Per Olov Enquist : Lewis Reise

Lewis Reise
Manuskript: 1993 – 2001 Originalausgabe: Lewis resa Norstedts, Stockholm 2001 Lewis Reise Übersetzung: Wolfgang Butt Carl Hanser Verlag, München / Wien 2003 ISBN 3-446-20267-6, 576 Seiten Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M 2005 ISBN 3-596-15997-0, 576 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Lewi Pethrus, der aus ärmlichen Verhältnissen zum Führer der schwedischen Pfingstbewegung aufsteigt und sie zu einem Imperium des Glaubens ausbaut, befreundet sich mit dem anarchistischen, erotomanischen Dichter Sven Lidman. Ungeachtet ihrer Verschiedenheit tun sie sich als Organisator und Mann des Wortes in der Führung der Gemeinde zusammen. Nach 27 Jahren zerbricht die Freundschaft ...
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Kritik

"Lewis Reise" ist eine von stupendem Wissen getragene Mischung aus historischem Roman, Biografie und religiösen Reflexionen. Die epische Breite, mit der Per Olov Enquist erzählt, ist literarisch ambitioniert, wird aber auch durch störende Wiederholungen erzielt.
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Per Olov Enquist beginnt seinen Roman „Lewis Reise“ mit seiner Teilnahme an der Beerdigung von Efraim Markström am 16. Dezember 1982 in Christiansfeld im südlichen Jütland. Efraim, den der Autor seit zehn Jahren kannte, hinterließ auf mehr als 1000 handgeschriebenen Seiten einen Lebenslauf, den der Autor liest und exzerpiert. Mit den Notizen fährt er nach drei Tagen zurück nach Kopenhagen und rekonstruiert daraus die Geschichte der Philadelphia-Gemeinde in Schweden sowie die Biografien ihrer Führer Lewi Pethrus und Sven Lidman.

Petrus Lewi Johansson alias Lewi Pethrus wurde am 11. März 1884 in Västra Tunheim als eines von neun Kindern des Fuhrknechts Johan und dessen Ehefrau Kristina geboren.

Lewi war gläubig und fühlte sich zugleich als Sozialist. Zunächst wollte er Arbeiterschriftsteller werden, aber dann schickte er seiner Freundin Lydia einen Abschiedsbrief und erklärte ihr, er fühle sich zum Prediger berufen, müsse allein leben und werde ohnehin keine Familie ernähren können. Nach dem Besuch des Bethelseminars in Stockholm wurde er im Februar 1907 Baptistenprediger in Lidköping.

29 Mitglieder der Baptistengemeinde in Stockholm schlossen sich im August 1910 zur „Philadelphia-Gemeinde“ zusammen und beriefen im Monat danach Lewi als Prediger und Gemeindevorsteher. Am 29. April 1913 wurde die Philadelphia- aus der Baptistengemeinde ausgeschlossen.

Kurz zuvor hatte Lewi doch wieder Kontakt mit Lydia aufgenommen, und sie heirateten im April 1913. Eine Woche später wurde Lydia in die Philadelphia-Gemeinde aufgenommen. Im November teilte sie Lewi mit, dass sie schwanger sei. Doch während ihr Mann auf Reisen war, starb der Embryo in ihrem Leib ab und die Ärztin hielt eine Operation für unumgänglich, um die Mutter zu retten. Lydia litt unter großen Schmerzen, doch als Lewi nach Hause kam, lehnte er jede weitere medizinische Hilfe ab und brachte seine Frau dazu, mit ihm gemeinsam auf Gott zu vertrauen. Tatsächlich wurde der tote Embryo abgestoßen, und Lydia erholte sich allmählich wieder.

Die von der Philadelphia-Gemeinde in Stockholm ausgehende Pfingstbewegung in Schweden wuchs gewaltig, und im ganzen Land bildeten sich Ableger. Die Bewegung verfügte bald über eine Bibelschule, ein Gesangbuch, einen Verlag, eine Druckerei und eine Zeitung. Die Obrigkeit beobachtete die Entwicklung argwöhnisch, und Lewi wurde sogar von der Polizei verhört. 1921 erschienen zwei Zeitungsartikel zur Verteidigung der Pfingstler von dem Schriftsteller Sven Lidman. Daraufhin besorgte Lewi sich dessen Bücher und las sie. Noch im selben Jahr begegneten sich Lewi und Sven erstmals persönlich, und sie wurden Freunde.

