Charlotte Salomon


Charlotte Salomon wurde am 16. April 1917 in Berlin als Tochter des späteren Chirurgie-Professors Dr. Albert Salomon (1883 – 1976) und dessen sieben Jahre jüngeren Ehefrau Franziska geboren. Im Ersten Weltkrieg hatte Franziska Grunwald als Krankenschwester in einem Lazarett in Frankreich gearbeitet und war dort 1915 dem Oberarzt Albert Salomon begegnet. Im Jahr darauf hatten sie geheiratet. Charlotte war acht Jahre alt, als ihre Mutter sich das Leben nahm. Dem Kind sagte man, sie sei an einer Krankheit gestorben. Vier Jahre später, im September 1930, heiratete ihr Vater die berühmte Mezzosopranistin Paula Lindberg (1897 – 2000).

Zu diesem Zeitpunkt besuchte Charlotte Salomon bereits das Fürstin-Bismarck-Gymnasium in Charlottenburg. Als jüdische Schülerinnen nach Hitlers Machtergreifung im Januar 1933 ausgegrenzt wurden, brach Charlotte Salomon die Schule im September 1933, ein Jahr vor dem Abitur, ab.

Weil sie die Aufnahmeprüfung im ersten Anlauf nicht bestanden hatte, wurde sie 1935 nur probehalber von den Vereinigten Staatsschulen für Freie und Angewandte Kunst (heute: Universität der Künste) in Charlottenburg aufgenommen. Aber nach dem ersten Semester, im Februar 1936, durfte sie sich trotz ihrer jüdischen Herkunft immatrikulieren. Der Kunstprofessor Ludwig Bartning setzte sich für sie ein und wies nicht zuletzt darauf hin, dass ihr Vater sich im Krieg als Frontkämpfer bewährt habe. Auch Paula Lindbergs neuer Musiklehrer Alfred Wolfsohn (1896 – 1962) bestärkte Charlotte Salomon in ihrer Absicht, sich als Künstlerin zu versuchen. Allerdings wurde ihr der erste Preis, den ihr die Jury bei einem Wettbewerb zunächst aufgrund der anonym eingereichten Arbeiten zugesprochen hatte, nach Aufdeckung ihrer Identität nicht verliehen. Frustriert brach Charlotte Salomon daraufhin ihr Studium im Wintersemester 1937/38 ab.

Ihrem Vater wurde die Lehrbefugnis entzogen, und er durfte nur noch im Jüdischen Krankenhaus praktizieren. 1938 sperrte man ihn vier Monate lang im KZ Sachsenhausen in Oranienburg nördlich von Berlin ein. Das überzeugte ihn von der Notwendigkeit, Deutschland zu verlassen. Charlotte hätte dafür nach ihrem 22. Geburtstag am 16. April 1939 einen Pass benötigt – der einer Jüdin allerdings nicht ausgestellt worden wäre. Im Januar 1939, einige Wochen nach dem Pogrom („Reichskristallnacht“), zog Charlotte Salomon zu ihren Großeltern, die seit 1934 an der Riviera lebten, zunächst bei der deutschstämmigen amerikanischen Witwe Ottilie Moore in der Villa L’Ermitage in Villefranche-sur-Mer, ab Frühjahr 1940 in der Villa Eugénie in Nizza.

Ein paar Wochen nach Charlottes Flucht emigrierten Albert Salomon und Paula Lindberg nach Amsterdam. Von dort wollten sie sich ebenfalls an die Riviera durchschlagen, aber sie steckten in den Niederlanden fest. Die Grenzen waren dicht. Bald konnten sie der Tochter auch keine Nachrichten mehr schicken.

Im Frühjahr 1940 erfuhr Charlotte Salomon, dass ihre Mutter am 22. Februar 1926 nicht an einer Grippe gestorben war, sondern sich aus einem Fenster gestürzt hatte. Auf die gleiche Weise starb Charlottes Großmutter im März 1940. Andere Verwandte hatten sich ebenfalls umgebracht, darunter beide Töchter der Großmutter: 1913 die 18-jährige Charlotte (deren Namen nun die Nichte trug), 1926 Franziska im Alter von 36 Jahren.

Charlotte Salomon und ihr verwitweter Großvater wurden von der Regierung des Marschalls Pétain im Sommer 1940 mehrere Wochen lang im Lager Camp de Gurs nordöstlich der Pyrenäen interniert.

Sie kamen zwar wieder frei und kehrten nach Villefranche zurück, aber sowohl die Ereignisse als auch die Enthüllungen über die vielen Selbstmorde in der Familie stürzten Charlotte Salomon in eine Krise. Um dagegen anzukämpfen, befolgte Charlotte Salomon den Rat des Arztes Dr. Georges Moridis und setzte sich künstlerisch mit ihrem Leben auseinander. Ende 1941 zog sie in das Hotel „La Belle Aurore“ in Saint-Jean-Cap-Ferrat, dessen Besitzerin Marthe Pécher der Künstlerin ein Zimmer zur Verfügung stellte, damit diese ungestört arbeiten konnte. Innerhalb von eineinhalb Jahren schuf Charlotte Salomon 1325 expressionistische Gouachen, die an Marc Chagall erinnern. Wie bei einem Comic arbeitete sie mit Bild und Text. Sie schrieb Figurenreden und autobiografische Erzählungen bzw. Kommentare über die Protagonisten Charlotte und Albert Kann, Franziska Knarre, deren Eltern, Paulinka Bimbam, Doktor Singsang, Professor Klingklang und Amadeus Daberlohn. Aus diesem Zyklus wählte sie schließlich 769 Blätter aus, nummerierte sie und schrieb Musiktitel dazu. Auf diese Weise entstand etwas wie ein gemaltes Theaterstück. Diesem originellen „Drei Farben Singespiel“ gab sie den Titel „Leben? oder Theater?“ Verblüffend sind die leichten Linien und freundlichen Farben dieser in einer düsteren Lebensphase entstandenen Bilder.

