten sie. Apple setzt voraus, dass niemand etwas davon weiß, und es soll auch keiner etwas davon erfahren. Da Grady noch nicht volljährig ist, wird die Ehe nicht rechtsgültig sein, vermutet Apple. George wird wissen, was zu tun ist. Der kommt gerade vom Strand zurück. Grady fleht ihre Schwester an, dem Schwager nicht die Wahrheit zu sagen. Sie erbittet sich drei Wochen, um alles in Ordnung zu bringen.

Clyde und Gump warten in einem Restaurant am Strand auf sie. Im Lokal will sie mit Clyde nicht reden. Deshalb fahren sie mit Gradys Auto weg, Richtung New York.

Nicht, dass sie sich vorgenommen hatte, kalt zu sein; eher hatte sie sich gar nichts vorgenommen, empfand nur wenig, bis auf, vielleicht, eine zusammengestürzte, eingeebnete Gleichgültigkeit. (Seite 142)

Alle sind müde. Zum Wachmachen zündet Gump eine Haschzigarette an und zeigt Grady, wie sie damit umgehen muss. Clyde protestiert zwar, aber schließlich rauchen sie alle. Dann zaubert Clyde ein Geschenk für Grady hervor: Eine Pfefferminzbonbontüte mit einem toten Schmetterling drin. Das findet Grady so komisch, dass sie sich vor Lachen nicht mehr halten kann. Die Heiterkeit steckt alle an, so dass sich der Fahrer nicht mehr auf die Straße konzentriert. Ein Junge auf einem Fahrrad kann sich vor ihnen nur durch einen Sprung in eine Hecke retten. Aber selbst wenn sie den Jungen überfahren hätten, würden sie mit dem Gelächter nicht aufhören können, so lustig war alles.

Als Grady die Silhouette New Yorks im roten Dunst auftauchen sieht, hat sie Lust zu Tanzen. In einer Seitenstraße in den East Thirties ist der Club, in dem Bubble an der Bar steht. Grady könne er nicht hereinlassen, warnt er seinen Freund, die sei ja völlig zugedröhnt. Sie lässt es sich aber nicht nehmen, mit Clyde auf die Tanzfläche zu gehen. Da Grady nicht zu bewegen ist, das Lokal zu verlassen, wird sie im Auftrag Bubbles von der Gitarristin der Band aufgefordert, ihr auf die Toilette zu folgen. Wegen eines bekifften Gastes will man nicht riskieren, dass die Bar geschlossen wird; am Tresen lauert schon ein Beamter der Aufsichtsbehörde.

An der Theke steht ein braun gebrannter junger Mann in einem Leinenanzug, der nun auf auf Grady zugeht. „Hol deine Sachen, McNeil“, fordert er sie auf. Clyde wird ärgerlich, aber Grady beruhigt ihn, das sei bloß Peter. Als Peter sie vom Tisch wegführen will, springt Clyde auf und schlägt ihm mit der Faust ins Gesicht. Bei dieser Gelegenheit bemerkt Grady erstmals die eintätowierten Buchstaben auf Clydes Handgelenk. Sie ist gerührt, dass Clyde sich ihretwegen verletzte. Die Gitarristin führt sie dann resolut ins Freie. Grady irrt in einer Seitenstraße herum und findet ihr Auto nicht. Dann blinzelt sie in ein Scheinwerferlicht eines ihr entgegenkommenden Wagens. Gump ist am Steuer. Sie steigt ein. Clyde sitzt im Fond; Peter auch, mit blutendem Gesicht. Dieser Anblick erschreckt Grady so, dass sie laut aufschreit. Sie glaubt, dass ihr Schrei nicht wahrgenommen wird, nicht einmal von den Männern im Auto.

