Giorgio Fontana : Im Namen der Gerechtigkeit

Im Namen der Gerechtigkeit
Originalausgabe: Per legge superiore Sellerio editore, Palermo 2011 Im Namen der Gerechtigkeit Übersetzung: Karin Krieger Nagel & Kimche im Carl Hanser Verlag, München 2013 ISBN: 978-3-312-00573-4, 253 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die 31-jährige Journalistin Elena Vicenzi wendet sich an den mehr als doppelt so alten Staatsanwalt Roberto Doni und versucht, ihn von der Unschuld des zu vier Jahren Haft verurteilten Tunesiers Khaled Ghezal zu überzeugen. Doni muss sich entscheiden, ob er einem vermutlich zu Unrecht Verurteilten im Berufungsverfahren zum Freispruch verhelfen soll – was massive persönliche Nachteile zur Folge hätte –, oder ob es besser wäre, den Prozess einfach laufen zu lassen ...
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Kritik

Obwohl Giorgio Fontana in "Im Namen der Gerechtigkeit" Thriller-Elemente verwendet, verzichtet er auf einen Spannungsbogen und nimmt sich viel Zeit, das Dilemma des Staatsanwalts und dessen Gedanken nachzuvollziehen.
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Der Mailänder Oberstaatsanwalt Roberto Doni ist 65 Jahre alt und hofft auf eine angenehme Versetzung in die Provinz als letzte Station vor der Pensionierung. Mit seiner Frau Claudia, einer vier Jahre jüngeren Musikerin, hat er eine Tochter. Elisa studiert an der Indiana University Bloomington.

Immer wieder fallen Doni die Spreiznieten auf, mit denen die Mauern des Justizpalastes vor dem Einsturz bewahrt werden.

Die Stätte der Gerechtigkeit den höheren Gesetzen der Materie unterworfen.

Doni hat sich zeitlebens bemüht, korrekt zu handeln. „Ausnahmen ja, Fehler nein“, lautet seine Devise. Gewiss ist er selbstgerecht, aber Pflichtverletzungen verabscheut er tatsächlich. Nur widerwillig hilft er einem Kollegen, der sich durch den Besuch von Pornoseiten auf seinem Dienstcomputer einen Virus eingefangen hat. Selbstverständlich weiß Doni, dass es vor Gericht auf formale Beweise statt auf Wahrheit und Gerechtigkeit ankommt, aber er hält am bestehenden Justizsystem fest:

„Ich glaube, Recht und Gesetz sind die einzige Annäherung an die Gerechtigkeit, die wir haben. Ich räume durchaus ein, dass dem Gesetzgeber Fehler unterlaufen können, ich meine nur, dass wir im Chaos enden, wenn wir uns in der Suche nach der reinen Gerechtigkeit ergehen. Und jede Ordnung ist besser als Chaos.“

Sein Kollege Michele Salvatori fragt ihn einmal um Rat. Ein 21-jähriger Beamter der Guardia di Finanza war zwei Wochen zuvor an einer Steuerprüfung beteiligt. Die Kontrolleure stießen auf Unregelmäßigkeiten, aber der Brigadiere ließ sich von dem Unternehmer bestechen und gab auch seinen drei Untergebenen etwas von dem Schmiergeld ab. Der junge Mann wagte es nicht, zu widersprechen und nahm seinen Anteil entgegen, gestand jedoch alles kurz darauf seinem Vater, der wiederum Salvatori um Rat fragte. Doni ist entsetzt darüber, dass Salvatori mit dem Gedanken spielt, die Angelegenheit unter den Tisch fallen zu lassen und darauf hinweist, dass der junge Mann beabsichtigt, seinen Anteil für gemeinnützige Zwecke zu spenden. Doni fordert seinen Kollegen zur strafrechtlichen Verfolgung der Täter auf und droht ihm andernfalls mit einer Anzeige wegen Pflichtverletzung.

Eine E-Mail, die sich auf einen in drei Wochen anstehenden Berufungsprozess bezieht, löscht er, ohne sie zu beantworten. Zwei Tage später taucht die Absenderin bei ihm im Büro auf. Die 31-Jährige heißt Elena Vicenzi, arbeitet als freiberufliche Journalistin, und weil sie dabei nicht genügend verdient, hiflt sie nebenbei in einer Buchhandlung aus. Sie möchte Doni von der Unschuld des Verurteilten Khaled Ghezal überzeugen.

