Paulo Coelho : Der Zahir

Der Zahir
Manuskript: Januar - Juni 2004 Originalausgabe: O Zahir Editora Rocco, Rio de Janeiro 2005 Der Zahir Übersetzung: Maralde Meyer-Minnemann Diogenes Verlag, Zürich 2005 ISBN 3-257-0646-0, 342 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Esther, die Frau eines erfolgreichen Schriftstellers, ist verschwunden. Er denkt an eine Entführung, aber dass sie ihn verlassen hat, ohne ein Wort zu sagen, kann er sich zunächst gar nicht vorstellen. Die Suche nach den Gründen – und schließlich nach Esther selbst – wird für ihn zu einer Obsession, zu einem Zahir.
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Kritik

Äußerlich geschieht in dem Roman "Der Zahir" von Paulo Coelho nicht viel; das eigentliche Geschehen ist die geistige Entwicklung des Ich-Erzählers im Verlauf einer inneren und einer äußeren Reise.
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Nach zehn Jahren Ehe verschwindet Esther, die dreißigjährige Ehefrau des Ich-Erzählers, unvermittelt. Zuletzt wurde sie in einem Straßencafé am Faubourg Saint-Honoré mit einem etwa fünf Jahre jüngeren Mann aus Kasachstan gesehen. Handelt es sich um eine Entführung? Die Polizei ermittelt in alle Richtungen und verhaftet den Ehemann, der für die vermutete Tatzeit kein Alibi angibt, aber sie lässt ihn wieder frei, als eine mit Esther befreundete, geschiedene Journalistin aussagt, zur fraglichen Zeit mit dem Verdächtigten zusammen gewesen zu sein.

Dass Esther ihn ohne ein Wort der Erklärung verlassen hat, vielleicht sogar wegen eines anderen Mannes, kann der Ich-Erzähler sich nicht vorstellen, und er grübelt darüber unaufhörlich nach. Das wird zu einer Obsession, zu einem Zahir.

In Buenos Aires ist der Zahir eine gewöhnliche Münze […] In Gujarat, gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts, war der Zahir ein Tiger; in Java ein Blinder aus der Moschee von Surakarta, den die Gläubigen steinigten; in Persien ein Astrolabium, das Naidri Shah auf den Meeresgrund versenken ließ; in den Verliesen des Mahdi, um 1892, war er ein kleiner Kompass, der in einer Turbanfalte steckte und den Rudolf Carl von Slatin angefasst hatte … (Seite 57)

Dem Schriftsteller Jorge Luis Borges zufolge entstammt die Vorstellung vom Zahir der islamischen Tradition und kam wahrscheinlich um das 18. Jahrhundert auf. Zahir bedeutet auf arabisch sichtbar, gegenwärtig, augenfällig. Eine Sache oder Person, welche, sind wir erst einmal in Kontakt mit ihr getretenm, ganz allmählich unsere Gedanken ausfüllt, bis wir uns auf nichts anderes mehr konzentrieren können. Dies kann als Heiligkeit oder als Wahnsinn aufgefasst werden. (Faubourg Saint-Pères, Enzyklopädie des Fantastischen, 1953; hier: Seite 10)

Der Ich-Erzähler erinnert sich, wie er sich gegen die Zukunftsvorstellungen auflehnte, die seine Eltern für ihn hatten.

Seine Familie zwingt ihn zu studieren (egal was, mein Sohn, Hauptsache, du bekommst ein Diplom – denn sonst bringst du es im Leben zu nichts). Er lehnt sich auf, reist als Hippie durch die Welt, trifft schließlich einen Sänger, schreibt ein paar Songtexte und verdient plötzlich mehr Geld als seine Schwester, die auf die Eltern gehört hat und Chemieingenieurin wurde. (Seite 26)

Damals hatte er begonnen, für seine Freiheit zu kämpfen.