Neben Lewi entwickelte sich Sven zur zweiten Galionsfigur der Pfingstbewegung. Die beiden ergänzten sich hervorragend, denn Lewi war der Führer, Organisator und Unternehmer, während Sven in praktischen und wirtschaftlichen Angelegenheiten unbedarft blieb, dafür allerdings um so eindrucksvoller reden und schreiben konnte.

Sven war zwei Jahre älter als Lewi. Im Alter von 23 Jahren hatte der Poet seine erste „Gemeinde“ in Stockholm gefunden: fünf Prostituierte in einem Bordell, die sich regelmäßig seine Gedichte anhörten und von denen sich dann eine mit ihm zurückzog, ohne dafür Geld zu verlangen.

Schließlich hatte Sven ein Verhältnis mit der verheirateten Amerikanerin Margot Brenner. (Das war nicht ihr richtiger Name, aber so nannte er sie in seiner Autobiografie.) Auf ihre Kosten mietete Sven ein Zimmer in Gamla Stan. Als Gerüchte über die Affäre auftauchten, lud ihn das Ehepaar Brenner zum Essen ein. Margots Mann machte ihn betrunken und verspottete ihn dann.

„Herr Lidman“, hatte er gesagt und lächelnd seinen gehassten jungen Freund betrachtet, „ich bitte Sie, mir zu glauben. Ich bin nie eifersüchtig auf Sie gewesen. Ich weiß, dass man redet. Redet! Aber an der Tugendhaftigkeit meiner Frau habe ich nie gezweifelt. Nie! Und wenn ich Sie jetzt sehe!!! Wie sollte ich da auch nur einen Augenblick glauben können … wenn ich Sie sehe! Nein, nie!!! Wie könnte sie!!!“ (Seite 136)

Als Margot schwanger wurde, strebte sie die Scheidung an, um Sven heiraten zu können, aber der Poet organisierte eine Abtreibung und überredete sie, sich dem Eingriff zu unterziehen. Während sie allein zu dem Arzt ging, trieb Sven sich mit einer Prostituierten herum und gestand es anschließend seiner Geliebten, die wütend entgegnete:

„Ich will deine Bekenntnisse und deine Ehrlichkeit nicht, ich will nicht, dass du mir noch einmal weh tust, ich will deine Ehrlichkeit nicht sehen, ehrlich! nur damit du einmal darüber schreiben kannst, ich lasse mein Kind wegmachen, und du gehst zu Huren, und das Einzige, was für dich wichtig ist, ist zu bekennen und ehrlich zu sein …“ (Seite 144)

Damit endete die Affäre.

Einige Zeit später begleitete Sven einen Bekannten namens Hjalmar Söderberg zu einem Empfang im Stadtpalais von Ernst Thiel. Als er dessen Tochter Carin sah, wollte er sie unbedingt erobern, doch als er sie ansprach, ließ sie ihn unverblümt wissen, dass sie sich nicht für Gedichte interessierte. Sven gab nicht auf und überredete einen gemeinsamen Freund, Graf Oxenstierna, Carin zu einem Ausflug zu dritt einzuladen. Sven schenkte Carin zwar immer wieder nach, hielt sich selbst aber beim Trinken zurück, und nachdem Oxenstierna sich diskret zurückgezogen hatte, nahm er Carin, obwohl diese sich anfangs sträubte.

Als sie ihrem Vater gestand, dass sie schwanger war, bestand Ernst Thiel auf einer Eheschließung und bot dem Dichter dafür eine standesgemäße Wohnung auf Djurgården und eine monatliche Apanage an. (Tatsächlich kaufte Thiel dem Paar dann den Landsitz Stora Tuna.) Die Ehe war vom ersten Tag an unglücklich, denn Sven und Carin verstanden sich nicht. Während der Schwangerschaft stellten sich Komplikationen ein, und der Embryo musste abgetrieben werden, um das Leben der Mutter zu retten. Einige Jahre später verdächtigte Sven seine Frau, Affären mit anderen Männern zu haben. Darüber kam es zum Streit.

