Jonathan Franzen : Unschuld

Unschuld
Originalausgabe: Purity Farrar, Straus and Giroux, New York 2015 Unschuld Übersetzung: Bettina Abarbanell und Eike Schönfeld Rowohlt Verlag, Reinbek 2015 ISBN: 978-3-498-02137-5, 864 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Wie Pip von ihrem spärlichen Gehalt beim Telefonmarketing die während des Studiums aufgelaufenen Schulden bezahlen soll, weiß sie nicht. Von ihrer als Kassiererin in einem Laden arbeitenden Mutter ist nichts zu erwarten. Ihr Vater könnte wenigstens ihre Schulden tilgen. Aber die Mutter verrät nicht, wer es ist. In der Hoffnung, ihn aufzuspüren, beginnt Pip in Bolivien ein Praktikum bei einer Enthül­lungs­plattform, die von einem Dissidenten der DDR gegründet wurde ...
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Kritik

"Unschuld" ist eine Mischung aus Thriller, Bildungsroman und Familien­drama. Jonathan Franzen geht es um Vertrauen und Verrat, Manipulation, die Diskrepanz zwischen Privatperson und Image, Kunden­fang mit vorge­scho­benen Argumenten und vieles mehr.
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Purity mag ihren Vornamen nicht. Sie bevorzugt den Spitznamen, den sie im Kindergarten bekam: Pip. Sie wuchs in einer von ihrer Mutter Penelope Tyler gemieteten Hütte in Felton/Kalifornien auf und ging in Santa Cruz zur Schule. Ihren Vater kennt Pip nicht. Sie weiß zwar, dass ihre Mutter vor langer Zeit eine andere Identität angenommen hat, aber darüber spricht die zu Hysterie und Hypochondrie neigende Mutter nicht mit Pip, und sie weigert sich, entsprechende Fragen zu beantworten.

Inzwischen ist Pip 23 Jahre alt und seit 22 Monaten im Direkt- bzw. Telefonmarketing bei Renewable Solutions beschäftigt, einer unbedeutenden Beraterfirma für Öko-Strom in Oakland. Sie ärgert sich darüber, dass sie sich beim Vorstellungsgespräch von der in Aussicht gestellten Provision („dreißig- oder vierzigtausend Dollar“) blenden ließ. Tatsächlich erhält sie kaum mehr als das Grundgehalt (21 000 $). Wie soll sie davon die Schulden in Höhe von 130 000 $ abbezahlen, die sie für ihr Volkswirtschafts-Studium aufnahm? Von der Mutter, die das Geld für den Lebensunterhalt an der Kasse eines Bioladens in Felton verdient, kann sie da auch nichts erwarten.

Eigentlich hat Pip kein Verlangen danach, ihren Vater kennenzulernen, aber er könnte ihre Schulden tilgen. Deshalb setzt sie ihre Mutter unter Druck:

„[…] ich brauche Geld, und du hast keins, und ich habe keins, und ich weiß nur einen Ort, wo ich wahrscheinlich welches bekomme. Es gibt bloß einen Menschen, der mir, und sei es theoretisch, etwas schuldet. Also werden wir darüber reden.“

Mit einigen anderen Personen wohnt sie in einem Haus in Oakland, das einem Mann Mitte 40 namens Dreyfuss gehört, der wegen seiner Schizophrenie Psychopharmaka nehmen muss und deshalb erwerbsunfähig ist. Er gehört der Occupy-Bewegung an und hat von Anfang an mittellose Gleichgesinnte aufgenommen, die sich an den Neben-, Reparatur- und Lebenshaltungskosten beteiligten. Einer von ihnen ist der geistig behinderte Ramón, der zunächst mit seinem Bruder Eduardo in dem Haus wohnte, bis dieser von einem Wäschereitransporter totgefahren wurde. Ein Jahr zuvor war Ramón von dem ebenfalls hier lebenden und kaum älteren Ehepaar Marie und Stephen adoptiert worden.

Eines Abends nimmt Pip einen neuen Bekannten mit in ihr Zimmer im zweiten Stock. Sie liegen bereits ausgezogen auf der Matratze, als Pip einfällt, dass sie noch Kondome aus dem Bad im Parterre holen muss. Sie schlüpft in einen Bademantel und bittet Jason Whitaker, kurz auf sie zu warten. Aber sie wird von der vorübergehend mit ihrem Freund Martin im Haus wohnenden Deutschen Annagret aufgehalten, die sie drängt, sich für ein Praktikum bei dem von Andreas Wolf geleiteten „Sunlight Project“ zu bewerben.

Diese im Jahr 2000 von Andreas Wolf in Berlin gegründete Enthüllungsplattform hat bislang 30 000 vertrauliche E-Mails vor allem aus der Bank of Relentless Pursuit veröffentlicht. Ähnlich wie bei Wikileaks geht es um Transparenz. Andreas Wolf beansprucht jedoch, im Gegensatz zu Julian Assange nicht wahllos alles Geheime an die Öffentlichkeit zu zerren, sondern gezielt gegen soziale Ungerechtigkeiten zu kämpfen.

Als Pip nach über einer Stunde von Annagret loskommt und zu Jason zurückkommt, hat dieser sich bereits wieder angezogen, und sie geraten in Streit.

Marie trennt sich nach 15 Jahren Ehe von ihrem Mann, beansprucht das alleinige Sorgerecht für Ramón und bringt ihn im St.-Agnes-Heim unter, das von ihrem neuen Lebensgefährten, dem 47 Jahre alten Witwer Vincent Olivieri geleitet wird.