Ein Großteil meines Lebens war ich Sklave […] Von Kindheit an habe ich um meine Freiheit gekämpft […] Ich habe gegen meine Eltern gekämpft, die wollten, dass ich Ingenieur werde statt Schriftsteller. Ich habe gegen meine Schulkameraden gekämpft, die mich von Anfang an zum Opfer ihrer perversen Späße erkoren […] Ich habe gekämpft, um eine Anstellung zu finden, die mich ernährte […]
Ich habe – wenn auch ohne Erfolg – um das Mädchen gekämpft, das ich als Heranwachsender liebte und das mich ebenfalls liebte. Am Ende hat es mich verlassen, weil seine Eltern es davon überzeugten, dass ich keine Zukunft hatte.
[…] Ich habe für das Ideal des Sozialismus gekämpft, war im Gefängnis, bin wieder herausgekommen, habe weitergekämpft […] Ich habe um die Liebe meiner ersten, meiner zweiten, meiner dritten Frau gekämpft. Ich habe darum gekämpft, den Mut aufzubringen, mich von meiner ersten, meiner zweiten, meiner dritten Frau zu trennen […]
Ich habe darum gekämpft, den Mut aufzubringen, die Anstellung bei der Zeitung aufzugeben und das Abenteuer einzugehen, ein Buch zu schreiben. Auch wenn ich wusste, dass es in meinem Land niemanden gab, der von der Literatur leben konnte. Nach einem Jahr habe ich aufgegeben, nach eintausend Seiten, die absolut genial zu sein schienen, weil nicht einmal ich sie verstand.
Während ich kämpfte, hörte ich Menschen sich für die Freiheit stark machen, doch je heftiger sie dieses einzige Recht verteidigten, um so deutlicher erwiesen sie sich als Sklaven der Wünsche ihrer Eltern, einer vorgeblich auf Lebenszeit geschlossenen Ehe, als Sklaven von Waagen, Diäten, von Projekten (die sie dann doch aufgaben), von Lieben, zu denen sie nicht „nein“ sagen konnten und auch nicht „es ist vorbei“ […] Als Sklaven des Scheins von Luxus, des Scheins des Scheins von Luxus. Als Sklaven eines Lebens, das sie nicht selbst gewählt hatten, sondern weil jemand sie davon überzeugt hatte, dass es das beste für sie war […] (Seite 16ff)

Nach drei Eheschließungen und ebenso vielen Scheidungen begegnete er vor zehn Jahren der Journalistin Esther. Damals hatte er seine Absicht, Schriftsteller zu werden, noch nicht verwirklicht. Damit er seine Schreibblockade überwinden konnte, brachte Esther ihn dazu, nach Madrid zu fliegen, mit dem Bus in die Pyrenäen zu fahren und fort dort in achtunddreißig Tagen auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela zu pilgern. Danach vertrieb er sich die Zeit mit verschiedenen Frauen in Madrid, statt mit dem geplanten Buch anzufangen, aber als Esther nachkam, überkam ihn plötzlich eine solche Schreibwut, dass er zwei Tage lang kaum schlief und so gut wie nichts aß. Mit Esther und dem fertigen Manuskript kehrte er nach Brasilien zurück.

Vier Monate später, als ich mich an die zehnte Überarbeitung machen will, stelle ich fest, dass sowohl das Manuskript als auch Esther verschwunden sind. Kurz bevor ich wahnsinnig werde, kommt Esther mit einem Einlieferungsschein der Post zurück – sie hat es an einen alten Freund von ihr geschickt, dem jetzt ein kleiner Verlag gehört. (Seite 39)

Das Buch wurde ein großer Erfolg. Mehrere Bestseller folgten, darunter beispielsweise ein Roman über einen Schafhirten, der aufbricht, um am Fuß der ägyptischen Pyramiden nach einem Schatz zu suchen [„Der Alchimist“]. Der Bestseller-Autor zog schließlich mit seiner Frau nach Paris. Der zu den Ritualen des Literaturbetriebs gehörenden Abendgesellschaften ist er bald überdrüssig, er langweilt sich bei dem hohlen Small Talk und provoziert die Umsitzenden schon mal durch Tabubrüche wie die Frage nach der Höhe ihres Einkommens.

