Jonathan Franzen : Die Korrekturen

Die Korrekturen
Originalausgabe: The Corrections Farrar, Straus and Giroux, New York 2001 Die Korrekturen Übersetzung: Bettina Abarbanell Rowohlt Verlag, Reinbek 2001
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

"Wir sind doch alle darauf getrimmt zu glauben, unsere Kinder seien wichtiger als wir [...] und wie aus zweiter Hand durch sie zu leben." Vergeblich hat Enid versucht, den inzwischen erwachsenen Kindern Lebensentwürfe aufzudrängen, mit denen sie ihre unerfüllten eigenen Wunschträume zu verwirklichen hoffte. Erst am Ende gesteht sie sich ihre Lebenslüge ein und findet sich mit der eigenen Unzulänglichkeit ebenso ab wie mit der ihrer Kinder.

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Kritik

Mit einer Fülle banaler, zum Teil tragikomischer Geschichten veranschaulicht Jonathan Franzen in "Die Korrekturen" die Sehnsucht nach familiärer Harmonie, zeigt Angst, Unsicherheit und Orientierungslosigkeit; wir erleben den alltäglichen interfamiliären Psychoterror und missglückte Versuche, die Lebensverhältnisse zu korrigieren.
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Enid und Alfred

Das Rentner-Ehepaar Enid und Alfred („Al“) Lambert ist seit 48 Jahren verheiratet. Alfreds Familie stammt aus Skandinavien; Enid ist „ein Osteuropa-Mischling“. Die beiden leben in einem mittlerweile etwas heruntergekommenen Haus in St. Jude, einer Kleinstadt im mittleren Westen der USA. Ihre Tochter Denise und ihre beiden Söhne Gary und Chipper haben die konservative Gegend längst verlassen und sind an die Ostküste gezogen.

Nach gut zehn Ehejahren war er [Alfred] zu einem jener übermäßig gezähmten Raubtiere geworden, wie es sie im Zoo gibt – dem Bengalischen Tiger, der das Töten verlernt hat, dem vor lauter Niedergeschlagenheit faul gewordenen Löwen. Um Anziehungskraft auszuüben, musste Enid ein regloser, unblutiger Kadaver sein.

In den letzten zehn Jahren seines Berufslebens leitete er als Chefingenieur die technische Abteilung der Midland Pacific Railroad. Als die Eisenbahngesellschaft von den Gebrüdern Hillard und Chauncy Wroth gekauft wurde – das geschah vor 14 Jahren, wenige Monate vor seinem 65. Geburtstag – schlug der neue Midpac-Geschäftsführer Alfred vor, noch zwei Jahre weiterzumachen, um während der Verlegung des Firmensitzes von St. Jude nach Little Rock die Kontinuität sicherzustellen. Dafür bot Fenton Creelder dem erfahrenen Eisenbahningenieur eine Gehaltserhöhung um 50 Prozent und ein Aktienpaket im Wert von 78 000 Dollar. Enid beschwor Alfred, den Vorschlag anzunehmen, zumal sie wusste, dass sein Durchschnittsgehalt in den letzten drei Dienstjahren als Berechnungsgrundlage für die Betriebsrente diente. Zunächst schien Alfred gewillt zu sein, auf das Angebot einzugehen, aber drei Abende später teilte er seiner Frau kurzerhand mit, er habe am Nachmittag gekündigt.

Alfred hat immer strikt darauf geachtet, sich in jeder Lage unter Kontrolle zu haben und war noch nie bereit, seine einsamen Entscheidungen zu diskutieren. „Die Zivilisation steht und fällt mit der Beherrschung der Triebe“, behauptet er.

So seltsam es klingen mochte – für Alfred war Liebe nicht eine Sache der Annäherung, sondern des Abstandhaltens.

Um so tragischer, dass er zunehmend unter der Parkinsonschen Krankheit leidet, das Zittern seiner Hände nicht mehr unterdrücken kann, beim Essen kleckert und inkontinent geworden ist.

Chip

Im August reisen Al und Enid nach New York, wo sie ihren 39-jährigen Sohn Chipper („Chip“) besuchen wollen, bevor sie an Bord eines luxuriösen Kreuzfahrtschiffs der „Nordic Pleasurelines“ gehen.