Pip hat sich längst in Stephen verliebt, doch sie wird enttäuscht, als sie glaubt, dass er sich nach Maries Auszug auf ein festes Liebesverhältnis mit ihr einlässt. Stattdessen weist er sie darauf hin, dass sie für ihn und Marie so etwas wie eine Ersatztochter sei. Als sie daraufhin ihren Pullover auszieht und ihre entblößten Brüste an ihm reibt, meint er: „Im Ernst, Pip. Das ist total krank.“

Annagret teilt Pip mit, sie habe sich bei Andreas Wolf für sie eingesetzt und Pip könne als Praktikantin beim „Sunlight Project“ anfangen. Möglicherweise, so Annagret weiter, könne Pip mit dem Hacker-Instrumentarium des Projekts auch ihren Vater finden. Pip kündigt daraufhin bei Renewable Solutions und stellt ihre Mutter vor die Wahl:

„Zwei Möglichkeiten. Die eine: Du hilfst mir, meinen Vater zu finden, damit ich versuchen kann, von ihm Geld zu kriegen. Die andere: Ich denke darüber nach, eine Weile nach Südamerika zu gehen. Wenn du möchtest, dass ich hierbleibe, musst du mir helfen, meinen Vater zu finden.“

Penelope Tyler lässt sich nicht umstimmen, und Pip fliegt daraufhin tatsächlich zu Andreas Wolf nach Bolivien.

Andreas Wolf wurde 1960 in der damaligen DDR geboren. Sein Stiefvater war das zweitjüngste je ins Zentralkomitee der SED berufene Parteimitglied und hatte den „kreativsten Posten in der Republik“:

Als oberster Staatsökonom war er für die pauschale Aufbereitung von Daten verantwortlich, sollte Produktivitätswachstum demonstrieren, wo keines war, einen ausgeglichenen Staatshaushalt vorweisen, der jedes Jahr weiter von der Realität wegdriftete, offizielle Wechselkurse korrigieren […]

Markus Wolf, der von 1952 bis 1986 die Hauptverwaltung Aufklärung leitete, den Auslandsnachrichtendienst im Ministerium für Staatssicherheit, war ein Onkel zweiten Grades von Andreas.

Eigentlich hätte Andreas in Hessenwinkel oder sogar Wandlitz aufwachsen müssen, jener Enklave, wo die Parteioberen ihre Villen hatten, doch seine Mutter hatte darauf bestanden, näher ans Stadtzentrum zu ziehen, und so lebten sie in einer der oberen Wohnungen mit großen Fenstern und Balkonen in der Karl-Marx-Allee.

Andreas‘ Großmutter mütterlicherseits besaß einen britischen Pass und war im „Dritten Reich“ mit ihrem Mann und den beiden Töchtern nach Liverpool emigriert, wo ihr Mann auf einer Werft arbeitete und für die Sowjetunion spionierte. Nach dem Krieg kehrte die Familie ohne die ältere Tochter, die inzwischen einen Musiker geheiratet hatte, nach Deutschland zurück. Der Vater erhängte sich 1948 in Rostock, die Mutter brach daraufhin zusammen und musste den Rest ihres Lebens in einer geschlossenen psychiatrischen Anstalt verbringen.

Katya, die jüngere Tochter, wurde ordentliche Professorin für Anglistik an der Humboldt-Universität. Ihren ersten Ehemann, Andreas‘ leiblichen Vater Peter Kronburg, hatte sie als einen ihrer Studenten kennengelernt. Im Februar 1963 – als Andreas noch keine drei Jahre alt war – verurteilte ihn ein Gericht wegen Staatszersetzung zu zehn Jahren Haft.

Nachdem Andreas im Alter von 15 Jahren von einer acht Meter hohen Brücke gesprungen war, brachte sein Stiefvater ihn zu dem Psychologen Dr. Gnel.

Angeklagt war er des versuchten Selbstmords, doch das Symptom, mit dem er vorstellig werden sollte, war exzessive Onanie.

Später studierte er Mathematik und Logik. Als die Literaturzeitschrift „Weimarer Beiträge“ ein regimekritisches Gedicht von Andreas veröffentlichte, bewahrte ihn zwar die einflussreiche Stellung seines Stiefvaters vor einer Festnahme, aber die Mutter drohte ihm mit einer Einweisung in die Psychiatrie. Obwohl Andreas zu den Atheisten gehörte, zog er in den Keller eines Pastorats, das sich um in Schwierigkeiten geratene Jugendliche kümmerte. Den Kontakt zu den Eltern brach er ab.

In den sieben Jahren, die darauf folgten, sah er seine Mutter nur zweimal, zufällig, aus der Ferne.

Andreas half bei der Jugendbetreuung in der Kirche mit und nutzte die Gelegenheiten, um mit möglichst vielen Mädchen Sex zu haben. Allerdings achtete er darauf, dass sie es freiwillig und bei mehr oder weniger klarem Verstand taten.

Die jungen Mädchen standen praktisch Schlange vor seinem Büro, um die Hose für ihn auszuziehen, und wenn sie glaubhaft versichern konnten, mindestens sechzehn zu sein, half er ihnen bei den Knöpfen. Auch das war natürlich eine Ironie des Schicksals. Er leistete dem Staat einen wertvollen Dienst, indem er asoziale Elemente überredete, in den Schoß des Systems zurückzukehren, und ihnen die Wahrheit sagte, sie andererseits aber eindringlich mahnte, selbst zurückhaltend damit zu sein – und für diesen Dienst wurde er mit Teenager-Muschis bezahlt.

In Ermangelung eines Bankkontos führte er im Geiste ein Koitus-Buch, in dem er regelmäßig nachlas, peinlich darauf bedacht, sich nicht nur Vor- und Nachnamen, sondern auch die genaue Reihenfolge zu merken, in der er die Mädchen gehabt hatte.

Mit dem 53. Mädchen, der rothaarigen Petra, erwischte ihn die Volkspolizei im Winter 1987/88 in der Datsche seiner Eltern am Müggelsee. Bald darauf lernte der 27-Jährige in der Kirche ein bildschönes 15 Jahre altes Mädchen kennen. Annagrets leiblicher Vater, ein Lastwagenmechaniker, war an einem Gehirntumor gestorben. Ihr Stiefvater Horst Werner Kleinholz missbrauchte sie, während die Mutter nachts als Krankenschwester arbeitete – und Betäubungsmittel stahl, die sie sowohl im Dienst als auch in der Freizeit nahm. Horst Kleinholz, der als Brigadier beim größten Elektrizitätswerk der Stadt angestellt war und Spitzeldienste für die Stasi leistete, wusste es und teilte das Geheimnis mit Annagret, der jüngeren seiner beiden Stieftöchter.