Vor zwei Jahren wollte Esther plötzlich Kriegsberichterstatterin werden und für ihre Zeitung eine Reportage über einen Bürgerkrieg in Afrika schreiben.

Und jetzt ist sie fort.

Der berühmte brasilianische Schriftsteller verliebt sich in die fünfunddreißig Jahre alte französische Schauspielerin Marie, die ihn dazu motiviert, seinen durch Esthers wortloses Verschwinden ausgelösten Schock in einem Buch zu verarbeiten. Es trägt den Titel „Zerreißen hat seine Zeit, Zunähen hat seine Zeit“ – und wird ein Weltbestseller wie seine anderen Romane.

Bei einer Signierstunde steht unerwartet Mikhail als Letzter in der Schlange. Kann der Mann, mit dem Esther zuletzt gesehen wurde, ihm helfen, sich von seinem Zahir zu befreien? Um ihn wiederzusehen, versetzt der Schriftsteller einen berühmten Schauspieler und Filmproduzenten, der eigens nach Paris gekommen ist, um über die Verfilmung eines seiner Romane mit ihm zu verhandeln und verbringt den Abend stattdessen in einem armenischen Restaurant, in dem jeden Donnerstag eine Begegnung veranstaltet wird, bei der die Akteure – zu denen Mikhail gehört – die Gäste dazu ermutigen, persönliche Erlebnisse zu erzählen. Thema ist die außerordentliche Energie der wahren Liebe.

Der Schriftsteller hofft, dass er sich durch ein Wiedersehen und ein Gespräch mit Esther von seinem Zahir befreien kann. Um ihre Adresse herauszufinden, verabredet er sich mit Mikhail in einer Pizzeria zum Mittagessen und erfährt, dass Esther inzwischen davon lebt, Teppiche zu knüpfen und Französisch-Unterricht zu geben.

Mikhails richtiger Name lautet Oleg. Sein Vater kam zeitlebens nicht über die traumatischen Erlebnisse als russischer Soldat im Winter 1942/43 in Stalingrad hinweg. Als einer der wenigen Überlebenden erhielt er einen Orden – aber keine Arbeit. Um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, tat er sich mit Schmugglern zusammen und verkaufte Teppiche. Nach seiner Festnahme galt er nicht mehr als Held, sondern als „Verräter des Volkes“ und musste für zehn Jahre nach Sibirien. Im Alter von fast siebzig Jahren kam er nach Kasachstan, um dort Teppiche anzubieten. Dort heiratete er eine fünfundzwanzigjährige Muslimin, die elf Monate nach der Hochzeit Oleg gebar. Als der Junge sieben Jahre alt war, starb sein Vater. Ein Jahr später verspürte er auf dem Heimweg von der Schule einen Luftzug, sah Licht, und es erschien ihm ein schwebendes Mädchen. Die Mitschüler erklärten ihn für verrückt, als er davon erzählte, aber seine Mutter begleitete ihn eines Tages und bat ihn, die Erscheinung, die sie nicht sehen konnte, nach seinem Vater zu fragen. Da hörte er zum ersten Mal die Stimme des Mädchens. Wegen seiner Behauptung, er habe Erscheinungen, wurde Oleg von der Schule verwiesen. Sieben Jahre später verlor Olegs Mutter nach der Privatisierung der Textilfabrik, in der sie beschäftigt war, ihre Stelle. Oleg fand Arbeit als Tankwart. Und da hielt eines Tages eine Frau mit ihrem Geländewagen, eine Journalistin, die ihn fragte, wo sie einen Dolmetscher bekommen könne. Oleg überredete sie, ihn zu nehmen, obwohl sie eine Reportage über geheime amerikanische Militärbasen plante und er mit einer langjährigen Haftstrafe rechnen musste, falls sie bei den Erkundungen erwischt wurden. Ein Jahr später kam die Journalistin wieder – es war natürlich Esther – und nahm ihn auf ihre Kosten mit nach Paris. Inzwischen sieht Oleg alias Mikhail das schwebende Mädchen zwar nicht mehr, aber er hört nach wie vor die Stimme.