Im Alter von 33 Jahren war Chip Assistenzprofessor für Text-Artefakte an einem College in Connecticut geworden. Vor zwei Jahren machte er sich berechtigte Hoffnungen auf einen Professorentitel. Er hatte nur eine Konkurrentin: Vendla O’Fallon. Unglücklicherweise trennte sich zu dieser Zeit seine Geliebte, die Historikerin Ruthie Hamilton, von ihm. Kurze Zeit später ließ er sich von der raffinierten Studentin Melissa Paquette verführen, die eigentlich mit einem Kommilitonen namens Chad liiert war. Sie verbrachte ein stürmisches Wochenende mit ihm in einem Hotelzimmer, bevor sie sich bei einer Seminararbeit helfen ließ, die sie von Vendla O’Fallon aufbekommen hatte.

Am Montag und Dienstag diktierte er Melissa große Teile einer Seminararbeit über Carol Gilligan, die sie vor lauter Ärger über Vendla O’Fallon nicht selber zu schreiben vermochte. Seine nahezu fotografische Erinnerung an Gilligans Thesen, seine absolute Beherrschung der Theorie erregten ihn dermaßen, dass er mit seinem Steifen Melissas Haar zu streicheln begann, ihn über die Computertastatur gleiten ließ und einen glitzenden Film auf dem Flüssigkristall-Bildschirm verteilte. „Liebling“, sagte sie, „bitte komm nicht auf meinem Computer.“

Als die kurze Affäre des Assistenzprofessors mit der Studentin und der Betrug entdeckt wurden, legte ihm die College-Rektorin nahe, selbst zu kündigen. Wie US-Präsident Bill Clinton log er: „Ich hatte mit dieser Frau nie sexuelle Kontakte.“ Aber Cali Lopez machte ihm klar: „Sie haben keine Chance.“

Chip zog nach New York und mietete sich eine Wohnung in Manhatten. Von seiner Schwester Denise lieh er sich Geld, um eine aussichtslose Klage gegen das College anstrengen, die Maklergebühren bezahlen und die Mietkaution hinterlegen zu können. Seine Erlebnisse in Connecticut verarbeitete er in einem Drehbuch, mit dem er sich an der hinterlistigen Studentin und den scheinheiligen Kollegen rächen will. Seinen Eltern erzählte er, gekündigt zu haben, weil er eine viel versprechende Schriftstellerkarriere vor sich habe. Um ein wenig Geld zu verdienen, arbeitet er als Korrektor bei der Anwaltskanzlei Bragg Knuter & Speigh und schreibt für das „Warren Street Journal“, eine von einem Freund herausgegebenen „Monatsschrift der Transgressiven Künste“. Enid tut so, als habe sie verstanden, dass er Redakteur beim „Wall Street Journal“ geworden sei und erweckt gegenüber ihren Nachbarinnen und Freundinnen den Eindruck, Chip habe außerdem eine juristische Laufbahn eingeschlagen.

Ausgerechnet an dem Tag, an dem ihn seine Eltern besuchen, wird Chip von seiner Freundin Julia Vrais verlassen. Zum Glück kommt auch Denise zu dem verabredeten Mittagessen mit den Eltern von Philadelphia nach New York. So kann er nach einer kurzen Begrüßung die Bewirtung von Enid und Alfred seiner Schwester überlassen und Julia nacheilen.

Julia ist die Sekretärin der Filmproduzentin Eden Procuro, der Chip sein Drehbuch anvertraute. Als er Eden aufsucht, muss er mit ansehen, wie ihre kleine Tochter April die Rückseiten seines Manuskript als Malblock missbraucht. Julia ist zwar nicht da, aber zufällig ihr Ehemann Gitanas R. Misevicius. Der hatte in Litauen die Partei VIPPPAKJRIINPB17 mitbegründet, die nach anfänglichen Erfolgen Ende der Neunzigerjahre den letzten Sitz im Seimas verlor. Er verfügt aber noch über eine zum Teil renovierte Villa der Partei in Vilnius, in der er jetzt die Einrichtung eines Internet-Unternehmens plant, mit dem leichtgläubige Amerikaner dazu verleitet werden sollen, Geld für angebliche Investitionen zu schicken. Auf die Idee kam er, als er auf seiner Domain www.lithuania.com spaßeshalber mit dem Slogan „Profit durch Demokratie: Kaufen Sie ein Stück europäische Geschichte“ warb und wider Erwarten Geld von Amerikanern geschickt bekam.

