Per Olov Enquist : Das Buch von Blanche und Marie

Das Buch von Blanche und Marie
Originalausgabe: Boken on Blanche och Marie Norstedts Förlag, Stockholm 2004 Das Buch von Blanche und Marie Übersetzung: Wolfgang Butt Carl Hanser Verlag, München 2005 ISBN 3446205691, 239 Seiten Süddeutsche Zeitung / Bibliothek, Band 75, München 2007, 206 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Blanche Wittman ist eine Patientin des Neurologen Jean-Martin Charcot an der Salpêtrière in Paris. Nach dessen Tod arbeitet Blanche als Assistentin für Marie Curie. Aufgrund der fortwährenden Verstrahlung im Labor müssen ihr nach und nach ein Arm und beide Beine amputiert werden. Mit der verbliebenen rechten Hand schreibt Blanche in drei Notizheften über ihre Liebe zu Charcot und Marie Curies Amouren ...
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Kritik

In dem Roman "Das Buch von Blanche und Marie" erzählt Per Olov Enquist eine fiktive Geschichte über historische Persönlichkeiten. Die Sprache ist ambitioniert und stellenweise pathetisch.
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Jeanne Louise Beaudon wurde am 9. Juni 1868 in Belleville, einem Vorort von Paris, als uneheliches Kind einer Hure geboren. Von der Pubertät an musste das Mädchen durch Prostitution Geld verdienen. Als Vierzehnjährige wurde Jeanne Louise am 28. Dezember 1882 in die Salpêtière in Paris eingeliefert, das von dem Neurologen Jean-Martin Charcot (1825 – 1893) geleitete Krankenhaus, in dem sechstausend Frauen eingesperrt waren. Nachdem man sie am 11. Juli 1884 entlassen hatte, schlug sie sich unter dem Künstlernamen Jane Avril als Tänzerin durch und stand Henri de Toulouse-Lautrec (1864 – 1901) Modell.

Nicht nur eineinhalb Jahre wie Jeanne Louise Beaudon alias Jane Avril, sondern fast sechzehn Jahre verbrachte Blanche Wittman (1859 – 1913) in der Salpêtière: Von 1878 bis 1893 war sie dort. Sie wurde zur Lieblingspatientin Charcots und entwickelte sich zur „Königin der Hysterikerinnen“, denn keine andere konnte so wie sie die verschiedenen hysterischen Anfälle vorführen. André Broulliet malte eine solche Szene: Während Charcot seine Vorlesung hält, hängt Blanche mit geöffneter Bluse bewusstlos in den Armen eines hinter ihr stehenden Assistenten: „Une leçon de clinique à la Salpêtrière“. Der Öffentlichkeit wurde das Bild erstmals 1887 in dem legendären Pariser Frühjahrssalon vorgestellt.

Blanche liebte Charcot, und der Wissenschaftler erwiderte ihre Gefühle, obwohl er verheiratet war und drei Kinder hatte. 1893 begleitete Blanche den todkranken Siebenundsechzigjährigen nach Morvan. Unterwegs, in der Kathedrale von Vézelay, gestand er ihr am 13. August, sie sei „in ihn eingebrannt worden […] wie ein Brenneisen in ein unschuldiges Tier“ (Seite 194). In der Nacht auf den 16. August war Blanche bei ihm in seinem Zimmer in der Auberge des Serrons. Sie zog zuerst ihn und dann sich selbst aus, legte sich auf ihn und brachte ihn zum Orgasmus. Als sie ihn danach fragte, ob er Schmerzen habe, erwiderte er: „Nie mehr.“ Minuten später starb er. Blanche blieb bis zum Morgen neben dem Toten liegen; erst dann gab sie seinen Tod bekannt.

Zwei Jahre arbeitete sie als Assistentin in der Röntgenabteilung der Salpêtière. 1897 fing sie bei Marie Curie (1867 – 1934) im Laboratorium an. Von der Gefahr, die von radioaktiven Stoffen ausgeht, ahnte man noch nichts. Wegen der Verstrahlung wurden Blanche nacheinander das linke Bein bis zum Knie, das rechte Bein bis zur Hüfte und der linke Arm amputiert. Marie, deren Ehemann Pierre am 19. April 1906 bei einem Unfall ums Leben gekommen war, nahm sie bei sich auf und ließ eine Kiste mit Rädern für sie anfertigen, um sie herumziehen zu können.