Die Vorstellung, dass Annagret von ihrem Stiefvater missbraucht wurde, war für Andreas unerträglich. Er bot ihr an, den Verbrecher zu töten und überredete sie, ihn in die Datsche am Müggelsee zu locken. Dort spannte Andreas zwischen zwei Geländerpfosten der Verandatreppe einen Draht, und als Horst Kleinholz darüber stolperte, erschlug er ihn mit einem Spaten. Obwohl er das Krachen des brechenden Schädels hörte, hieb er noch zwei- oder dreimal darauf ein, um ganz sicher zu sein, dass der Mann tot war. Die Leiche vergrub er noch in der derselben Nacht im Garten der Datsche. Danach vermieden Andreas und Annagret jeden Kontakt, denn wenn die Ermittler in dem Vermisstenfall von ihrer Beziehung erfahren hätten, wären sie möglicherweise auf die Idee gekommen, sich in der Datsche umzusehen.

Fast zwei Jahre später, am 4. November 1989, sahen sich Andreas und Annagret zufällig auf dem Alexanderplatz in Berlin, und er erfuhr, dass sie inzwischen in Leipzig lebte. Annagrets Mutter hatte einige Zeit in einer psychiatrischen Klinik verbracht und verbüßte nun eine Haftstrafe.

Nach neun Jahren nahm Katya wieder Kontakt zu ihrem Sohn auf. Andreas verhielt sich abweisend, obwohl er sich insgeheim über das Wiedersehen freute:

Er hatte sich neun Jahre lang nach ihr gesehnt. Hatte in dreiundfünfzig Mädchen nach ihr gesucht, ohne sie zu finden. Es war schrecklich, wie sehr er sie liebte.

Katya erzählte, dass die Datsche an ein Bauunternehmen verkauft wurde, das auf dem Areal neue Häuser errichten wollte.

Am 15. Januar 1990 beteiligte sich Andreas am Sturm auf die Stasi-Zentrale in Berlin, begriff aber rasch, dass das meiste bereits fortgeschafft oder vernichtet worden war.

„Das Archiv!“, rief er. „Suchen wir das Archiv!“
[…] Selbst wenn es ihm irgendwie gelänge, einen Sturm auf das Archiv anzuführen, wäre die Chance, seine Akte auf eigene Faust zu finden, gleich null.

Also suchte er seinen Stiefvater auf, gestand ihm in groben Zügen den Mord und drängte ihn, ihm sowohl seine Akte als auch die von Horst Werner Kleinholz zu beschaffen. Einige Tage später nannte ihm der Stiefvater eine Kontaktperson im Archiv. Hauptmann Eugen Wachtler führte Andreas in einem Raum, legte ihm die Akten vor und gab ihm eine Stunde Zeit, darin zu lesen. Andreas gelang es, das Gebäude vor Ablauf der Zeit mit den Akten zu verlassen. Als sich im Freien zwei Wachleute näherten, forderte Andreas herumstehende Reporter auf, zu filmen und verhinderte auf diese Weise seine Festnahme.

Nun musste er allerdings noch die Leiche beseitigen, bevor die Bulldozer anrückten.

In einer Kneipe begegnete er dem amerikanischen Journalisten Tom Aberant, der sich vorübergehend in Berlin aufhielt. Andreas vertraute seinem neuen Freund an, dass er einen Mann erschlug, der seine eigene Stieftochter missbraucht hatte. Tom mietete ein Auto und half Andreas, die noch vorhandenen sterblichen Überreste von Horst Werner Kleinholz auszugraben. Sie fuhren damit ins Odertal. Den Schädel verstaute Andreas in der Mülltonne einer Tankstelle, und den Rest verscharrten sie in einem Wald.

Tom Aberants Mutter Clelia stammte aus Jena. Obwohl sie hervorragende Schulnoten bekam, konnte sie nicht studieren, nicht nur, weil man sie aus politischen Gründen nicht zugelassen hätte, sondern vor allem, weil sie als Verkäuferin in einer Bäckerei Geld verdienen und ihre Geschwister versorgen musste. Ihre verwitwete Mutter Annelie fühlte sich zu krank dafür. Sie hatte Probleme mit dem Magen. Die Wohnungsmiete bezahlte Annelies alkoholkranker Bruder Rudi, ein Asphaltleger. Schließlich ertrug Clelia das nicht länger, und sie riss nach Berlin aus. Dort hielt ein Autofahrer sie für eine Prostituierte, aber der Amerikaner Chuck Aberant aus Denver/Colorado, der das zufällig beobachtete, nahm sich ihrer an. Er war als Delegierter des Vierten Weltkongresses der Gesellschaft für internationale Verständigung nach Berlin gekommen.

Chuck Aberant hatte Entomologie studiert und eine wissenschaftliche Hochschulkarriere angestrebt, aber seine Dissertation, an der er acht Jahre gearbeitet hatte, war bei der Post verloren gegangen. Ohne Doktortitel musste Chuck Aberant sich damit begnügen, Biologie an einer Highschool zu unterrichten. Ende der Dreißigerjahre heiratete er die blutjunge Tochter eines alkoholkranken Wüstlings, deren Freund eine Haftstrafe absaß. Als ihre beiden Töchter drei Jahre bzw. ein Jahr alt waren, kam der Freund aus dem Gefängnis, und Chuck wurde von seiner Frau verlassen. Er bekam allerdings das alleinige Sorgerecht für die beiden Töchter.

Obwohl Chuck Aberant doppelt so alt wie Clelia war, wurde sie seine zweite Ehefrau, und er nahm sie mit nach Denver, wo sie die Stiefmutter der beiden inzwischen sechs bzw. vier Jahre alten Mädchen wurde, den Sohn Tom gebar und an einer Abendschule Pharmakologie studierte.

Tom heiratete später die zwei Jahre ältere Anabel Laird.

Sie stammte aus einer der beiden Familien, denen seit Generationen der agrarwirtschaftliche Großkonzern McCaskill gehörte. Ihr Vater David Laird war Vorstandsvorsitzender des Unternehmens. Während sie ein Eliteinternat besuchte, ertrank ihre Mutter im Pool. Sie hatte wohl aufgrund ihres Alkoholkonsums das Bewusstsein verloren, und Anabels Vater war verreist. Am selben Tag kam Toms Vater Chuck bei einem Flugzeugunglück ums Leben.

