Marcello Fois : Schwestern

Schwestern
Originalausgabe: L'importanza dei luoghi comuni Giulio Einaudi editore, Turin 2013 Schwestern. Die alte Geschichte Übersetzung: Esther Hansen Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2015 ISBN: 978-3-8031-1312-2, 137 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Als die Zwillingsschwestern Marinella und Alessandra acht oder neun Jahre alt waren, trennten sich die Eltern, und der Vater verließ sie. 40 Jahre später verabreden sie sich in der Wohnung des kurz zuvor gestor­be­nen Vaters. Sie haben sich grund­verschieden entwickelt, und ihre Ansichten stimmen nur selten überein. Kaum stehen sie zusammen in der Wohnung, geraten sie wieder in ein Wortgefecht. Eine Nachbarin, die dem Verstorbenen sehr viel näher stand als dessen Töchter, bleibt von den Aggressionen nicht ausgenommen ...
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Kritik

"Schwestern. Die alte Geschichte" ist ein hintergründiges Kammerspiel von Marcello Fois. Die Erzählung besteht fast nur aus Dialogen. Dieser Ansatz ist ein Zeichen des literarischen Niveaus, aber zu viel bleibt ausgespart oder wird nur angedeutet.
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Als die Zwillingsschwestern Marinella und Alessandra noch Kinder waren, trennten sich die Eltern, und der Vater Ernesto Cappello verließ sie. Alessandra meint, sie seien damals acht Jahre alt gewesen, aber Marinella ist überzeugt, dass die Familie ihren neunten Geburtstag noch zusammen gefeiert habe. Alessandra wurde nach dem Weggang des Vaters aggressiv, Marinella introvertiert. Fast zur gleichen Zeit erkrankte Marinella an Hirnhautentzündung. Sie glaubt, während ihres Krankenhaus-Aufenthaltes ihren Vater gesehen zu haben, aber Alessandra behauptet, er sei nicht da gewesen.

40 Jahre später verabreden sie sich in der Wohnung des kurz zuvor gestorbenen Vaters. Während Alessandra einen Ehemann und zwei Kinder hat, ist Marinella unverheiratet geblieben. Alessandra betreibt eine Event-Agentur und muss ständig Anweisungen übers Handy geben. Sie ist krankhaft ehrgeizig. Marinella studierte Astrophysik, aber die angestrebte Forschungsstelle an einer Universität hat sie bis heute nicht bekommen. Alessandra meint, dass ihre Schwester auch nicht genügend dafür getan und Gelegenheiten verpasst habe.

„Ich meine nur, dass du wie immer nicht genug für das kämpfst, was dich wirklich interessiert“, setzt Alessandra ihren Hieb.

Die Zwillingsschwestern stehen erst ein paar Minuten in der Wohnung ihres toten Vaters zusammen, als sie bereits ein Wortgefecht führen. Sie haben sich grundverschieden entwickelt, und ihre Ansichten stimmen nur selten überein. Alessandra wirft Marinella vor, auf Pump zu leben und sich nicht einmal eine anständige Wohnung leisten zu können. Außerdem ist sie überzeugt, dass Marinella immer so sein wollte wie sie. Marinella erinnert sich, wie sie im Alter von fünf Jahren aufs Bett gefesselt aufwachte und Alessandra sie glauben machte, dass sie von Marsmenschen überwältigt worden sei. Marinella sah ihre Rolle als Opfer der Schwester, die sie ihre Überlegenheit ständig spüren ließ. Als sie noch Kinder waren, erzählt Alessandra, habe die Mutter einmal Folgendes zu ihr gesagt:

„Schau mal, meine Tochter, deine Schwester kann viele Schlachten verlieren, aber am Ende gewinnt sie den Krieg.“

Eine gewiss über 65 Jahre alte Nachbarin, die mit Ernesto Cappello eng befreundet war, kommt herüber und bringt den jüngeren Frauen selbstgebackene Kekse, aber Alessandra greift sie sofort mit Worten an. Ernesto habe ihr des Öfteren von seinen Töchtern erzählt, sagt die Nachbarin und erwähnt, dass Alessandra ihn vor einigen Monaten besuchte, um sich das Erbe zu sichern. Marinella wundert sich darüber, denn Alessandra beteuerte bei jeder Gelegenheit, dass sie nichts haben und den Vater nie mehr wiedersehen wolle. Darüber hinaus schärfte sie Marinella ein, sie dürfe nicht mit dem Vater in Kontakt treten.