Gitanas heuert Chip als Mitarbeiter an und fliegt mit ihm nach Vilnius. Erst im Flugzeug offenbart er ihm, dass er durch eine Überwachungskamera in seiner Wohnung längst von Chips Verhältnis mit Julia weiß.

In seiner neuen Funktion antwortet Chip auf die E-Mail-Anfrage eines amerikanischen Journalisten: „Der Nationalstaat als Profitcenter, mit einer über die ganze Welt verstreuten Einwohnerschaft von Aktionären, ist die nächste Stufe der Evolution der politischen Ökonomie.“

Denise

Mit 32 ist Denise das jüngste Kind von Enid und Alfred. Zum Studium zog sie vor 15 Jahren nach Philadelphia, wo ihr älterer Bruder Gary und dessen Ehefrau Caroline sich gerade eine Traumvilla gekauft hatten. Aber sie ging vorzeitig vom College ab, jobte ein Jahr lang und reiste dann sechs Monate durch Frankreich und Italien, bevor sie nach Philadelphia zurückkehrte. Emile Berger stellte sie schließlich als stellvertretende Küchenchefin im „Café Louche“ ein, und sie wurde die Geliebte des doppelt so alten mürrischen Juden aus Montreal. Im Alter von 23 Jahren fuhr sie mit ihm nach Atlantic City und heiratete ihn. Aber als er ihr in der Küche nichts mehr beibringen konnte und nicht bereit war, ihre neuen Ideen auszuprobieren, wechselte sie zur Konkurrenz, ins „Ardennes“. Dort lernte sie Becky Hemerling kennen und machte durch sie ihre ersten Erfahrungen mit lesbischer Sexualität. Bis dahin – und seit ihrer Defloration durch Don Armour, einen viel älteren, einfachen Angestellten in der Abteilung ihres Vaters bei der „Midland Pacific Railroad“ – hatte sie „an der Orgasmus-Front hauptsächlich mit Schuldgefühlen, Stress und Widerwillen“ gekämpft.

Eines Tages rief Brian Callahan an. Er war durch den Verkauf von Software an ein Großunternehmen reich geworden, plante die Einrichtung eines „trendigen“ Restaurants und hatte auf der Suche nach dem besten Koch bzw. der besten Köchin in Philadelphia alle guten Restaurants ausprobiert. Brian versprach Denise eine Verdoppelung ihres Gehalts und schickte sie auf seine Kosten nach Europa, damit sie während des Ausbaus eines aufgelassenen Kohlekraftwerks der Philadelphia Electric Company zum Restaurant „Der Generator“ Erfahrungen in europäischer Kochkunst sammeln konnte.

In Deutschland fuhr sie mit 160 über die Autobahn, und trotzdem hingen ihr andere lichthupend auf der Stoßstange.

Aus Langeweile besuchte sie in Wien die Tochter der besten Freundin ihrer Mutter. Cindy Müller-Karltreu, eine geborene Meisner, wohnte mit ihrem Ehemann Klaus, einem Arzt, in einem „Nouveau Penthouse“ mit Blick aufs Michaelertor. Als das Dienstmädchen Mirjana das Schwarzbrot statt Weißbrot brachte, tadelte Cindy es mit den Worten: „Sie ist so lieb, aber auch so, so dumm. Nicht wahr, Mirjana? Bist du nicht ein dummes Ding?“ Und das Mädchen antwortete: „Ja, Madame.“ Denise richtete Grüße von Enid aus. Da sagte Cindy: „Klaus, erinnerst du dich noch an das winzig kleine Haus, in dem meine Familie früher wohnte (vor ganz langer Zeit, meine ich, als ich ein winzig kleines Mädchen war), na ja, damals waren Denise‘ Eltern unsere Nachbarn. Meine Mom und ihre Mom sind noch heute gute Freundinnen.“ Und zu Denise gewandt fuhr sie fort: „Deine Eltern wohnen vermutlich noch heute in dem kleinen Haus, oder?“

Wie verabredet, traf Denise sich in Paris mit Brian. Zwei Tage vor der Abreise zerrte er sie in sein Hotelzimmer, und sie rissen sich die Kleider vom Leib. Doch im letzten Augenblick rollte sie sich aus dem Bett und kauerte sich in eine Zimmerecke. „Wenn du nicht verheiratet wärst – wenn ich nicht deine Angestellte wäre –“

Die Restaurantkritiker schrieben begeistert über „Der Generator“; Artikel mit Fotos von Denise erschienen in den großen Tageszeitungen, und sie wurde in Fernsehsendungen eingeladen.