Mikhail wundert sich nicht, dass Esther nach zehn Jahren ausbrach: „Wie alle Ehemänner haben auch Sie irgendwann Ihre Frau als Teil des Mobilars und Hausrats betrachtet.“ (Seite 104) Während des Essens sagt Mikhail, er höre eine Stimme und sehe Licht. Dann reißt er plötzlich alles vom Tisch und bricht mit einem epileptischen Anfall zusammen.

Bei einem Aufenthalt in einem Bahnhof fragt der Ich-Erzähler einen Bahnbediensteten nach dem Abstand der Schienen und wundert sich, dass es sich nicht um eine runde Maßzahl handelt, sondern um 143,5 Zentimeter bzw. 4 Fuß und 8½ Zoll. Diese Norm geht bis in die Römerzeit zurück. Auch in der Liebe gehorchen wir Regelungen, die längst ihren Sinn verloren haben, überlegt der Schriftsteller, obwohl die Liebe dabei verloren geht. Fast alle Ehepartner laufen wie zwei Eisenbahnschienen parallel nebeneinander her, ohne sich jemals zu berühren.

Einmal weicht er einer Mutter mit Kinderwagen aus und tritt vom Bürgersteig auf die Straße. Da wird er von einem Mopedfahrer zu Boden geworfen. Zum Glück wird niemand ernsthaft verletzt. Als der Schriftsteller vom Krankenhaus nach Hause kommt, findet er einen Umschlag vor: Offenbar hat Mikhail sein Versprechen gehalten und ihm aufgeschrieben, wo er Esther finden kann. Er lässt sich Zeit, aber dann öffnet er das Kuvert und erfährt, dass Esther in einem kasachischen Dorf lebt.

Am Abend bevor er mit Mikhail nach Alma-Ata fliegt, weiß Marie, die bis zuletzt um seine Liebe gekämpft hat, dass sie ihn verloren hat.

In Kasachstan gesellt sich Mikhails Freund Dos zu ihnen. Zwei Stunden vor dem Dorf, in dem Esther Teppiche knüpft und Französisch-Unterricht erteilt, richten sich die drei Männer noch einmal für eine Nacht am Lagerfeuer ein. Esther, die sicherlich durch vorbeikommende Reiter von der bevorstehenden Ankunft ihres Mannes erfährt, soll die Gelegenheit haben, vor seinem Eintreffen zu verschwinden.

Nach zwei Jahren, neun Monaten, elf Tagen und elf Stunden sieht er Esther wieder. Sie ist schwanger von einem Mann, der auf der Durchreise war und kehrt mit ihrem Ehemann nach Paris zurück.

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Äußerlich geschieht in dem Roman „Der Zahir“ von Paulo Coelho nicht viel: Eine Frau verlässt in Paris ihren Mann, einen brasilianischen Bestsellerautor, und zieht sich in ein kasachisches Dorf zurück. Ein junger Kasache, mit dem sie zuletzt in einem Straßencafé in Paris gesehen wurde, führt den Ehemann – der zwar wieder eine Liebe findet, aber an nichts anderes als an die Trennung denken kann – schließlich zu ihr. Das eigentliche Geschehen ist die geistige Entwicklung des verlassenen Mannes, der auch als Ich-Erzähler fungiert und autobiografische Züge Paulo Coelhos aufweist: „Der Zahir“ handelt von einer obsessiven Suche, von einer inneren und einer äußeren Reise.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005
Textauszüge: © Diogenes Verlag

Paulo Coelho (Kurzbiografie)
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