Der 25-jährige Tunesier wurde wegen Raubes, versuchter Nötigung und schwerer Körperverletzung zu vier Jahren Haft verurteilt. Khaled Ghezal war vor vier Jahren mit seiner Schwester nach Italien gekommen, hatte eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen und arbeitete als Maurer. Er soll einer der drei dunkelhäutigen Immigranten gewesen sein, die den 28-jährigen Antonio dell’Aqua und dessen fünf Jahre jüngere Freundin Elisabetta Medda auf der Straße überfielen. Als Antonio die Studentin zu verteidigen versuchte, fielen zwei Schüsse. Elisabetta wurde getroffen und ist nun querschnittgelähmt. Anhand von Fotos, die ihr die Polizei vorlegte, identifizierte sie Khaled Ghezal als einen der drei Verbrecher. Der Moslem wurde von dem Richter Michele Franzulla verurteilt, aber sowohl der Pflichtverteidiger, als auch die Nebenkläger und der Staatsanwalt legten Berufung gegen das Urteil ein.

Elena Vicenzi hat sich mit dem Fall beschäftigt und Bekannte von Khaled Ghezal befragt. Nach allem, was sie hörte, ist Khaled Ghezal unschuldig und nicht einmal am Tatort gewesen. Aber die Einwanderer, mit denen die Journalistin sprach, sträuben sich dagegen, bei der Polizei oder vor Gericht auszusagen, denn sie haben keine Aufenthaltsgenehmigung und fürchten, abgeschoben zu werden. Warum sie mit diesen Informationen zum Vertreter der Anklage statt zum Verteidiger gehe, fragt Roberto Doni. Elena antwortet, sie halte den Anwalt Enrico Caterini für unfähig.

Doni versucht, die lästige Journalistin so rasch wie möglich loszuwerden, aber sie gibt nicht auf. Schließlich lässt er sich überreden, mit ihr zusammen zwei Bauarbeiter aufzusuchen, die Khaled Ghezal gut kennen. Die beiden Tunesier, Tarek und sein Cousin Riadh, halten sich illegal in Italien auf. Sie versichern dem Staatsanwalt, dass Khaled ein anständiger Kerl sei, der nie eine Waffe besessen habe und niemandem etwas antun würde.

Khaleds Schwester Yasmina berichtet Roberto Doni und Elena Vicenzi, wie sie und ihr Bruder mit einem Schiff nach Italien kamen. Ein Ägypter namens Mohamed besorgte Khaled eine Wohnung und Arbeit auf einer Baustelle. Schließlich bekam er eine Aufenthaltserlaubnis. Die Wohnung teilte Khaled sich bis zuletzt mit seiner Schwester, die ohne Genehmigung in Italien lebt. Yasmina behauptet, Khaled sei zur Tatzeit bei Mohamed gewesen, wolle jedoch nicht, dass sein ägyptischer Freund, der so viel für ihn getan hat, in die Sache mit hineingezogen wird und habe ihr deshalb verboten, dessen Namen zu nennen. Obwohl Mohamed ihm ein Alibi geben könnte, ließ Khalid sich offenbar aus Loyalität lieber verurteilen, als den Freund als Zeugen zu benennen.

Zehn Tage vor dem Prozess arrangiert Elena ein Treffen mit Mohamed Farag. Der 38-Jährige besteht auf einer ganzen Reihe von Vorsichtsmaßnahmen, damit er möglichst nicht mit der Journalistin und dem Staatsanwalt zusammen gesehen wird. Er kam vor 15 Jahren nach Italien, besitzt eine Aufenthaltserlaubnis und arbeitet als Pizzabäcker. In dem kurzen Gespräch bestätigt er, dass Khalid zur Tatzeit bei ihm gewesen sei. Die Frage, ob er die Männer kenne, die auf das italienische Paar schossen, beantwortet er ebenso wenig wie die, ob er bedroht werde.

Während Doni kurz darauf in Rom zu tun hat, wird Mohamed Farag erschossen.