Verwundert stellte sie fest, dass sie sich immer stärker zu Brians Frau Robin hingezogen fühlte.

Robin Passafaro war Philadelphierin und kam aus einer Familie von Unruhestiftern und Rechtgläubigen. Ihr Großvater und ihre beiden Onkel Jimmy und Johnny waren allesamt in der Vorbürgerkriegswolle gefärbte Gewerkschafter; Fazio, der Großvater, hatte als Vorstandsmitglied der nationalen Dachgewerkschaft unter dem Teamster-Chef Frank Fitzsimmons gedient, hatte die größte Ortsgruppe von Philadelphia geleitet und zwanzig Jahre lang die Beiträge der 3200 Mitglieder veruntreut. Er hatte zwei Verfahren wegen organisierter Erpressung, eine Koronarthrombose, eine Kehlkopfentfernung und neun Monate Chemotherapie überlebt, bevor er sich in Sea Isle City an der Küste Jerseys zur Ruhe setzte, wo er immer noch jeden Morgen zum Pier humpelte und seine Krebsfallen mit rohem Hühnchenfleisch bestückte.
Onkel Johnny, Fazios ältester Sohn, lebte, und das recht gut, von zwei Behinderungen („chronische und schwere Lendenschmerzen“ hieß es auf den Antragsformularen), seinem saisonalen, nur gegen Barzahlung arbeitenden Malerbetrieb und seinem Glück oder Talent als Online-Daytrader. […]
Onkel Jimmy („Baby Jimmy“) […] hatte es in Drogen-Selbsthilfegruppen zu lokaler Berühmtheit gebracht, weil er sich in eine Methadon-Abhängigkeit hineinmanövriert hatte, ohne jemals Heroin probiert zu haben.

Schließlich betrog Denise nicht Robin mit Brian, sondern Brian mit Robin, bis die beiden Frauen beschlossen, damit aufzuhören, weil sie sich der Leidenschaft und dem Versteckspiel nervlich nicht gewachsen fühlten. Nach einem Geschäftsessen ergab es sich, dass Denise ihren Chef mit in ihre Wohnung nahm. Am nächsten Morgen entdeckte Robin sein geparktes Auto und stellte ihn zur Rede. Auf diese Weise erfuhr Brian von dem Verhältnis seiner Frau mit Denise – und er entließ seine Küchenchefin.

Kurz darauf reiste sie nach New York, um mit ihren Eltern vor deren Kreuzfahrt bei ihrem Bruder Chip zu Mittag zu essen.

Kreuzfahrt

An Bord des Kreuzfahrtschiffs „Gunnar Myrdal“ lernt Enid die 65 Jahre alte Sylvia Roth kennen, die in fünf Tagen mit ihrem Mann Ted ihren 40. Hochzeitstag feiern wird. Sylvia erzählt Enid, dass es sich bei Khelley Wither, dessen Hinrichtung in drei Tagen in Pennsylvania stattfinden soll, um den Mörder ihrer Tochter Jordan handelt. Während sie die Hinrichtung als Genugtuung herbeisehnt, hat Ted eines Tages beschlossen, nie mehr von der Ermordung Jordans zu sprechen.