Als Studentin an der Tyler School of Art in Philadelphia protestierte Anabel immer wieder gegen die Benachteiligung von Frauen bei der Vergabe von Stipendien. Mit der Wirkung ihrer Briefe unzufrieden, verfiel sie auf eine spektakuläre Aktion:

[…] in Elkins Park hatte der Dekan der Tyler School of Art eines Morgens in seinem Büro einen in braunes Schlachterpapier gewickelten Körper vorgefunden. Auf das Papier hatte jemand mit rotem Stift IHR FLEISCH gekritzelt. Der Körper war warm und lebendig, reagierte aber nicht. Der Dekan rief den Sicherheitsdienst, der dann genug von dem Papier abriss, um das Gesicht einer jungen Frau aus dem zweiten Masterstudienjahr, Anabel Laird, freizulegen. Ihre Augen waren offen, der Mund zugeklebt. […] Weiteres behutsames Reißen am Papier ergab, dass Anabel Laird offenbar mit nichts anderem als Schlachterpapier bekleidet war. Nach einigem gemeinschaftlichen Händeringen trugen die Sicherheitskräfte das Paket in einen Raum, in dem eine Sekretärin die Studentin auswickelte, ihr das Klebeband vom Mund abzog und sie in eine Decke hüllte.

Kurz bevor Anabel ihren Master-Abschluss machte, wurde sie die Freundin von Tom Aberant, der die Journalistenschule der University of Missouri absolviert hatte. Sie spielte zwar gern mit seinem Penis – wobei sie stets so tat, als gehöre er nicht zu Tom –, aber penetrieren ließ sie sich nur bei Vollmond, denn an allen anderen Tagen war sie frigide. Tom Aberant und David Laird waren sich auf Anhieb sympathisch, aber Anabel hatte ein gestörtes Verhältnis zu ihrem verwitweten Vater, und Clelia Aberant warnte ihren Sohn sechs Wochen vor dem Hochzeitstermin vor einer dauerhaften Verbindung mit Anabel. Die Frau passe nicht zu ihm, meinte sie, und werde ihm Unglück bringen. Daraufhin lud Tom seine Mutter von der Hochzeitsfeier aus. Ihren Vater wollte Anabel ohnehin nicht dabei sehen, und als er dennoch mit einem Geschenk auftauchte, spuckte sie ihm vor den Gästen ins Gesicht. Die erste Hälfte der Hochzeitsnacht verbrachte Tom nach einem Streit mit Anabel auf dem Sofa im Wohnzimmer.

Während Tom als Journalist tätig war, arbeitete Anabel an einem „Film über den Körper“, der 29 Stunden lang werden sollte.

Elf Jahre nachdem Tom und Anabel ein Paar geworden waren, wurde bei Clelia Aberant in Denver Darmkrebs diagnostiziert. Obwohl die Heilungsaussichten nach einer radikalen Operation besser gewesen wären, wollte sie keinen Kolostomiebeutel tragen müssen und bestand deshalb auf einem weniger gravierenden Eingriff. Nach einer zweiten, endgültig entmutigenden Operation im Oktober 1989 bat sie Tom, mit ihr nach Deutschland zu reisen. Tom gelang es, einen Auftrag von „Harper’s“ für eine Reportage über den Zusammenbruch der DDR und des Ostblocks zu bekommen. In Jena überließen Clelias Bruder Klaus und seine Frau der Todkranken das Schlafzimmer. Die Mutter Annelie war 1961 gestorben. Als dann ein Teil des Darms riss, starb die 55-jährige Clelia Aberant an einer Blutvergiftung. Tom verstreute einen Teil ihrer Asche am Saale-Ufer und bewahrte die andere Hälfte auf, um sie zusammen mit seiner Schwester Cynthia in Denver zu verstreuen.

Im Januar 1990 sah er auf dem Bildschirm des Fernsehgeräts einer Kneipe in Berlin das Bild eines anderen Gastes. So kam er mit Andreas Wolf ins Gespräch, der als Dissident galt, weil er „einmal ein paar unartige Gedichte in den Weimarer Beiträgen veröffentlicht und im Keller einer Kirche gewohnt hatte und im richtigen Moment aus dem Stasi-Hauptquartier herausgestolpert war“. Man schickte ihm Enthüllungsmaterial, in braunen Umschlägen oder Kartons ohne Absender, und er entwickelte ein Netzwerk der Unzufriedenen.

Als Tom in die USA zurückkam, argwöhnte Anabel, dass er ihr in Berlin untreu gewesen sei. Um den Vorwurf zu entkräften, erzählte er ihr von Andreas – allerdings nichts von dem Mord und der Beseitigung der Leiche.

Anabel, die von ihrem Vater nichts annahm, rastete aus, als sie erfuhr, dass er Tom Geld gegeben hatte. Der Streit eskalierte, als Tom sie so in eine Brustwarze zwickte, dass sie vor Schmerz aufschrie und ihn ohrfeigte. Als Reaktion darauf penetrierte er sie mehrmals nacheinander anal. Tom und Anabel reichten die Scheidung ein. Er behielt die Mietwohnung in East Harlem, während sie in einem Haus in New Jersey unterkam, das den nach New Mexico gezogenen Eltern ihrer Freundin Suzanne gehörte. Als Suzanne sich mit Tom in einem Restaurant verabredete und ihn drängte, sich das mit der Scheidung noch einmal zu überlegen, schlief er aus Verärgerung über Anabel mit ihr. Zuvor war er seiner Frau elf Jahre lang treu geblieben.

Einige Zeit später wurde Tom in New York von einem von David Laird engagierten Privatdetektiv kontaktiert, der nach Anabel suchte. Sie war verschwunden.