Mit der verbliebenen rechten Hand schrieb Blanche drei Hefte voll, die sie „Das gelbe Buch“, „Das schwarze Buch“ und „Das rote Buch“ nannte. Es handelte sich um eine Art Tagebuch, für das Blanche allerdings die Bezeichnung „Fragebuch“ bevorzugte. Vergeblich suchte sie nach einer zugleich sinnlichen und wissenschaftlichen Erklärung „für das der Liebe innewohnende Wesen“ (Seite 18).

Wie überleben wir die Liebe. Wie würden wir ohne die Liebe leben können. (Seite 162)

Blanche schrieb nicht nur über ihre eigene Liebe zu Charcot, sondern auch über das Liebesleben ihrer Chefin, die zu ihrer Freundin geworden war: „Das Buch über Blanche und Marie“.

Pierre Curie sei ihre dritte Liebe gewesen, erzählte ihr Marie. Davor sei sie bereits in Polen zweimal verliebt gewesen. Blanche verglich die Beziehung zwischen Marie und Pierre mit der von Pasqual und Maria Pinon: Maria, die nur aus einem Kopf bestand und nicht sprechen konnte, weil sie keine Stimmbänder hatte, war mit Pasquals Kopf verwachsen. Am Ende überlebte ihn Maria um acht Minuten.

Nachdem Pierre Curie am 19. April 1906 in ein Fuhrwerk gerannt und ihm der Kopf unter einem Hinterrad zerquetscht worden war, trauerte Marie drei Jahre lang um ihn. Dann vertauschte sie die Trauerkleidung unvermittelt gegen ein weißes Kleid und besuchte das mit ihr befreundete Ehepaar Emile und Marguerite Borel. Einige Monate später verführte sie den fünf Jahre jüngeren Physiker Paul Langevin (1873 – 1946). Paul war 1888 Schüler von Pierre Curie an der École de physique et chimie gewesen. 1895 hatten er und Marie sich kennen gelernt.

Und hier, schreibt Blanche, wird Marie von diesem Paul angestoßen, wie eine Billardkugel von ihrem Queue! und bewegt sich wie die Billardkugel! doch ohne zu verstehen. (Seite 59)

Seither begehrten sie sich. Paul, der mit seiner Ehefrau Jeanne vier Kinder hatte, war „von einer Krankheit mit Namen Marie Curie befallen“ (Seite 105). Am 4. März 1910 gegen 22 Uhr fegte Marie mit einer entschlossenen Armbewegung die Geräte von einem Labortisch, setzte sich mit gespreizten Beinen darauf und ließ sich von Paul nehmen, ohne auf die Glassplitter zu achten, die ihr in den Rücken stachen.

Gut drei Monate später, am 15. Juni 1910, mieteten sie eine Zwei-Zimmer-Wohnung in Paris als Liebesnest. Aber das Glück dauerte nur bis August, denn ein Dienstmädchen brachte Jeanne Langevin einen Brief Maries an Paul und verschaffte ihrer eifersüchtigen Arbeitgeberin auf diese Weise einen Beweis für das ehebrecherische Verhältnis der beiden. Marie setzte sich in das Fischerdorf L’Arcouest in der Bretagne ab. Unvorsichtigerweise schrieb sie Paul von dort im August einen langen Brief, in dem sie ihn aufforderte, Jeanne das Leben unerträglich zu machen, bis sie in die Scheidung einwilligte.

Schließlich brach jemand die Tür der angemieteten Wohnung auf, raubte die dort aufbewahrten Liebesbriefe und brachte sie Jeanne. Am 4. November 1911 machte „Le Journal“ die Titelseite mit der Meldung über die Affäre von Marie Curie und Paul Langevin auf. Das war der Beginn einer Pressekampagne gegen Marie, in deren Verlauf die Zeitung „L’Œuvre“ am 23. November 1911 auch den Brief veröffentlichte, den sie im August 1910 aus L’Arcouest geschrieben hatte. Die Öffentlichkeit ereiferte sich über die möglicherweise jüdischstämmige Ausländerin, die eine französische Familie zerstört haben sollte. Als Hure wurde Marie beschimpft.