[Carin:] „Du siehst dich selbst, du siehst keine anderen Menschen, du benutzt sie, aber du interessierst dich nicht für sie, du bist ein durch und durch toter Mensch, der bei anderen nach Leben sucht, um es zu benutzen …“
„Scheiß Hure“, hatte er ziemlich still gesagt.
„Ja, meinetwegen gern, ich habe Gefühle, allerdings, ich mag es zu lieben …“
„Ficken.“
„… dann eben ficken! Aber ich ficke nicht, um Gedichte darüber zu schreiben, sondern weil es der Kitt des Lebens!!! der Kitt des Lebens!!! ist.“ (Seite 241)

Trotz der drei Kinder, die sie inzwischen hatten, ließ Carin sich schließlich von Sven scheiden.

1918 begegneten sich Sven und Brita Oterdahl, die mit 28 Jahren noch Jungfrau war. Die beiden verliebten sich und heirateten.

Der schwedischen Pfingstbewegung drohte 1929 die Spaltung, als nämlich der zweiundfünfzigjährige Anders Petter Franklin die „Freie Gemeinde Södermalm“ gründete. Lewi und Sven besiegten jedoch die Dissidenten und erklärten Franklin zur persona non grata. Der Unterlegene zog 1935 nach Göteborg, gründete dort eine kleine Pfingstgemeinde („Gottes Gemeinde“) und starb am 19. März 1939.

Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung, am 1. November 1930, war der Philadelphiatempel in der Rörstandsgata in Stockholm eingeweiht worden, der Platz für 4000 Brüder und Schwestern bot.

Während Lewi und Lydia eine glückliche Ehe führten und auf dem von ihnen erworbenen Hof Bredden nördlich von Stockholm neun Kinder großzogen, blieb Sven ein Erotomane und betrog seine Frau sogar mit einer ihrer Cousinen. Immerhin konnte Sven sich von seinem Gehalt als Chefredakteur des „Härold“, der Zeitung der Pfingstbewegung in Schweden, das Herrenhaus Stora Vilunda kaufen. Als Svens Tochter Ulla nicht nur ihre Verlobung löste, sondern auch ihr erstes Kind taufen ließ, empörte Lewi sich über diesen Verstoß gegen die Vorschriften der Pfingstbewegung, und die beiden Familien verfeindeten sich.

Die Freundschaft zwischen Lewi und Sven zerbrach endgültig, als Lewi am 23. Februar 1941 allein in die USA reiste. Offiziell begründete er den Schritt damit, einen Ruf der Pfingstgemeinde in Chicago erhalten zu haben, aber vermutlich ging er, um ein Zerbrechen der Bewegung in Schweden aufgrund des Konflikts mit Sven zu verhindern. Sven wiederum – der das Amt des Gemeindeverstehers übernahm – warf Lewi vor, feige vor den Nationalsozialisten zu fliehen und seine Gemeinde im Stich zu lassen.

Entgegen seiner ursprünglichen Absichten blieb Lewi nicht in Amerika, sondern buchte am 22. Juli die Rückreise nach Stockholm.

Er verlegte sich nun stärker aufs Schreiben und verfasste Jahr für Jahr dreißig bis fünfzig Leitartikel in der Zeitung „Dagen“. Während die Weltgemeinde der Pfingstbewegung (The Pentecostal Movement) auf 250 Millionen Mitglieder anschwoll, trachtete Lewi nicht mehr danach, sie auszubauen, sondern es ging ihm nun darum, ihre Reinheit zu bewahren.

Am 8. Januar 1948 wurde mitgeteilt, Sven Lidman werde mit 65 Jahren die Chefredaktion des „Härold“ abgeben und in den Ruhestand gehen. Es handelte sich um eine Fehlmeldung, aber Sven verstand, dass ihn Lewis Anhänger loswerden wollten. Am 28. Januar 1948 griff er seinen früheren Freund im „Aftonbladet“ scharf an. Sven warf Lewi vor, aus Größenwahn in die USA gereist zu sein, um sich dort als „Apostel von Weltformat“ aufzuspielen. Er beschuldigte ihn, Ende der Dreißigerjahre „Mein Kampf“ gelesen und Feuer gefangen zu haben. Hitler nacheifernd, habe Lewi sich zu einem selbstherrlichen Führer entwickelt und die Demokratie in der Pfingstbewegung mit Füßen getreten. Lewi beteuerte, „Mein Kampf“ nicht vor 1942 gelesen zu haben, aber er konnte nicht leugnen, dass die Philadelphia-Gemeinde Hitler im Sommer 1939 auf seinen Vorschlag hin ein Huldigungstelegramm geschickt hatte, in der Hoffnung, sich dessen Wohlwollen zu sichern.

