Richard Ford : Abendländer

Abendländer
Originaltitel: Occidentals Alfred A. Knopf, New York 1997 Abendländer Übersetzung: Fredeke Arnim Berlin Verlag, Berlin 1998
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Ein erfolgloser siebenunddreißigjähriger Amerikaner, der aus Überdruss seine Lehrertätigkeit aufgab und einen kaum beachteten Roman über seine gescheiterte Ehe schrieb, reist mit seiner krebskranken Geliebten für ein paar Tage nach Paris. Er sucht nach einem Neuanfang, kann sich jedoch für nichts begeistern und schiebt Entscheidungen vor sich her.
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Kritik

Präzise, nüchtern und realistisch beobachtet Richard Ford in seiner melancholischen Novelle "Abendländer" einen Mann, der sich in einer Lebenskrise (Midlife Crisis) befindet und während eines kurzen Aufenthalts in Paris über sein Leben nachdenkt.
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Charley Matthews wurde am 22. März 1959 geboren. Jetzt ist er siebenunddreißig Jahre alt. Seine Eltern führen noch immer in Cleveland, Ohio, ein einträgliches Möbelhaus, aber er hat sich immer gesträubt, in die Geschäftsleitung einzutreten. Weil er in Oxford nicht zugelassen wurde, promovierte er an einer gering geschätzten amerikanischen Universität. Kurz zuvor hatte man ihn angerufen und gefragt, ob er am Wilmot College für eine schwarze Professorin, die gekündigt hatte, vorübergehend einspringen könne. Nach zwei Tagen Vorbereitung übernahm er ihre Vorlesung über die sexuelle Metaphorik in Langston Hughes‘ später Lyrik. Daraus wurde eine Dauerstellung, die er vor zwei Jahren aus Überdruss kündigte.

Das war die Zeit, als ihn seine Ehefrau Penny mit der damals vierjährigen Tochter Lelia wegen eines Studenten verließ und in die Nähe von San Francisco zog, wo sie immer noch lebt, obwohl sie längst nicht mehr mit dem Studenten zusammen ist.

In der Absicht, ein „präzises Porträt“ seiner gescheiterten Ehe wiederzugeben, schrieb er einen Roman mit dem Titel „Das Dilemma“, der zwar veröffentlicht aber kaum beachtet wurde. Die Protagonistin Greta verlässt ihren Ehemann, um mit ihrem Geliebten, einem sportlichen katholischen Priester, der gerade „seinen Ornat an den Nagel hängen“ will, nach Paris zu fliegen. Dort kommt sie bei einem Verkehrsunfall ums Leben.

Schon lange hatte Charley nichts mehr von seinem Verlag gehört, bis ihn neulich eine Mitarbeiterin anrief und ihm mitteilte, dass „Éditions des Châtaigniers“ seinen Roman in französischer Sprache herausbringen wolle. Um sich mit dem Lektor François Blumberg zu treffen, fliegt Charley in der Woche vor Weihnachten 1996 von Ohio nach Paris.

Begleitet wird er von Helen Carmichael, die zu der Zeit, als Penny sich von ihm trennte, seine Geliebte wurde. Sie war bereits dreimal verheiratet, hat aber keine Kinder.

Helen war acht Jahre älter als er, eine hochgewachsene knochige, nicht gerade zierliche aschblonde Frau mit der großbusigen Figur einer Revuetänzerin, einem breiten, sinnlichen Mund und großen gutmütigen Augen hinter einer Hornbrille. (Seite 19)

Helen begegnete der Welt auf eine gesunde, praktische, zupackende Weise, voller Gutmütigkeit, aber angesichts seiner Langeweile verstummte sie oft. (Seite 29)

In Charleys Roman kommt eine Figur vor, bei der er an Helen gedacht hatte. Allerdings trägt sie vor allem deren weniger schmeichelhafte Züge. Deshalb fürchtet Charley sich davor, dass Helen irgendwann einmal den Roman lesen möchte.

Charley und Helen planen, zwei Tage in Paris zu bleiben und dann weiter nach Oxford zu reisen. Kurz nach ihrer Ankunft in einem schäbigen Hotel ruft François Blumberg an und sagt das Treffen ab, weil er Weihnachten nun doch mit seiner Frau und den vier Kindern am Indischen Ozean verbringen wolle. Er vertröstet Charley heuchlerisch auf ein nächstes Mal und schlägt ihm noch vor, sich mit seiner Übersetzerin zu treffen, Madame de Grenelle, die allerdings erst in vier Tagen von einer Reise nach Paris zurückkehren wird.