Erst elf Jahre später, 2002, hörte Tom wieder von seinem Schwiegervater bzw. seiner Ex-Frau. Ein Anwalt aus Wichita/Kansas unterrichtete ihn darüber, dass er als einziger Treuhänder eines Fonds benannt worden war, den David Laird für seine noch immer vermisste Tochter Anabel eingerichtet hatte. Ein Jahr später starb David Laird und hinterließ Tom 20 Millionen Dollar. Bei der Trauerfeier erfuhr Tom, dass ihn seine allesamt missratenen Schwäger Bucky, Dennis und Danny für den ungestraft davongekommenen Mörder ihrer Schwester Anabel hielten.

2004 begann Tom ein Verhältnis mit seiner sechs Jahre jüngeren Kollegin Leila Helou, der Ehefrau des Schriftstellers Charles Blenheim in Denver. Mit den von David Laird geerbten Millionen gründete er das Online-Magazin „Denver Independant“, das er nun mit Leila zusammen leitet. Obwohl sie seine Lebensgefährtin geworden ist, lässt sie sich nicht scheiden, sondern besucht ihren seit einem im alkoholisierten Zustand selbst verschuldeten Motorradunfall querschnittgelähmten Ehemann an jedem zweiten Wochenende. Zwar schläft sie nicht mehr mit ihrem Ehemann, aber sie hilft ihm auf der Toilette und bringt den Penis des Gelähmten zur Ejakulation.

Nachdem Andreas die Leiche mit Toms Hilfe neu vergraben hatte, machte er Annagret in Leipzig ausfindig und berichtete ihr, dass er sowohl die Ermittlungsakten als auch die Leiche beseitigt habe. Sie ließ sich dazu überreden, mit ihm in Berlin zusammenzuleben. Das ging zwei, drei Jahre lang gut. Dann begann Andreas, der inzwischen bei der Gauck-Behörde tätig war, als Berater in Sachen Übergangsgerechtigkeit an Konferenzen im Ausland teilzunehmen, um den nervigen Diskussionen mit Annagret zu entgehen.

Annagrets Mutter beschwerte sich nach der Verbüßung der Haftstrafe darüber, dass die Polizei nicht mehr nach ihrem vermissten Ehemann suchte, aber man nahm die Drogensüchtige nicht ernst.

Andreas‘ Stiefvater starb 1993. Annagret freundete sich mit der Witwe Katya Wolf an, und Andreas befürchtete bereits, dass sie seiner Mutter etwas von dem Mord erzählen könnte.

Eines Tages kontaktierte ihn sein leiblicher Vater, und sie verabredeten sich im Amerika-Haus. Peter Kronburg war noch ein zweites Mal im Gefängnis gewesen. Er hatte sich als Taxifahrer durchgeschlagen, eine Alkoholkranke geheiratet, auch selbst zu viel getrunken und einen Sohn gezeugt, der dann mit schweren Behinderungen geboren worden war. Nach dem Tod seiner Frau vor zwei Jahren hatte Peter Kronburg seinen jüngeren Sohn in einem Heim untergebracht und unter dem Titel „Das Verbrechen der Liebe“ eine Autobiografie geschrieben. Nun erwartete er von seinem in der Öffentlichkeit bekannten Sohn Andreas Unterstützung bei der Suche nach einem Verlag. Mit dem Dissidenten als Zugpferd wurde das Buch veröffentlicht und stand zwölf Wochen lang auf der Spiegel-Bestsellerliste.

Als Annagret 28 Jahre alt war, trennte Andreas sich von ihr und entzog sich einer befürchteten Verhaftung 2006 durch die Ausreise nach Dänemark. Als er dort mit seiner Auslieferung rechnen musste, suchte er 2010 Zuflucht in Belize. Schließlich zog Andreas nach Los Volcanes in Bolivien und scharte dort freiwillige Mitarbeiter seiner Enthüllungsplattform „Sunlight Projekt“ um sich. Das ist seine „Ruhmfabrik“:

Bei aller guten Arbeit, die das Sunlight Project leistete, diente es inzwischen vor allem der Erweiterung seines Egos.

Pip Tyler wird am Flughafen von Santa Cruz de la Sierra von dem für das „Sunlight Projekt“ tätigen Bolivianer Pedro abgeholt und zum Camp in Los Volcanes gefahren. Andreas Wolf ist nicht da. Er hält sich in Buenos Aires auf, wo er als Berater an einem Film über sich mitwirkt und Gerüchten zufolge eine Affäre mit der amerikanischen Schauspielerin Toni Field hat, die seine Mutter verkörpert. Während seiner Abwesenheit freundet Pip sich mit Colleen an, der Geschäftsführerin des Projekts, die in Yale Jura studiert hat. Aber als Andreas nach seiner Rückkehr unübersehbar Pip bevorzugt, zieht Colleen sich enttäuscht zurück und verlässt bald darauf das Projekt.

Andreas macht Pip zu seiner neuen Geliebten. Altersmäßig könnte er ihr Vater sein, aber mit seiner Zunge verschafft er ihr besonders heftige Orgasmen. Er vertraut Pip an, dass er in Deutschland einen Mann tötete, der seine 15-jährige Stieftochter missbraucht hatte.

„Die Stasi hegte Verdacht, aber meine Eltern haben mich geschützt. Irgendwann habe ich die Ermittlungsakte bekommen, da war es dann aus mit der Ermittlung. Aber es gab ein Problem. Nach dem Mauerfall habe ich einen furchtbaren Fehler gemacht. Ich habe in einer Bar einen Mann kennengelernt und ihm erzählt, was ich getan hatte. Einen Amerikaner … […] Ich habe ihm vertraut. Außerdem brauchte ich seine Hilfe.“

Er müsse damit rechnen, fährt Andreas fort, dass dieser Mann, ein Journalist in Denver, das „Sunlight Project“ kaputt machen wolle, und zwar durch Enthüllungen über ihn bzw. den Mord. Pip soll sich deshalb zunächst im Camp unauffällig nach einem möglichen Spitzel umhören. Als Pip ein halbes Jahr lang Erfahrungen im Camp sammeln konnte, schlägt Andreas ihr vor, sich um ein Recherchepraktikum beim Online-Magazin „Denver Independent“ zu bewerben. Bei dem Herausgeber Tom Aberant handelt es sich um den Mann, der von dem Mord weiß und dem „Sunlight Project“ gefährlich werden könnte. Pip soll herausfinden, was er vorhat. Sobald sie einen eigenen E-Mail-Account habe, ordnet Andreas an, müsse sie einen Anhang öffnen, den er ihr mit einer Mail schicken werde. Dass sie beim „Sunlight Project“ mitmachte, dürfe sie nicht verraten.