„Leben? oder Theater?“, wie sie ihr Werk vexierhaft nennt, ist einzigartig als biografisches Kunstwerk und modern in seiner Bildsprache. Nahsichten, angeschnittene Perspektiven und schnelle Bildfolgen scheinen vom Film inspiriert, andere Bilder sind comicartig abstrahiert und verkürzt. Texte sind farbig und ausdrucksstark in die Darstellungen gefügt, ebenso Musiktitel, um beim Betrachter die passenden Begleitmelodien heraufzurufen. (Margret Kampmeyer, Jüdisches Museum Berlin, Museums-Journal, Juli 2007)

Am 17. Juni 1943 – bald nach dem Tod ihres Großvaters – heiratete Charlotte Salomon den deutlich älteren Österreicher Alexander Nagler, der 1939 vor den Nationalsozialisten geflohen war und in Villefranche eine Affäre mit Ottilie Moore gehabt hatte, die inzwischen wieder in den USA lebte. Die Braut war bereits schwanger. Drei Monate nach der Hochzeit, am 21. oder 24. September, wurde das Ehepaar in der Villa L’Ermitage festgenommen. Über das Sammellager Drancy östlich von Paris deportierte man die beiden nach Auschwitz. Vermutlich wurde die schwangere 26-Jährige unmittelbar nach der Ankunft am 10. Oktober 1943 in die Gaskammer geschickt, denn der Name Charlotte Salomon steht auf keiner Liste. Alexander Nagler starb am 1. Januar 1944.

Paula Lindberg und Albert Salomon überlebten den Holocaust in den Niederlanden. 1947 reisten sie zu Ottilie Moore, die an die Riviera zurückgekehrt war und den ihr gewidmeten Zyklus „Leben? oder Theater?“ besaß, den Charlotte Salomon dem Arzt Georges Moridis in Villefranche anvertraut hatte. Charlotte Salomons Eltern nahmen das Kunstwerk mit nach Amsterdam. 1961 wurde es im (1993 geschlossenen) Museum Fodor erstmals öffentlich ausgestellt (Kurator: Ad Petersen). Albert Salomon stiftete alle 3125 Blätter am 20. November 1971 dem Joods Historisch Museum in Amsterdam. Der Zyklus kann auch auf der Website des Museums angeschaut werden: „Leben? oder Theater?“.

1992 wurde eine Schule in Berlin nach Charlotte Salomon benannt. Seit 2006 gibt es im Stadtteil Rummelsburg einen Charlotte-Salomon-Hain.

Der Franzose Marc-André Dalbavie (* 1961) komponierte die Oper „Charlotte Salomon“, die am 28. Juli 2014 bei den Salzburger Festspielen unter seiner musikalischen Leitung uraufgeführt wurde (Inszenierung: Luc Bondy). Dabei wurde die Protagonistin von der Schauspielerin Johanna Wokalek und der Sängerin Marianne Crebassa verkörpert. Für das Libretto hatte Barbara Honigmann Originaltexte von Charlotte Salomon übernommen.

Die US-Amerikanerin Michelle DiBucci schuf die Ballettoper „Charlotte Salomon. Der Tod und die Malerin“, die im Februar 2015 vom Musiktheater im Revier Gelsenkirchen uraufgeführt wurde (Choreografie und Inszenierung: Bridget Breiner). Parallel dazu stellte das Kunstmuseum Bochum unter dem Titel „Leben? oder Theater?“ 250 Gouachen von Charlotte Salomon zusammen, die das Joods Historisch Museum in Amsterdam als Leihgaben zur Verfügung gestellt hatte.

Literatur über Charlotte Salomon:

  • Christine Fischer-Defoy (Hg.): Charlotte Salomon. Leben oder Theater? Das Lebensbild einer jüdischen Malerin aus Berlin 1917 – 1943. Bilder und Spuren, Notizen, Gespräche, Dokumente (Berlin 1986)
  • Astrid Schmetterling: Charlotte Salomon. 1917 – 1943. Bilder eines Lebens (Frankfurt 2001)
  • Edward van Voolen (Hg.): Charlotte Salomon. Leben? oder Theater? (München 2004; zur Ausstellung „Charlotte Salomon: Leben? oder Theater?“ im Städel Museum, Frankfurt/M 2004)

David Foenkinos schrieb über Charlotte Salomon den Roman „Charlotte“.

© Dieter Wunderlich 2016

David Foenkinos: Charlotte

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