Gump, Clyde und sogar Peter, sie waren aneinandergefesselt durch sprachlose, taube Verzückung – es lag Freude in dem stumpfsinnigen Krachen von Clydes Fäusten, und während das Auto mit quietschenden Reifen die Third Avenue hochschoss, Hochbahnpfeilern auswich und sich nicht um rote Ampeln scherte, starrte sie stumm vor sich hin, wie ein benommener Vogel, der gegen Wände und Glas geprallt ist. (Seite 149)

Das Auto kommt auf einer Brücke ins Schleudern, Gump schreit noch: „Verdammt, du wirst uns umbringen“, aber er kann ihre Hände nicht vom Lenkrad lösen. Sie sagt: „Ich weiß.“

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Von dem Sommer, den Grady erstmals allein, ohne ihre Eltern, in New York verbringen darf, verspricht sich die Siebzehnjährige viel. Sie will die Freiheit nutzen, um mit Clyde, den sie im Frühjahr kennen lernte, öfter beisammen zu sein. Außerdem bringt sich Peter, ihr Freund seit Kindertagen, wieder in Erinnerung. Dieser wurde gerade von der Universität geworfen und muss sich neu orientieren, wobei auch Grady für seine Zukunftspläne eine Rolle spielt. Der wortgewandte, extravagant gekleidete Intellektuelle würde von der sozialen Stellung her gut zu dem exzentrischen, ungestümen Mädchen passen, das sich zum Leidwesen ihrer wohlhabenden Familie nicht an Konventionen hält. Clyde hingegen, der als Parkplatzwächter arbeitet, kommt aus dem Arbeitermilieu und ist in seiner jüdischen Familie fest verwurzelt. Die Affäre mit einem starken Mann, den sie zu lieben glaubt und der ihr seine Aufmerksamkeit schenkt, lassen sie den Standesunterschied vergessen. Ihre spontan geschlossene Ehe halten sie geheim. Als Clyde Grady seiner Mutter vorstellt, endet der Besuch in einem handfesten Familienkrach, und die Beziehung zerbricht. Grady schlüpft bei ihrer Schwester unter, wo sie sich von ihrer Enttäuschung zu erholen versucht. Als dann Clyde dort auftaucht, um seine Frau abzuholen, nimmt die Geschichte eine tragische Wendung.

Die unterschiedlichen Charaktere der beiden Männer in „Sommerdiebe“ sind deutlich herausgearbeitet, ohne dass der Autor auf Klischees zurückgreift. Es kommt auch gut zum Ausdruck, dass Grady mit der Einschätzung der entstandenen Situation überfordert ist. Was die Geschichte aber besonders lesenswert macht, ist der scheinbar heitere Plauderton, der aber den Ernst des Themas nicht abwertet. Außergewöhnlich sind die originellen, einfallsreichen Metaphern in „Sommerdiebe“. Zum Beispiel wird die Hand einer dunkelhäutigen Frau so beschrieben: „Es war eine Hand, die sich wie ein teurer Handschuh anfühlte, aber die Finger waren lang und dick wie Bananen.“ (Seite 145)

Das Manuskript von „Sommerdiebe“ wurde erst 2004 entdeckt. Truman Capote hatte den Roman 1943 mit neunzehn Jahren zu schreiben begonnen. Vier Schulhefte und 62 lose Seiten mit Notizen wurden bei Sotheby’s, New York, abgegeben. Der anonyme Lieferant hatte den Pappkarton bei seinem Onkel gefunden. Dieser hatte sich während Capotes Abwesenheit um dessen Apartment gekümmert. Nach einer Reise hatte der Autor beschlossen, nicht mehr in die Wohnung zurückzukehren und aus der Ferne die Hausverwaltung beauftragt, allen Hausrat zu räumen und auf die Straße zu stellen. Jener Onkel hatte vor der Müllabfuhr einiges in Sicherheit gebracht und es bei sich aufbewahrt. Fünfzig Jahre lang, bis zu seinem Tod, waren die Hefte verschollen gewesen, bis der Neffe sie fand und bei dem Auktionshaus einlieferte. Da der Schätzwert sehr hoch und die Urheberrechte ungeklärt waren, ersteigerte niemand den Fund. Schließlich kaufte die New York Public Library das Manuskript. „Sommerdiebe“ ist also eine Neuentdeckung und gilt nun als Truman Capotes Debütroman.

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Inhaltsangabe und Buchkritik: © Irene Wunderlich 2008
Textauszüge: © Kein & Aber

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Unverstanden