Obwohl das Wetter schlecht ist und Helen sich mehrmals übergeben muss – sie nimmt Tabletten gegen eine Krebserkrankung, redet aber nicht gern darüber –, lässt sie es sich nicht nehmen, die Sehenswürdigkeiten von Paris zu besichtigen. Auf der ersten Plattform des Eiffelturms, in 57 m Höhe, wird ihr erneut übel, und sie sucht eine Toilette auf. Dann kommt sie mit zwei amerikanischen Bekannten zu Charley zurück und stellt sie ihm vor: Rex Mountjoy und Beatrice („Schmusi“). Ohne ihn zu fragen, hat sie sich mit Rex und Schmusi zum Abendessen im Clancy’s verabredet.

Als Helen im Hotelzimmer aus dem Bad kommt und frische Wäsche aus ihrem Koffer holt, um sich für den Restaurantbesuch anzuziehen, fallen Charley zwei große Hämatome an ihren Oberschenkeln auf, aber sie meint nur, sie habe sich irgendwo gestoßen.

Nachts hört Charley, wie Helen sich im Bad übergibt.

Als er am nächsten Vormittag um 11 Uhr erwacht, schläft sie noch. Vorsichtig zieht er sich an und hinterlässt ihr eine Nachricht, er werde bis 13 Uhr zurück sein und sie zu einer Bootsfahrt abholen. Allein schlendert er durch die Straßen.

In einem Spielzeuggeschäft sucht er ein Weihnachtsgeschenk für seine inzwischen sechs Jahre alte Tochter Lelia aus, die er seit fast zwei Jahren nicht sehen durfte: eine digitale Wandtafel, die er nach Kalifornien schicken lässt.

Er überlegt, ob er sich zu Hause in Ohio still und leise von Helen trennen soll. Auf jeden Fall, so beschließt er, wird er gleich nach der Rückkehr in die von Penny angestrebte Scheidung einwilligen und die Entscheidung darüber nicht länger aufschieben.

Dann erinnert er sich daran, wie er Penny ein einziges Mal mit einer anderen Frau betrog. Charley hatte eine kurze Affäre mit Margie McDermott, einer ebenfalls verheirateten Frau. Sie beendeten jedoch ihr Verhältnis nach kurzer Zeit wieder, weil es ihnen zu riskant war. Ein halbes Jahr später trennte sich Margie von ihrem Mann Parnell, ließ ihre drei Kinder bei ihm in Ohio zurück und flog nach Paris. Sie schrieb ihm einmal ihre Adresse und teilte ihm mit, dass sie eine Stelle als Telefonistin bei „American Express“ in Paris gefunden hatte. Margie muss in dem Stadtviertel wohnen, in dem er gerade spazieren geht. Er ruft sie von einer Telefonzelle an. Als sie ihn fragt, ob er in Ohio sei, will er ihr plötzlich nicht mehr verraten, dass er sich in Paris befindet, und er behauptet, von Pittsburgh aus anzurufen. Margie erzählt ihm, Parnell sei ihr mit den Kindern nachgekommen und lebe jetzt wieder mit ihr zusammen. Als Vertreter sei er viel unterwegs, und wenn Charley einmal nach Paris käme, würde sie sich gern mit ihm treffen.

Etwas verspätet kehrt Charley ins Hotel zurück, um mit Helen zusammen essen zu gehen. In der Hotelhalle kommt ihm ein indischer oder pakistanischer Hotelangestellter entgegen.

Er trug einen dunkelblauen Anzug, ein weißes Hemd und eine dunkelgrüne Krawatte; sein schwarzes Haar war präzise gescheitelt und gekämmt. Er lächelte etwas angestrengt, und Matthews konnte deutlich sein dunkles Zahnfleisch sehen. Er schien besorgt – vielleicht ging es darum, wie lange sie noch bleiben würden, oder es gab ein Problem mit der Kreditkarte; Dinge, die Matthews bereits mit anderen Angestellten des Hotels besprochen hatte, was diesem Mann aber offensichtlich noch nicht mitgeteilt worden war. Alles war geregelt. Er würde in zwei Tagen Madame de Grenelle sehen und dann würden sie, wenn sich Helen gut genug fühlte, abreisen.
„Es gibt ein Problem“, sagte der indische Hotelangestellte auf englisch. Er kam direkt auf Matthews zu und stellte sich ganz dicht neben ihn, als wollte er gleich flüstern. Aber eigentlich sprach er zu laut: „Ein ernstes Problem“, sagte er. Matthews hatte sich bereits, was die Kreditkarte betraf, eine Antwort auf französisch zurechtgelegt.
„Was für ein Problem“, sagte er. Ein jüngerer Inder stand allein hinter dem Empfang, die Hände auf der Theke. Er starrte Matthews an und schien ebenfalls besorgt.
„Die Frau in Zimmer einundvierzig“, sagte der Inder und blickte kurz zum Empfang hinüber. „Es tut mir Leid. Sie sind doch in einundvierzig? Ist das richtig? Seine Mundwinkel zuckten kaum wahrnehmbar. Vielleicht unterdrückte er ein Lächeln. Was hatte Helen getan, worüber er sich so amüsierte?
„Es ist meine Frau“, sagte Matthews. „Sie hat Jetlag. Wenn Sie das Zimmer aufräumen möchten, können wir etwas essen gehen.“
„Es tut mir Leid“, sagte der indische Hotelangestellte. […]
Und dann begann der Mann zu erklären, worin das Problem bestand. (Seite 141ff)