Alfred ist zunehmend geistig verwirrt. Um Beruhigungsmittel für ihn zu besorgen, geht Enid zur Krankenstation auf dem Schiff. Alle Räume sind nach berühmten Skandinaviern benannt. An der Tür der Rot-Kreuz-Station liest Enid den Vornamen ihres Mannes und buchstabiert dann: „No. Bel. No-bel. No Bell. Keine Glocke?“ Dr. Mather Hibbard überredet Enid, nicht ein Beruhigungsmittel für ihren Mann, sondern ein Medikament zur Verbesserung ihres eigenen Befindens einzunehmen und gibt ihr acht unverkäufliche Ärztemuster „ASLAN Kreuzfahrt“. Es handele sich um ein in den USA noch nicht zugelassenes Medikament der Farmacopea S. A., erklärt er. Ob es ein Antidepressivum sei, fragt Enid. „Unschöner Begriff“, antwortet Dr. Hibbard. „‚Persönlichkeitsoptimierer‘ ist das Wort, das ich bevorzuge.“ Als Enid befürchtet, durch die Einnahme des Präparats „anders“ zu werden, beruhigt der Schiffsarzt sie. Diese Sorge habe mit der Angst vor dem Tod zu tun. Aber: „Tot zu sein ist nur ein Problem, wenn man weiß, dass man tot ist, was nie der Fall sein wird, schließlich ist man ja tot!“ – ASLAN gibt es in verschiedenen Varianten wie zum Beispiel Basic, Kreuzfahrt, Hacker, Höchstform, Goldene Jahre. Weil ihm sein Berufsethos verbiete, Geld für das Medikament zu verlangen, erläutert Dr. Hibbard, gebe er es kostenlos ab, obwohl er es selbst kaufen müsse. Damit halte er sich auch an die Alles-Inklusiv-Politik der Pleasurelines. Er lässt allerdings keinen Zweifel daran, was er von den Patienten erwartet, und Enid gibt ihm 150 Dollar für die acht Kapseln, obwohl sie sich darüber ärgert, dass er ständig ihren Namen verwechselt.

Auf dem Deck hört Alfred ein Kichern. Daraufhin beugt er sich über die Reling und erblickt in der abgeschirmten „nordischen“ Sonnenbadezone Signe Söderblad, „ihre gänsehäutigen Arme und Schenkel, ihren Bauch, die zwei drallen Brombeeren, zu denen ein plötzlich grauer Winterhimmel ihre Brustwarzen zusammengezogen hatte, das zitternde rötlich braune Fell zwischen ihren Beinen“. Um besser sehen zu können, lehnt Alfred sich noch weiter hinaus – und fällt acht Etagen tief ins eiskalte Wasser.

Er überlebt den Sturz und die Unterkühlung. Mit einer Armfraktur, einer ausgekugelten Schulter und einer Netzhautablösung in einem Auge wird er von einem Rettungshubschrauber zusammen mit Enid nach New Brunswick gebracht.

Gary und Caroline

Gary Lambert ist 44 und hat schon immer als Vorzeigesohn gegolten: Er ist Abteilungsleiter bei der CenTrust Bank, seit 20 Jahren verheiratet und hat mit Caroline drei Kinder: Caleb, Aaron und Jonah. Carolines Vater war Anthropologe; er starb bei einem Flugzeugabsturz, als sie elf Jahre alt war. Ihre jetzt 76-jährige Mutter wohnt mit ihrem zweiten Ehemann in Kalifornien. Bis zu Calebs Geburt arbeitete sie als Anwältin, dann erbte sie ein Vermögen. Seither engagiert sie sich halbtags für das Kinderhilfswerk „Children’s Defense Fund“.

Nach entsetzlichen Weihnachtstagen bei Enid und Alfred vor neun Jahren hatte Caroline ihrem Mann das Versprechen abgenommen, sie nie wieder zu bitten, das Weihnachtsfest in St. Jude zu verbringen. Deshalb kamen die Eltern in den letzten acht Jahren an Weihnachten zu ihnen nach Philadelphia – was Caroline auch für vernünftiger hält, weil dann nur zwei statt fünf Personen reisen müssen. Zumal Denise ebenfalls in Philadelphia wohnt und Chip nicht weit entfernt davon in New York.

Caroline blieb mit Caleb und Aaron zu Hause, als Gary mit seinem jüngsten Sohn Jonah im März nach St. Jude flog. Während der Achtjährige verträumt ein Eis aß, fragte ihn Enid, ob er nicht Lust habe, Weihnachten in St. Jude zu feiern. Der Junge war begeistert, aber Gary wehrte ab: Bis Weihnachten sei noch ein dreiviertel Jahr Zeit. Enid wies ihn darauf hin, dass die günstigen Flugtickets früh ausgebucht seien und versuchte ihn zu erpressen: „Ich glaube, Jonah fände es schön.“

Als Gary nach seiner Rückkehr den Vorschlag machte, noch ein einziges Mal Weihnachten mit seinen Eltern in St. Jude zu feiern, reagierte Caroline so gereizt, dass er meinte: „Wir sind auf dem besten Weg, uns wegen einer Reise nach St. Jude zu trennen!“

Geschickt nutzt Caroline die Neigung ihres Mannes zu manisch-depressiven Stimmungsschwankungen aus, um ihn zu beherrschen. Er aber versucht, seine Gemütsverfassung und seine Ehe schön zu reden.