Am 7. November, drei Tage nach dem Beginn der Medienkampagne, war bekannt gegeben worden, dass Marie Curie nach dem Physik- auch den Chemie-Nobelpreis bekommen sollte. Als man auch in Schweden von den Anschuldigungen erfuhr, schrieb Svante Arrhenius, ein Vorstandsmitglied der Königlichen Wissenschaftsakademie, Marie Curie einen Brief, in dem er ihr nahelegte, auf den Preis zu verzichten. Doch dazu war sie nicht bereit: am 10. Dezember 1911 nahm sie den Nobelpreis für Chemie von König Gustav V. in Stockholm entgegen. Sie war die erste Person, die mit zwei Nobelpreisen ausgezeichnet wurde.

Danach war Marie monatelang krank und musste zeitweise ins Krankenhaus. Ende März 1912 reiste sie unter dem Namen Dluska nach Brunoy, im Juni von dort weiter nach Thonon-les-Bains, und schließlich folgte sie einer Einladung der mit ihr befreundeten englischen Physikerin und Suffragette Herta Ayrton.

Paul Langevin kehrte zu seiner Frau Jeanne zurück und begann mit deren Einverständnis eine längerfristige sexuelle Beziehung mit seiner Sekretärin.

Blanche Wittman starb im Frühjahr 1913. Ihre drei Fragebücher wurden erst in den Dreißigerjahren entdeckt.

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Marie Curie und Paul Langevin, Blanche Wittman und Jean-Martin Charcot sind historische Persönlichkeiten, aber die Geschichte, die Per Olov Enquist in seinem Roman „Das Buch von Blanche und Marie“ erzählt, ist größtenteils fiktiv. Die Fragebücher von Blanche Wittman hat es ebenso wenig gegeben wie die Affäre zwischen ihr und Charcot oder ihre Freundschaft mit Marie Curie; die beiden Frauen haben sich wahrscheinlich gar nicht gekannt. Frei erfunden sind auch die Amputationen. Dass die zweifache Nobelpreisträgerin und Paul Langevin eine Affäre hatten, ist verbürgt, aber Per Olov Enquist hat Einzelheiten dazuerfunden. Bedauerlich ist, dass bei der unkritischen Lektüre des Romans „Das Buch von Blanche und Marie“ ein einseitiges Bild von Marie Curie entsteht, das ihr in keiner Weise gerecht wird.

Per Olov Enquist erzählt also in „Das Buch von Blanche und Marie“, wie es gewesen sein könnte, nicht wie es war. Der Roman beginnt mit den Worten „‚Amor Omnia Vincit‘ – die Liebe überwindet alles“ (Seite 7). Blanche und Marie versuchen, die Wahrheit über die Liebe zu ergründen, die ihnen so rätselhaft leuchtend und flatterhaft wie Radium vorkommt (Seite 64), die jedoch auch mit Abtrennungen – Amputationen – enden kann.

„Das Buch von Blanche und Marie“ gliedert sich in drei Bücher (Das gelbe Buch, Das schwarze Buch, Das rote Buch) und acht „Gesänge“:

  1. Der Gesang von der Amputierten
  2. Der Gesang vom Kaninchen
  3. Der Gesang vom Leiterwagen
  4. Der Gesang vom Jungen des Wagenmachers
  5. Der Gesang von der Eifersucht
  6. Der Gesang vom Schmetterling
  7. Der Gesang von den wilden Tieren
  8. Der Gesang vom blauen Licht

 

Die Sprache ist ambitioniert, stellenweise pathetisch und mit bewusst wiederholten Phrasen durchsetzt. Gedankensprünge, auch mitten im Satz, ergeben nicht nur eine eigenwillige Syntax, sondern auch einen holprigen Verlauf.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2007
Textauszüge: © Carl Hanser Verlag

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