Sag nicht, wer du bist!

Sag nicht, wer du bist!

Sag nicht, wer du bist!

Sag nicht, wer du bist! – Originaltitel: Tom à la ferme – Regie: Xavier Dolan – Drehbuch: Xavier Dolan, Michel Marc Bouchard, nach dem Theaterstück "Tom à la ferme" von Michel Marc Bouchard – Kamera: André Turpin – Schnitt: Xavier Dolan – Musik: Gabriel Yared – Darsteller: Xavier Dolan, Pierre-Yves Cardinal, Lise Roy, Évelyne Brochu, Manuel Tadros, Anne Caron, Jacques Lavallée u.a. – 2013; 95 Minuten

Inhaltsangabe

Nach dem Unfalltod seines Lebens­ge­fähr­ten Guillaume fährt Tom zur Beerdigung aufs Land. Guillaumes Mutter hat ihn nicht erwartet, und Tom begreift, dass sie von der Homosexualität ihres Sohnes nichts ahnt. Dessen Bruder bringt Tom mit Gewalt und Drohungen dazu, Agathe vor­zu­täuschen, Guillaume habe in Montreal mit einer Frau zusammengelebt. Zwischen dem Werbetexter Tom und dem ebenso groben wie frustrierten und aggressiven Farmer Francis entwickelt sich eine konfliktreiche Beziehung ...
mehr erfahren

Kritik

"Sag nicht, wer du bist!" – die Verfilmung des Theaterstücks "Tom auf dem Lande" von Michel Marc Bouchard – ist ein kammer­spiel­artiger, spartanischer Psychothriller von Xavier Dolan über Selbstverleugnung und Vortäuschung falscher Identitäten.
mehr erfahren

Nach dem Unfalltod seines Lebensgefährten Guillaume fährt Tom (Xavier Dolan) – ein in Montreal lebender und arbeitender Werbetexter Mitte 20 – aufs Land, zu der von Guillaumes Mutter Agathe (Lise Roy) und Bruder Francis (Pierre-Yves Cardinal) bewirtschafteten Farm, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Dass niemand ihn dort erwartet. wundert ihn.

Bald begreift er, dass Agathe nichts von Guillaumes Homosexualität ahnt. Ihr 30-jähriger Sohn Francis, der ihr vortäuschte, sein jüngerer Bruder lebe in Montreal mit einer Frau namens Sara zusammen, schüchtert Tom mit Ohrfeigen ein und droht ihm Schlimmeres an für den Fall, dass er Agathes Bild von Guillaume zerstören würde. Tom tut denn auch so, als sei Guillaume nur ein Arbeitskollege gewesen, und die für die Trauerfeier vorbereitete Rede hält er nicht.

Agathe ärgert sich darüber, dass Sara nicht zur Beerdigung kommt. Liebte sie Guillaume so wenig? Um Agathe zu trösten, erfindet Tom einen Anruf Saras. Angeblich ging ihr der Tod ihres Lebensgefährten so nah, dass sie die Trauerfeier nicht hätte ertragen können.

Tom hilft auf der Farm. Er ist dabei, als eine tote Kuh abtransportiert wird und eine andere kalbt. „Feel Real“ steht auf einem Werbeplakat, und dem Groß­stadt­menschen kommt es so vor, als sei er endlich im wirklichen Leben angekommen.

Zwischen dem schwulen Werbetexter Tom und dem ebenso groben wie frustrierten und aggressiven Farmer Francis entwickelt sich eine konfliktreiche Beziehung. Als Tom vor Francis in ein Maisfeld flieht, verletzt er sich an den scharfkantigen Blättern so, dass Francis ihn danach zu einer Ärztin (Anne Caron) bringen muss. Agathe erzählen sie, Tom sei bei der Arbeit zu dicht an ein Transportband gekommen.

Francis nimmt Tom mit in die Scheune. Dort schnupft er Kokain und bringt auch den widerstrebenden Besucher dazu, es zu tun. Dann tanzt er mit ihm Tango und gesteht ihm, dass er das abge­schie­dene Leben auf der Farm höchstens noch fünf Jahre ertragen könne. Spätestens dann werde er die Mutter in ein Alters­heim bringen und die Farm ver­kaufen. In diesem Augenblick taucht Agathe in der Tür auf. Zwei tanzende Männer zu sehen, müsste die welt­fremde Frau irritieren, aber sie lässt sich nichts anmerken. Als Francis fragt, ob sie gehört habe, was er sagte, antwortet sie mit „ja“, zeigt aber weiter keine Reaktion.

Danach sitzen sie zu dritt am Tisch und essen Kuchen. Agathe fordert Tom auf, von Sara zu erzählen. Vom Teufel geritten, erfindet er das Bild einer Frau, die ihren Liebhaber beispielsweise auffordert, ihr ins Gesicht zu ejakulieren. Francis bricht das betretene Schweigen mit einer schmutzigen Bemerkung über die „versaute“ Freundin seines Bruders, und Agathe lacht wie schon lange nicht mehr.

Tom erträgt die angespannte Situation und ständige Bedrohung durch Francis nicht mehr. Er will weg. Aber sein Auto steht mit abmontierten Rädern in der Scheune.

Francis hat Sara nicht frei erfunden, sondern auf einem Foto seines Bruders entdeckt. Allerdings handelt es sich bei Sara (Évelyne Brochu) lediglich um eine gemeinsame Bekannte von Tom und Guillaume. In seiner Not ruft Tom sie an und bittet sie zu kommen. Sie nimmt den Bus und gibt sich wunschgemäß als Guillaumes Freundin aus. Agathe freut sich sehr über den unerwarteten Besuch.