Im Herbst findet Gary heraus, dass die Axon Corporation seinem Vater für ein Patent 5000 Dollar bot. Da er weiß, dass Axon 150 Millionen Dollar für die Forschung ausgab und dabei ist, sich durch die Ausgabe von Aktien weitere 200 Millionen Dollar zu beschaffen, um ein neuartiges Medikament auf den Markt zu bringen, hält er das Angebot für viel zu niedrig und empfiehlt seinem Vater am Telefon, ein Vielfaches zu verlangen, doch Alfred geht nicht darauf ein.

Zusammen mit Denise nimmt Gary an einer Werbeveranstaltung der Axon Corporation teil. Das Medikament, dessen Markenname „Korrektal“ an ein Abführmittel erinnert, soll die Gehirnstruktur verändern. Axon verspricht sich davon eine aussichtsreiche Behandlung von Krankheiten wie Parkinson, aber auch die Umprogrammierung von Wiederholungstätern. Denise wendet sich an die etwa 40 Jahre alte Vorstandsvorsitzende Merilee Finch und schlägt vor, das Medikament an ihrem kranken Vater zu erproben. Als Gary behauptet, Axon habe Alfred Lambert mit dem Lizenzvertrag übervorteilt und zum Ausgleich 5000 Aktien des Unternehmens verlangt, lacht ihn die Managerin aus.

St. Jude

Bea Meisner und ihr Mann Chuck fliegen für sechs Wochen nach Österreich. Beim Abschied bittet Enid ihre Freundin, in Wien bei ihrem Schwiegersohn Klaus einen Halbjahresbedarf der in den USA nicht erhältlichen ASLAN-Kapseln zu besorgen.

Obwohl Enid es nicht wahrhaben will, ahnt sie, dass sie mit der Pflege Alfreds auf Dauer überfordert ist und das Haus in St. Jude aufgeben muss. Ihr größter Wunsch ist es, Weihnachten noch einmal mit ihren drei Kindern gemeinsam in St. Jude zu feiern.

Gary kommt als erster. Aber er ist allein und lügt, Jonah habe Fieber. Tatsächlich hatte Gary fünf Flugtickets besorgt, hielt sich aber an die Vereinbarung, dass niemand gezwungen werde, ihn nach St. Jude zu begleiten. Bei Caroline, Caleb und Aaron war von Anfang an klar, dass sie nicht mitkommen würden. Jonah freute sich zunächst auf die guten Sachen, die seine Großmutter ihm versprochen hatte. Das änderte sich, als Caroline im November vier Karten für einen Auftritt des Zauberers Alain Gregarious am 22. Dezember kaufte und weitere vier Karten für „König der Löwen“ am 23. Dezember in New York: „Wenn Jonah hier bleibt, kann er mit, sonst kriegt ein Freund von Aaron oder Caleb seine Karte.“

Als Bea läutet, um eine Flasche Sekt und die Wunderkapseln aus Wien abzugeben, öffnet Gary. Bea warnt ihn: Ihr Schwiegersohn halte die Drogen für gefährlich, habe ihr deshalb statt eines Halbjahres- nur einen Monatsbedarf mitgegeben und rate Enid dringend zur Konsultierung ihres Hausarztes. Erschrocken versteckt Gary die Kapseln vor seiner Mutter, zeigt sie aber Denise, sobald sie eingetroffen ist. Die holt sie später heimlich aus seinem Zimmer, schiebt sie in ein Fenster des Adventskalenders und verrät Enid, wo sie zu finden sind. Enid denkt inzwischen anders und wirft die Drogen weg: „Ich möchte entweder richtig leben oder gar nicht.“

Durch Zufall findet Denise heraus, warum ihr Vater damals das Angebot der Eisenbahngesellschaft nicht annahm und auf viel Geld verzichtete: Don Armour hatte sich offenbar nach seiner Kündigung an ihn gewandt, ihm gedroht, von seiner Affäre mit Denise herumzuerzählen. Um nicht erpressbar zu sein, kündigte Alfred. Tief betroffen erkennt Denise, dass ihr Vater sie ungeachtet seiner hohen Ansprüche und seiner konservativen moralischen Einstellung die ganzen Jahre über gedeckt hat.