Als die Nachbarin fort ist, beichtet Marinella ihrer Schwester, dass sie ebenfalls hier gewesen sei. Sie habe es verschwiegen, weil Alessandra ihr sonst Ansprüche auf die Wohnung unterstellt hätte. Dabei benötige Alessandra die Wohnung gar nicht. Alessandra widerspricht: Möglicherweise habe sie doch eine Verwendung dafür, denn vor einem Jahr gestand ihr Ehemann, dass er eine Geliebte habe und sich von der Familie zu trennen beabsichtige.

„Ich werde euch jedenfalls nicht mittellos zurücklassen … Dich und die Kinder, meine ich …“

Daraufhin vertraut Marinella ihrer Schwester an, dass sie vor einem Jahr in einer Bar einen Mann kennengelernt habe, der inzwischen die Liebe ihres Lebens geworden sei. Seinen Namen – Giulio – nennt sie nicht.

Die Nachbarin kehrt mit einem Brief Ernestos zurück und gibt ihn Marinella zu lesen, während Alessandra sich in einem anderen Raum aufhält. In dem Schreiben heißt es, seine Freundin und Nachbarin solle die Wohnung nach seinem Tod bekommen. Die ältere Frau beteuert, dass sie Ernesto vom Schreiben dieses Briefes habe abhalten wollen, ihr das aber nicht gelungen sei. Vergeblich habe sie ihn auf die Vorrechte seiner Töchter hingewiesen.

Und er sagte: „Sie sollen darum kämpfen müssen.“

Marinella erklärt sich mit der Regelung einverstanden und verspricht, dass sie ihre Schwester entsprechend beeinflussen werde:

Sie verlassen sich auf mich, ich kenne meine Schwester, man muss sie genau dorthin führen, wo sie hin soll. Sie kann alles ertragen, außer der Vorstellung, keine Wahl zu haben. Wenn man sie in die Ecke drängt, schlägt sie um sich …

Bevor die Nachbarin wieder geht, macht sie Marinella Vorwürfe. Am Tag bevor Marinella sich nach 40 Jahren bei ihrem Vater meldete, erfuhr er vom Arzt, dass er nur noch wenige Monate leben werde. Weil Marinella ihn dann zweimal pro Monat besuchte, glaubte er, eine der Töchter wiedergewonnen zu haben. Aber am Heiligen Abend wartete er vergeblich auf sie, und das war für ihn eine schwere Enttäuschung.

„Es war alles gedeckt … Da habe ich begriffen …“
„Was haben Sie begriffen?“
„Dass Ihre ‚Güte‘ genauso grausam ist wie die Feindseligkeit Ihrer Schwester. Er war hier allein, der Tisch gedeckt, und er wartete auf Sie … Ein paar Stunden später ist er gestorben …“

Ohne eine abschließende Regelung getroffen zu haben, gehen die drei Frauen auseinander.

Marinella wird von Giulio in einer Bar erwartet. Trotz ihres Hasses brachte sie es nicht fertig, Alessandra mit der ganzen Wahrheit zu konfrontieren.

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In „Schwestern. Die alte Geschichte“ erzählt Marcello Fois von zwei inzwischen 48 Jahre alten Zwillingsschwestern, die sich grundverschieden entwickelt haben. Nach dem Tod ihres Vaters, mit dem sie 40 Jahre lang keinen Kontakt hatten, verabreden sie sich in dessen Wohnung und geraten sofort wieder in ein Wortgefecht.

„Schwestern. Die alte Geschichte“ ist ein hintergründiges Kammerspiel mit nicht mehr als drei Figuren: den Zwillingsschwestern und einer namenlosen Nachbarin, die dem Verstorbenen sehr viel näher stand als Marinella und Alessandra. Der einzige Schauplatz ist eine Wohnung. Eine Handlung im engeren Sinn gibt es nicht; die Erzählung besteht nur aus Dialogen, und die Zeitspanne beträgt allenfalls ein paar Stunden.

Dass Marcello Fois sich als Erzähler zurückhält, ist ein Zeichen des literarischen Niveaus von „Schwestern. Die alte Geschichte“, erschwert es jedoch den Lesern, sich ein Bild von den Beziehungen zu machen und sich in die Figuren einzufühlen, denn zu vieles bleibt ausgespart oder wird nur angedeutet.

Marcello Fois wurde 1960 in der sardischen Stadt Nuoro geboren. Mit Kriminalromanen mit dem Avvocato Bustianu machte er sich einen Namen.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2015
Textauszüge: © Verlag Klaus Wagenbach

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Mit einer weniger von grammatikalischen als von stilistischen Gesichtspunkten bestimmten Sprache hat Jean Améry in dem Roman "Die Schiffbrüchigen" das subtile Psychogramm eines hoffnungslosen Menschen gezeichnet.
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