Gewissermaßen als Eintrittskarte gibt Andreas ihr Informationen über einen möglicherweise vorübergehend vom Air-Force-Stützpunkt Kirtland verschwundenen Gefechtskopf einer thermonuklearen Waffe mit. Um seiner Freundin Phyllisha Babcock zu imponieren, „lieh“ Cody Flayner sich mit Hilfe seines Vorgesetzten Earl Walker den Gefechtskopf, deponierte die Waffe im Garten und erklärte ihr, das sei eine „afrodüsische Bombe“.

„Ich will jetzt, dass du den anfasst. Ich will, dass du dich splitternackt ausziehst und dich da drauflegst, und dann besorg ich’s dir, wie du’s in deinem ganzen Leben noch nicht besorgt gekriegt hast.“

Als er ihr dann gestand, es habe sich eine zu Übungszwecken angefertigte Attrappe gehandelt, die er nun zurückbringen werde, reagierte sie wütend und packte noch in der Nacht ihre Sachen. Möglicherweise war jedoch ein echter Gefechtskopf mit der Nachbildung vertauscht worden.

Leila Helou findet nach einiger Zeit heraus, dass ein Whistleblower das entsprechende Material bereits vor einem Jahr dem „Sunshine Project“ schickte. Dann wird auf dem eigentlich gut geschützten Firmennetzwerk eine Spionagesoftware entdeckt. Auch die Festplatte von Toms privatem Rechner ist verseucht. Argwöhnisch fragt Tom die neue Praktikantin, ob sie von Andreas Wolf geschickt worden sei. Pip gibt zu, ein halbes Jahr in Bolivien gewesen zu sein und einen E-Mail-Anhang geöffnet zu haben, von dem sie ahnte, dass er Schadware enthielt.

„Ich habe in Oakland eine Deutsche kennengelernt“, sagte sie. „Die wollte, dass ich nach Bolivien gehe. Sie hat gesagt, das Projekt könnte mir helfen, meinen Vater zu finden. […] er [Andreas Wolf] hat sich auf besondere Weise für mich interessiert, und er hat mir etwas erzählt. Ich glaube, du weißt, was.“ „Sag es.“ „Dass er jemanden umgebracht hat. Dass er es noch einem anderen erzählt hat, nämlich dir. Und dann habe ich die Suche nach meinem Vater aufgegeben und wollte weg, und da hat er gesagt, ich soll hierherkommen. Er hatte Angst, du wolltest ihn entlarven.“


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Andreas Wolf stieß eines Tages im „Columbia Journal“ auf ein Interview von Toms Lebensgefährtin und Mitarbeiterin Leila Helou. Internet-Quellen zufolge war sie mit dem gelähmten Schriftsteller Charles Blenheim verheiratet. Toms Ehefrau Anabel wiederum war 1991 spurlos verschwunden und auch nicht wieder aufgetaucht, als ihr Vater David Laird einen Treuhandfonds von einer Milliarde Dollar für sie einrichtete. Weitere Nachforschungen brachten Andreas auf die Spur der Supermarkt-Kassiererin Penelope Tyler in Felton/Kalifornien und deren Tochter Purity, die im Direktmarketing eines Start-up-Unternehmens arbeitete. Als er sich sicher war, dass es sich bei Penelope Tyler um Toms Ex-Frau Anabel Laird handelte, bat er Annagret, nach Denver zu fliegen und Pip zu überreden, beim „Sunshine Project“ mitzuwirken. Es ging ihm darum, Pip auf die Spur ihres Vaters Tom zu bringen, der gar nicht wusste, dass Anabel bei der Trennung von ihm schwanger gewesen war.

Nachdem Tom nun herausgefunden hat, dass Pip seine Tochter ist und von Andreas Wolf auf ihn angesetzt worden war, besucht er seinen früheren Freund in Bolivien.

„Also, was führt dich nach Bolivien?“, sagte Andreas. „Du meinst, abgesehen davon, dass du meine Computer gehackt hast?“ Toms Stimme klang gepresst, so sehr musste er sich beherrschen. „Abgesehen davon, dass du einer jungen Frau, die zufällig meine Tochter ist, im Kopf herumgefuhrwerkt hast?“

Tom verlangt von Andreas, dass dieser alles aus den Rechnern in Denver gezogene Material vernichtet und sich verpflichtet, nie wieder Kontakt zu Pip aufzunehmen. Andernfalls, droht Tom, werde er einen Artikel über Andreas bringen, über den Mord berichten und die Polizei in Deutschland zum Grab führen. Daraufhin öffnet Andreas die Kopie von Toms privater Festplatte, tippt das Passwort le1o9n8a0rd in die Betreffzeile einer Mail, wählt die Adresse andtylertoo@cruzio.com und hängt die Datei Ein Fluss aus Fleisch.doc an, bevor er die Mail sendet.

Während einer Wanderung auf dem Kliff provoziert er Tom mit der Behauptung, dessen Tochter nicht nur nackt gesehen, sondern sie auch mit der Zunge zum Orgasmus gebracht zu haben. „An deiner Stelle würde ich mich jetzt umbringen“, sagt er, stellt sich dicht an den Rand des Kliffs und fordert Tom auf, ihm einen Stoß zu versetzen. Als der Amerikaner das nicht tut, schreibt Andreas sich mit einem Kugelschreiber auf den Arm:

GESTEHE DEN MORD AN HORST WERNER KLEINHOLZ IM NOVEMBER 1987. ICH ALLEIN BIN VERANTWORTLICH FÜR DIE TAT, DIE ICH HEUTE BEGANGEN HABE. ANDREAS WOLF

Dann springt er vor Toms Augen in die Tiefe.

Pip ist noch in Denver, als sie die Mail mit dem Betreff le1o9n8a0rd erhält. Kurz darauf schickt Tom eine Mail mit der Nachricht, dass Andreas sich das Leben genommen habe.