Chip rief am Heiligen Abend aus Vilnius an: Er befinde sich am Flugplatz und auf dem Weg nach St. Jude. Doch er trifft erst zwei Tage nach dem Heiligen Abend ein, wenige Stunden bevor Gary wieder abreist. Während Chip am Flughafen in Vilnius telefonierte, wurde die Regierung gestürzt. Aufgrund der Unruhen stellte man den gesamten Flugverkehr ein. „Polizisten“ mit Skimasken raubten ihn unterwegs aus und nahmen ihm auch bis auf einen kleinen Rest, den sie nicht fanden, die 29 250 Dollar ab, die er von Gitana bekommen hatte.

Eigentlich sollte Alfred von Neujahr an sechs Monate lang als Testperson Korrektal einnehmen und während dieser Zeit zusammen mit Enid bei Denise in Philadelphia wohnen. Aber seine Demenz hat sich inzwischen so verschlechtert, dass nicht mehr daran zu denken ist. Stattdessen wird er in die St.-Luke’s-Klinik in St. Jude eingeliefert und dort gründlich untersucht. Nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus erklärt Enid sich bereit, ihn wieder zu Hause zu pflegen, ist aber froh, als die Kinder darauf bestehen, dass Alfred im „Deepmire Home“ untergebracht wird. Dort besucht sie ihn jeden Tag.

Kurz nach Weihnachten zog Denise nach Brooklyn und nahm dort eine Stelle als Küchenchefin an. Im April schickt sie ihrer Mutter ein Flugticket. Zuerst sträubt Enid sich, dann reist sie für vier Tage zu ihrer Tochter und genießt die Zeit, ohne sich darüber Gedanken zu machen, warum Denise offenbar gar nicht versucht, erneut einen Mann kennen zu lernen, den sie heiraten könnte.

Chip, der zunächst auch nur drei Tage in St. Jude bleiben wollte, hielt sich sechs Wochen lang dort auf, besuchte jeden Tag seinen Vater in der Klinik und reparierte Schäden am Elternhaus. Danach kam er jeden Monat zu Besuch. Erst nach einer Weile fand Enid heraus, dass er sich in Alison Schulman, die Chefärztin der neurologischen Station an der St.-Luke’s-Klinik, verliebt hatte. Alison kaufte sich in eine Gemeinschaftspraxis in Chicago ein, und Chip zog zu ihr. Enid stört sich nicht daran, dass ihr Sohn nach wie vor erfolglos an seinem Drehbuch arbeitet, nur einen Teilzeitjob als Aushilfslehrer hat und Alison bereits im siebten Monat mit Zwillingen schwanger ist, als sie und Chip endlich heiraten.

Alfred Lambert lebt noch zwei Jahre lang im „Deepmire Home“.

Er rührte sich nicht und zeigte keine Reaktion, außer wenn Enid versuchte, ihm einen Eiswürfel in den Mund zu schieben – dann schüttelte er, mit Nachdruck, einmal den Kopf. Das war das Einzige, was er bis zuletzt nicht vergaß: wie man sich weigerte. Enids Versuche, ihn zu korrigieren, hatten allesamt nichts gefruchtet. Er war noch genauso stur wie an dem Tag, als sie ihn kennen gelernt hatte. Und doch, als er gestorben war, als sie ihm ihre Lippen auf die Stirn gedrückt hatte und mit Denise und Gary in die warme Frühlingsnacht hinausging, da spürte sie, dass es nun nichts mehr gab, was ihre Hoffnung zunichte machen konnte, nichts. Sie war fünfundsiebzig Jahre alt, und sie würde einiges in ihrem Leben ändern.