Helen liegt tot auf dem Bett. Auf dem Nachttisch findet Charley einen Abschiedsbrief. Da fällt ihm ein, dass er unterwegs Blumen für sie kaufen wollte und es dann doch vergaß.

Zwei Tage später besucht Charley die Übersetzerin, Madame de Grenelle, eine marokkanisch wirkende Dame um die fünfzig. Sie nimmt an, dass sein Roman autobiografisch ist, aber er leugnet es. Da meint sie:

„Oft merkt man erst, wovon ein Buch handelt, nachdem man es geschrieben hat. Manchmal, nachdem es jemand übersetzt hat und es einem erklärt.“ (Seite 150)

Die französische Ausgabe müsse ein wenig witziger wirken, erklärt sie ihm.

„Also. Auf englisch ist es noch nicht ganz fertig. Weil man sich nicht auf den Erzähler verlassen kann. Das Ich, das sitzengelassen wurde. Während des ganzen Buches weiß man nie genau, ob man ihn überhaupt ernst nehmen kann. Das ist noch nicht deutlich genug. Meinen Sie nicht auch? […]
Aber auf französisch kann ich viel deutlicher herausarbeiten, dass wir dem Erzähler nicht trauen sollten, auch wenn wir es versuchen. Dass es sich um eine Satire handelt, die uns unterhalten soll. So etwas würden die Franzosen erwarten.“ (Seite 151f)

Nach dem Gespräch mit Madame de Grenelle, das sich keineswegs ausschließlich um seinen Roman drehte, hat Charley eine Vorstellung von seiner Zukunft und weiß, dass ein neuer Lebensabschnitt beginnt. Er wird doch noch nach Oxford reisen und erst zu Jahresbeginn in die USA zurückkehren.

Er hatte das Gefühl, einen langen Kampf hinter sich zu haben. Vieles, so ahnte er, hatte mit der Empfindung des Fremdseins zu tun, mit dem Einsetzen der Einsamkeit und einer Sehnsucht, falls er hierbliebe. (Seite 152)

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Präzise, nüchtern und realistisch, aber auch mit etwas Ironie schildert Richard Ford in seiner Novelle „Abendländer“ den erfolglosen siebenunddreißigjährigen Amerikaner Charley Matthews, der mit seiner krebskranken Geliebten Helen Carmichael Paris besucht, aber vor allem über sich und seine Frau nachdenkt, die ihn vor zwei Jahren mit der gemeinsamen Tochter verließ. Charley hatte zwar aus Überdruss seinen Job aufgegeben und einen kaum beachteten Roman über seine gescheiterte Ehe geschrieben, aber er sucht immer noch nach einem Neuanfang (Midlife Crisis). Nichts kann ihn begeistern, und Entscheidungen schiebt er vor sich her. Paris kommt ihm grau und trostlos vor. Helens Umtriebigkeit ist ihm so lästig wie ihre ständige sexuelle Bereitschaft, und während eines einsamen Spaziergangs überlegt er, ob er sich von ihr trennen soll. Er ruft eine in Paris lebende frühere Geliebte an, verheimlicht ihr dann aber, dass er in der Stadt und möglicherweise in ihrer unmittelbaren Nähe ist. Der Suizid seiner Geliebten und ein Gespräch mit seiner Übersetzerin (!) wirken wie eine Katharsis auf ihn: Ein neuer Lebensabschnitt beginnt für ihn.

Ich bemühe mich, nur über die wichtigsten Dinge zu schreiben: Über die Weise, wie die Menschen sich zu retten versuchen; wie man seine Liebe zum Leben aufrechterhalten kann; wie man seine Geschichte überlebt. (Richard Ford, Zitat auf dem Buchrücken)

Für seinen Roman „Unabhängigkeitstag“ erhielt Richard Ford den Pulitzerpreis.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2004
Textauszüge: © Berlin Verlag

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