„Ich stehe körperlich unter Schock, dachte aber, du solltest es wissen. PS: Bin in Bolivien, habe ihn sterben sehen. Sollte er dir etwas geschickt haben, vernichte es bitte ungelesen. Er war geisteskrank.

Toms Bitte ignorierend, öffnet Pip die angehängte Word-Datei mit dem Passwort le1o9n8a0rd. Es handelt sich um Toms Autobiografie. Daraus erfährt sie nicht nur, wer ihr Vater ist, sondern auch, dass es sich bei ihrer Mutter um Anabel Laird handelt, die ihr nicht nur ihre wahre Identität, sondern auch einen Treuhandfonds von einer Milliarde Dollar vorenthalten hat. Trotz des Reichtums zog sie ihre Tochter in Armut auf und ließ sie auf ihren Studienschulden sitzen. Jetzt versteht Pip, warum die Mutter gegen ihr Praktikum in Denver war: Sie musste annehmen, dass Pip ihren Vater gefunden habe.

Weil Pip ihren Vater in dem Glauben lassen möchte, dass sie seine Aufzeichnungen nicht gelesen habe und nichts von ihrer Verwandtschaft ahne, kehrt sie nach Oakland zurück, ohne mit ihm oder Leila darüber gesprochen zu haben.

Stephen wohnt nicht mehr bei Dreyfuss. Er befindet sich mit einer 20-Jährigen aus einer reichen Familie auf einem Abenteuerurlaub in Mittelamerika. Dreyfuss‘ Mitbewohner heißen jetzt Garth und Erik. In Kürze werden sie alle das Haus verlassen müssen, das inzwischen von der Bank beansprucht wird, bei der Dreyfuss verschuldet ist.

Vor der in zwei Wochen geplanten Zwangsversteigerung fliegt Pip nach Wichita und meldet sich unter falschem Namen bei dem Rechtsanwalt James Navarre, der den von David Laird eingerichteten Fonds gegen hohe Gebühren verwaltet. Pip fordert ihn auf, Dreyfuss‘ Haus in Oakland zu kaufen und es ihm dann für eine faire Miete zu überlassen.

„Er ist ein guter Mensch, und die Bank versucht, ihm sein Vermögen zu stehlen. Also habe ich mir gedacht, in dem Fonds liegt so viel Geld, und Sie entscheiden doch darüber, wie es verwendet wird.“

Der Jurist zögert zunächst, erklärt sich dann aber bereit, das Haus mit Geld aus dem Fonds zu kaufen. Allerdings muss Pip ihm ihren richtigen Namen nennen und eine Vollmacht unterschreiben. In einem halben Jahr, so James Navarre, werde er Anabel Laird erneut von einem Privatdetektiv suchen lassen. So lange habe Pip Zeit, selbst mit ihrer Mutter über alles zur reden.

In Peet’s Coffee in Oakland, wo Pip nun kellnert, trifft sie Jason Whitaker wieder – eineinhalb Jahre nachdem sie ihn auf ihrer Matratze hatte warten lassen. Jason trägt es ihr nicht nach, und sie schlafen miteinander.

Viereinhalb Monate nach der Unterredung in Wichita ruft sie James Navarre an, kündigt ihm an, dass sie mit ihrer Mutter sprechen werde und bittet um 5000 Dollar.

Sie besucht ihre Mutter in der Hütte, und am nächsten Morgen entlockt sie ihr mit der Lüge, Tom habe ihr seine Version der Geschichte bereits erzählt, ein Geständnis.

Pips richtiger Geburtstag war nicht der 11. Juli, sondern der 24. Februar. Sie war in einem Frauenhaus in Riverside, Kalifornien, auf natürlichem Wege von einer Hebamme entbunden worden. Bis sie zwei war, hatten sie in Bakersfield gelebt, wo ihre Mutter zum Broterwerb Hotelzimmer putzte. Dann hatte ihre Mutter das Pech gehabt (Bakersfield lag ja am Ende der Welt), einer Freundin vom College zu begegnen, die zu viele Fragen stellte. Eine neue Freundin aus dem Frauenhaus wusste von einer Hütte in den Santa Cruz Mountains, die zu mieten war, also zogen sie dorthin.

Dass der Vater einen mit einer Milliarde Dollar gefüllten Treuhandfonds einrichtete, habe er aus Bosheit getan, meint Anabel, aber noch grausamer sei Tom gewesen, als er Geld von ihrem Vater annahm.

Ich habe ihm gesagt, es bringt mich um, wenn er jemals Geld von meinem Vater annimmt, und er hat es trotzdem getan. Extra, um mich zu verletzen. Er hat mit meiner besten Freundin geschlafen, um mich zu verletzen.

Deshalb habe sie Tom die Schwangerschaft verschwiegen und ihre Identität gewechselt. Er sollte nie etwas von der Existenz seiner Tochter erfahren. Mit dem Geld will Anabel noch immer nichts zu tun haben, aber Pip zählt ihre Forderungen auf:

„Vollständige Tilgung des Studiendarlehens. Weitere viertausend, um meine Kreditkartenschulden zu begleichen. Achthunderttausend, um Dreyfuss‘ Haus zu kaufen und es ihm zurückzugeben. Auch sollten wir, wenn du unbedingt hierbleiben willst, die Hütte kaufen und sie richtig auf Vordermann bringen. Gebühren für ein Master-Studium, falls ich eines machen möchte. Monatliche Lebenshaltungskosten, falls du deine Arbeit aufgeben willst. Und dann vielleicht noch weitere fünfzigtausend zum So-Ausgeben, während ich versuche, mir eine Existenz aufzubauen. Das Ganze beläuft sich auf knapp drei Millionen. Das sind rund fünf Prozent der Dividenden eines Jahres.“

Verzweifelt meint Anabel, Pip könne das gesamte Geld haben, aber die Tochter erklärt ihr, dass das zu Lebzeiten der Mutter nicht möglich sei. Das Kapital gehört ohnehin dem Fonds; zur Verfügung stehen lediglich die Erträge – viele Millionen pro Jahr –, und über deren Verwendung könne nur die von David Laird eingesetzte Begünstigte entscheiden. Als Anabel endlich nachgibt, ruft Pip ihren Vater an.