Bei einer Gemeindeversammlung am 2. Februar 1948 im Philadelphiatempel in Stockholm hielten zuerst Lewi und dann auch Sven eine Rede. Lewi rechtfertigte den Ausbau der Pfingstbewegung zu einem zentralistisch geführten Imperium des Glaubens.

Während Sven sich zurückzog und am 14. Februar 1960 starb, blieb Lewi trotz mehrerer Herzinfarkte bis zu seinem Tod mit 89 Jahren am 11. März 1984 in der Pfingstbewegung aktiv.

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In seinem fulminanten Roman „Lewis Reise“ stellt Per Olov Enquist die Geschichte der Philadelphia-Gemeinde in Schweden dar und beschäftigt sich vor dem Panorama der religiösen Bewegung mit den Biografien der beiden grundverschiedenen Führer Lewi Pethrus und Sven Lidman. „Lewis Reise“ ist eine Mischung aus historischem Roman, Biografie und religiösen Reflexionen. Bemerkenswert ist dabei das stupende Wissen des Autos über das Thema.

Obwohl Per Olov Enquist den Roman in fünf mit Monatsangaben überschriebene „Bücher“ eingeteilt hat („Erstes Buch. März 1901 – Juli 1910“ … „Fünftes Buch. Februar 1941 – Oktober 1948), hält er sich in seiner Darstellung nicht streng an die Chronologie der Ereignisse, sondern springt zeitlich vor und zurück. Zugleich wechselt er auch zwischen den Handlungssträngen.

Der sachliche Ich-Erzähler hält sich im Hintergrund und weist mehrmals darauf hin, dass er sich in seiner Darstellung auf den handgeschriebenen Lebenslauf von Efraim Markström bezieht, mit dessen Beerdigung der 31 Seiten lange (!) Prolog beginnt. Diese Hinweise wirken wie ein Verfremdungseffekt beim Epischen Theater. Damit wird der Leser auf Distanz gehalten, zumal es auch keine Identifikationsfigur gibt.

Die epische Breite, mit der Per Olov Enquist erzählt, ist literarisch ambitioniert, aber zumindest in der deutschen Übersetzung sind einige Absätze stilistisch entgleist.

[…] und dann stand Lewi auf. Er ging die acht Schritte zum Rednerpult mit dem Wort JESUS, dem Rednerpult, das exakt an dem Punkt in der Mitte stand, an dem es den akustischen Analysen aus Paris von damals zufolge stehen sollte, bevor es schräg nach links versetzt wurde, wo die Akustik schlechter war, doch das war erst später, als Lewi heimgerufen und fort war und man umgebaut hatte und die Akustik sich verschlechtert hatte; er stand auf und begann zu reden. (Seite 555)

Die von Per Olov Enquist offenbar angestrebte Redundanz wird nicht zuletzt durch Wiederholungen erzielt, die jedoch nicht wie in einem Musikstück klingen, sondern stören.

Lewi sollte eine Ehefrau haben, war die Auffassung der Brüder gewesen; er hatte ihnen nicht geantwortet, dann heiratete er, sie hieß Lydia und war Norwegerin […] Sie heirateten 1913. (Seite 199)
Sie heirateten im April 1913. (Seite 202)
Nach der Trauung, die im April 1913 in Lydias Heimatgemeinde in Kragerø stattfand […] (Seite 203)
Lewi hatte am 13. April 1913 geheiratet. (Seite 223)

Lewis und Lydias Ehe war ungewöhnlich glücklich. (Seite 203)
Es war eine glückliche Ehe. (Seite 204)
Lewis und Lydias Ehe war durch und durch glücklich. (Seite 207)

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2006
Textauszüge: © Carl Hanser Verlag

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