Daraufhin vermutet der Staatsanwalt folgenden Ablauf:

„Khaled war nicht am Tatort, er war bei Mohamed. Das Mädchen hat ihn in der Verbrecherkartei mit einem anderen verwechselt, und ihr Freund hat ihre Aussage bestätigt, aus Angst und aus dem Bedürfnis heraus, einen Schuldigen zu finden. Der Mann, der geschossen hat, gehört zu einer größeren Organisation, oder jedenfalls zu einer, die groß genug ist, um sofort alles über den Verhafteten in Erfahrung zu bringen und dafür zu sorgen, dass er auch verurteilt wird. Wahrscheinlich wird Mohamed bedroht. Der Umstand, dass Khaled aus Dankbarkeit seinem Freund gegenüber, der ihm geholfen hat, dessen Namen nicht preisgibt, beruhigt sie. Dann trete ich mit der Journalistin auf den Plan. Sie erfahren von dem Gespräch und ermorden Mohamed, als Warnung.“

Was soll er tun? Am einfachsten wäre es, der Sache ihren Lauf zu lassen. Dann würde das Gericht voraussichtlich das Urteil gegen einen vermutlich Unschuldigen bestätigen. Inzwischen hat Doni Formfehler im ersten Verfahren entdeckt. Unter Hinweis darauf könnte er einen Freispruch beantragen. Aber das bliebe nicht ohne Konsequenzen für ihn selbst.

Wie es wohl ausgehen würde?
Er wusste, wie es ausgehen würde. Entrüstete Nebenkläger, gegen ihn gerichtete Blogs und Nachrichten. Eine Anzeige von den Eltern des Mädchens. Gesellschaftlicher Gesichtsverlust. Ein wütender Vorsitzender des Strafsenats. Eine Anhörung im Parlament.
Überall würde man ihn angreifen […]
Addio, Staatsanwaltschaft in der Provinz, addio, Seelenruhe, addio Claudia und Elisa.

Der Roman endet mit den Worten:

Er tat den ersten Schritt auf dem Bürgersteig. Von seiner Wohnung waren es zu Fuß zwölf Minuten.
Vielleicht würden die Nägel für immer im Justizpalast bleiben. Er nicht.

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„Im Namen der Gerechtigkeit“ weist zwar Elemente aus dem Thriller-Genre auf, doch im Mittelpunkt des Romans von Giorgio Fontana (* 1981) steht nicht die Aufklärung eines Kriminalfalls, sondern die Psyche eines 65-jährigen Staatsanwalts, der sich entscheiden muss, ob er einem vermutlich zu Unrecht verurteilten Tunesier im Berufungsverfahren zum Freispruch verhelfen soll – was massive persönliche Nachteile zur Folge hätte –, oder ob es besser wäre, den Prozess einfach laufen zu lassen. In dieses Dilemma gerät ausgerechnet ein Staatsanwalt, der sehr wohl zwischen Rechtsprechung und Gerechtigkeit zu unterschieden weiß und in seinem ganzen Berufsleben darauf geachtet hat, keine (formaljuristischen) Fehler zu machen. „Im Namen der Gerechtigkeit“ dreht sich vor allem um den Gegensatz zwischen Justizverfahren und Wahrheitsfindung, aber Giorgio Fontana streift auch noch andere Themen: Migration, Heldentum im heutigen Leben, Altern in Würde. Darüber hinaus geht es in „Im Namen der Gerechtigkeit“ seitenlang um Kunst, Musik und Literatur.

Geradezu demonstrativ baut Giorgio Fontana retardierende Passagen ein. Er verzichtet absichtlich auf einen Spannungsbogen und nimmt sich viel Zeit, die widersprüchlichen Gedanken und Beweggründe des Staatsanwalts nachvollziehbar zu machen. Entsprechend intensiv wird in dem Roman „Im Namen der Gerechtigkeit“ diskutiert und reflektiert. An der einen oder anderen Stelle muss man ein wenig Geduld aufbringen, aber die Auseinandersetzung des Protagonisten mit dem Dilemma ist anregend.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2013
Textauszüge: © Nagel & Kimche im Carl Hanser Verlag

Günter de Bruyn - Zwischenbilanz
Wenn der 60-Jährige sich an seine Kindheit und Jugend erinnert, versucht er nicht, sich zum Helden zu stilisieren oder die Erlebnisse zu dramatisieren, sondern er erzählt schlicht und besonnen, leise und mit feinem Humor. Unaufdringlich kommt er auch auf den Nationalsozialismus, den Zweiten Weltkrieg und die Gründung der DDR zu sprechen.
Zwischenbilanz