„Entschuldige, Pip“, sagte Tom. „Was sagst du da?“ „Ich sage dir, dass ich alles herausbekommen habe.“ „Ach du Schreck. Okay.“ „Aber nicht so, wie du denkst. Dein Dokument habe ich nicht gelesen.“ „Ah, gut. Gut. Hervorragend.“ Toms Erleichterung war hörbar. „Ich habe es gelöscht“, sagte sie. „Aber Andreas hat mir vor seinem Tod noch mitgeteilt, wer du bist. Das hat die Recherche leichtgemacht, und dann hat meine Mom mir alles erzählt.“

Nun möchte Tom seiner Tochter so rasch wie möglich alles noch einmal aus seiner Sicht berichten. Pip fordert ihn auf, an einem der nächsten Tage zu kommen.

„Ich will doch bloß, dass ihr euch verzeiht. Ich will euch beide sehen dürfen, aber das kann ich nicht, wenn ich das Gefühl habe, ich verrate den einen, wenn ich beim anderen bin.“

Jason holt Tom am Flughafen von San Jose ab und bringt ihn zur Hütte. Nach fast 25 Jahren sehen Tom und Anabel sich erstmals wieder. Unmittelbar nach der Begrüßung verlässt Pip mit Jason die Hütte. Sie hat vor, den Eltern zwei Stunden Zeit für eine Aussprache zu geben. Sie und Jason fahren in den Staatspark und treiben es dort im Auto. Als sie nach vier Stunden zurückkommen, hören sie das Geschrei der Eltern, „den Klang nackten Hasses“.

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„Unschuld“ ist eine Mischung aus Thriller, Bildungsroman und Familiendrama.

Jonathan Franzen erzählt u. a. von einer allein erziehenden Amerikanerin, die über die Kapitalerträge eines Milliardenvermögens verfügen könnte, es jedoch vorzieht, mit ihrer Tochter in Armut zu leben. In ihrem moralischen Rigorismus will sie ihr Kind, dem sie den programmatischen Namen Purity (Reinheit) gibt, von der Schmutzigkeit des Geldes fernhalten. Indem sie ihren Puritanismus unter Einbeziehung ihrer Tochter auslebt, macht sie sich schuldig.

Unschuldig ist in dem Roman „Unschuld“ trotz des Titels kaum jemand. Andreas Wolf, der Sohn eines Parteibonzen in der DDR, ermordet einen Stasi-Spitzel, der seine eigene 15-jährige Tochter missbraucht, und der investigative amerikanische Journalist Tom Aberant hilft ihm bei der Beseitigung der Leiche. Purity macht sich ungeachtet ihres Namens schuldig, indem sie (nicht nur beim Telefonmarketing) lügt, sondern auch Computer mit Spionagesoftware infiziert. Es geht um Vertrauen und Verrat, Manipulation, die Diskrepanz zwischen Privatperson und Image, den Missbrauch guter Anliegen wie Umweltschutz für den Kundenfang, Vaterlosigkeit, das Streben nach Reinheit und vieles mehr.

Ausgerechnet der Gründer und Leiter der Enthüllungsplattform „Sunlight Project“, dem zahlreiche idealistische Whistleblower zuarbeiten, um die Welt transparenter zu machen und gegen Ungerechtigkeit zu kämpfen, erweist sich als dämonischer, sexsüchtiger Psychopath mit Ödipus-Komplex. Will Jonathan Franzen damit veranschaulichen, dass auch Whistleblower wie Edward Snowden und Enthüllungsplattformen wie Wikileaks letztlich dazu beitragen, das System aufrechtzuerhalten?

Zugespitzt erscheint die von Jonathan Franzen in „Unschuld“ vertretene These, dass ein Überwachungsapparat wie die Stasi in der DDR ein plumper Vorläufer der im Internet erfolgenden totalen Kontrolle gewesen sei. Der Vergleich ist schief, denn Jonathan Franzen vergisst dabei, dass ein totalitärer Staat nicht nur Zugriff auf die Äußerungen der Menschen hat, sondern auch Polizeigewalt einsetzen kann, um Dissidenten zum Schweigen zu bringen.

Jonathan Franzen gliedert „Unschuld“ in sieben Kapitel. In jedem davon wird ein Teil der in Deutschland, Nord- und Südamerika spielenden Geschichte aus der Perspektive einer Figur erzählt. Das Kapitel „[le1o9n8a0rd]“ besteht zum Beispiel aus dem Text des Word-Dokuments „Ein Fluss aus Fleisch“, also Tom Aberants Autobiografie. Erst in der Zusammenschau ergibt sich ein vollständiges Bild. Durch die damit verbundenen Zeit­sprünge über Jahrzehnte hinweg droht man als Leser hin und wieder den Überblick zu verlieren, zumal die Darstellung an einigen Stellen zu stark ausufert. Problematischer ist es, dass mit den Kapiteln auch die möglichen Identifikationsfiguren wechseln. Wenn man gerade angefangen hat, sich für eine Romanfigur zu interessieren, wendet Jonathan Franzen sich einer anderen zu.

Der Kosmos des Romans „Unschuld“ ist von zahlreichen Haupt- und Neben­personen bevölkert. Obwohl Jonathan Franzen selbst bei Randfiguren die Biografie bzw. Vorgeschichte mehr oder weniger ausführlich darstellt, fehlt es an einer wirklich tiefen Ausleuchtung der Charaktere.

Der Originaltitel lautet „Purity“. Hätte man das nicht treffender mit Reinheit als mit Unschuld übersetzt?

Purity, eine der Hauptfiguren, zieht es vor, Pip genannt zu werden – wie der Protagonist in dem Roman „Große Erwartungen“ von Charles Dickens.

Übrigens ist es in Deutschland gesetzlich verboten und aufgrund der Regelungen für Krematorien kaum möglich, die Asche Verstorbener privat an einem Flussufer zu verstreuen.

Den Roman „Unschuld“ von Jonathan Franzen gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Sascha Rotermund (ISBN 978-3-8445-1962-4).

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2015
Textauszüge: © Rowohlt Verlag

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