Francis versucht, auch Sara unter Druck zu setzen, aber anders als Tom widersetzt sie sich und lässt keinen Zweifel daran, dass sie sich nichts vorschreiben lässt. Als sie fort will und Tom auffordert, sie zu begleiten, weist dieser sie auf den nicht fahrbereiten Wagen hin und sagt drohend, die Blätter im Maisfeld seien rasier­messer­scharf.

Unter vier Augen klärt Sara Tom darüber auf, dass Guillaume ihn mit ihr und anderen Frauen und Männern betrogen habe. Ob das stimmt, bleibt offen.

Am Abend holt Agathe eine Schachtel mit Erinnerungen an Guillaume aus ihrem Zimmer: Briefe, Notizen, Fotos, eine Haarlocke und anderes. Sie möchte, dass Tom etwas vorliest, aber die beiden Männer halten das für keine gute Idee. Daraufhin schiebt Agathe die Schachtel Sara hin und schenkt sie ihr. Dass Sara nicht danach greift, entfacht Agathes Zorn. Sie wirft Sara vor, nicht um Guillaume zu trauern, nicht zur Beerdigung gekommen zu sein, keine Blumen fürs Grab mitgebracht zu haben und kein einziges Mal auf dem Friedhof gewesen zu sein.

Nach diesem Eklat fährt Francis Sara zur Bushaltestelle. Sie trinken unterwegs und sind berauscht, als sie auf dem Parkplatz ankommen. Francis schenkt Sara eine Bluse aus Seidentaft, die er vor langer Zeit einmal für ein Mädchen kaufte, das aber nichts von ihm wissen wollte. Um mit Sara allein sein zu können, fordert er den unbeteiligt im Fonds sitzenden Tom zum Aussteigen auf.

Tom geht über den Parkplatz in eine Kneipe und trinkt an der Theke ein Bier. Als der Wirt (Manuel Tadros) erfährt, wo Tom zu Besuch ist, erwähnt er, dass Francis Lokalverbot habe. Vor neun Jahren tanzten die Brüder Francis und Guillaume hier und zogen eine Show ab. Guillaume tanzte anschließend mit einem anderen jungen Mann, dem Francis daraufhin mit beiden Händen die Mundwinkel bis zum Hals aufriss.

Durch die Glastür sieht Tom, wie Sara in den Bus steigt.

Am nächsten Morgen sucht er vergeblich nach Agathe. Aufgewühlt packt er seine Sachen und kippt auch den Inhalt der Schachtel in seinen Koffer. Er rennt los, in einer Hand das Gepäck, in der anderen einen Spaten. Weil ihn der Koffer behindert, holt er Guillaumes Sachen heraus, stopft sie sich unter die Jacke und wirft den Rest ins Maisfeld.

Francis folgt ihm mit dem Pickup. Tom flüchtet. Francis lässt den Wagen mit offener Tür am Straßenrand stehen und sucht nach Tom – bis er hört, wie dieser mit dem Pickup losfährt.

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

„Tom à la ferme“ / „Sag nicht, wer du bist!“ basiert auf dem Theaterstück „Tom à la ferme“ / „Tom auf dem Lande“ des kanadischen Dramatikers Michel Marc Bouchard (* 1958) aus dem Jahr 2010. Michel Marc Bouchard arbeitete mit Xavier Dolan auch am Drehbuch.

Im Zentrum von „Sag nicht, wer du bist!“ steht die Frage nach der Identität, in diesem Fall weniger die Suche nach sich selbst, sondern die Vortäuschung von Eigenschaften, die Verbergung der Person hinter einer Fassade. Lebenslüge und Selbstverleugnung sind die Themen: Tom verschleiert seine Homosexualität, Agathe will nicht wahrhaben, dass ihr jüngerer Sohn schwul war, und ihr älterer, nicht nur sexuell frustrierter Sohn unterdrückt seine gleichgeschlechtlichen Neigungen. Verlierer sind sie allesamt. Der Großstadt­mensch Tom gerät auf dem Land in einen Malstrom von Gewalt, Erniedrigung und Anziehung.

„Sag nicht, wer du bist!“ ist ein leiser, mitunter brutaler Psychothriller und beinahe ein Kammerspiel. Wie in einem Hitchcock-Film ist eine ständige Bedrohung zu spüren.

Der Kanadier Xavier Dolan (Drehbuch, Regie, Hauptrolle, Produktion, Schnitt) drehte „Sag nicht, wer du bist!“ in 17 Tagen mit kleinem Budget in Québec – und machte daraus eine Tugend: die Reduktion aufs Wesentliche und eine spartanische Form. Manchmal engt er das Blickfeld ein, und immer wieder lassen lediglich Details aufs Ganze schließen (pars pro toto). Vieles bleibt offen. Die Farben der Bilder sind zumeist grünstichig und schmutzig. Es heißt, Xavier Dolan habe zunächst vorgehabt, auf Musik zu verzichten. Am Ende komponierte der libanesische „Oscar“-Preisträger Gabriel Yared („Der englische Patient“) eine kongeniale Musikuntermalung für „Sag nicht, wer du bist!“, aber es gibt auch Passagen ganz ohne sie.

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2016

Xavier Dolan: Einfach das Ende der Welt

Sarah Kuttner - Mängelexemplar
"Mängelexemplar" ist ein sehr unterhaltsamer, witziger und tragikomischer Roman, in dem Sarah Kuttner trotz ihrer aufgekratzten Attitüde auch ein Stück weit in die Tiefe vordringt.
Mängelexemplar