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Jonathan Franzen erzählt in „Die Korrekturen“ von einer ganz normalen amerikanischen Familie. Enid und Alfred Lambert besuchen auf der Anreise zu einer Kreuzfahrt im August ihren jüngeren Sohn Chip in New York; auch ihre Tochter Denise kommt zu dem geplanten Mittagessen aus Philadelphia. Die Kreuzfahrt endet damit, dass der an Parkinson und Demenz erkrankte Alfred über die Reling ins Meer stürzt und von einem Hubschrauber in ein Krankenhaus gebracht wird. Obwohl Enid es nicht wahrhaben will, ahnt sie, dass sie mit Alfreds Pflege bald überfordert sein wird und ihr Haus in St. Jude aufgeben muss. Deshalb wünscht sie sich ein letztes gemeinsames Weihnachtsfest mit Alfred, Chip, Denise und ihrem älteren Sohn Gary in St. Jude. In diesen „Rahmen“ hat Jonathan Franzen Rückblenden auf die Entwicklung der einzelnen Familienmitglieder eingeflochten. Mit einer Fülle banaler, desillusionierender, zum Teil tragikomischer Geschichten veranschaulicht er in „Die Korrekturen“ die ungestillte Sehnsucht nach familiärer Harmonie, deckt die Lebenslügen seiner Figuren auf, zeigt ihre Angst, Unsicherheit und Orientierungslosigkeit; wir erleben den alltäglichen interfamiliären Psychoterror und die missglückten Versuche der Familienmitglieder, ihre Lebensverhältnisse zu korrigieren.

Sylvia Roth sagt zu Enid Lambert: „Wir sind doch alle darauf getrimmt zu glauben, unsere Kinder seien wichtiger als wir, wissen Sie, und wie aus zweiter Hand durch sie zu leben.“ Vergeblich hat Enid versucht, den Kindern Lebensentwürfe aufzudrängen, mit denen sie ihre unerfüllten eigenen Wunschträume zu verwirklichen hoffte. Virtuos versteht es die von ihrem Mann und ihren Kindern allein gelassene Frau, den Familienmitgliedern ein schlechtes Gewissen aufzuzwingen, sie durch berechnende Fürsorge zu erpressen und einen Enkel so zu manipulieren, dass sie ihre eigene Absicht – die gemeinsame Weihnachtsfeier – mit der Erfüllung seines Wunsches tarnen kann. Erst am Ende gesteht sie sich ihre Lebenslüge ein und findet sich mit der eigenen Unzulänglichkeit ebenso ab wie mit der ihrer Kinder.

Jonathan Franzen sympathisiert wohl mit Chip, dem sozialistischen Literaturprofessor, der sich von einer Studentin manipulieren und verführen lässt und auf diese Weise seine Karriere ruiniert. Chip ist der Intellektuelle in der Familie, der nie etwas besitzt, sich kaum verbiegt, unangepasst ist und den Gegenpol zu der konservativen Lebensart seiner Eltern ist. Doch als es darauf ankommt, bleibt er sechs Wochen lang in St. Jude und kümmert sich um seinen kranken Vater.

Zugleich hält Jonathan Franzen der modernen Gesellschaft in „Die Korrekturen“ den Spiegel vor, aber da thematisiert er nur, ohne in die Tiefe zu gehen: zerbrochene Familienstrukturen, sexuelle Orientierungslosigkeit, die Gier nach dem großen Geld, Aktienspekulationen, Insidergeschäfte, Wirtschaftskriminalität, Geschäftemacherei mit biotechnischen Patenten, „Umprogrammierung“ von Wiederholungstätern durch Medikamente, Drogenkonsum, Todesstrafe …

In sieben Kapitel gliedert Jonathan Franzen seinen komplexen, 780 Seiten langen Roman „Die Korrekturen“: 1. St. Jude; 2. Der Versager; 3. Je mehr er darüber nachdachte, desto wütender wurde er; 4. Auf See; 5. Der Generator; 6. Ein letztes Weihnachten; 7. Die Korrekturen. Aber durch zahlreiche Rückblenden vermeidet er eine starre chronologische Struktur.

Dass der konservative, beherrschte Alfred Lambert, der in geordneten Bahnen leben wollte, bei einer Eisenbahngesellschaft arbeitete, ist eine gelungene Symbolik. Häufig spielt Jonathan Franzen mit ungewöhnlichen Metaphern und Vergleichen („zwei leere Stunden waren eine Nebenhöhle, in der Infektionen keimten“), aber viele davon finde ich nicht geglückt.

Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt, ähnlich wie an jenem lange vergangenen Nachmittag vor seiner fünften Verabredung mit Caroline, als sie derart reif für die Unzucht waren, dass ihnen jede Stunde, die sie davon trennte, wie ein Granitblock vorkam, der erst von einem Kettensträfling zertrümmert werden musste …

Zu den missratenen Veranschaulichungen gehört zum Beispiel auch die Beschreibung eines Rippchens, das mit Sauerkraut und „einem Hodenpaar neuer Kartoffeln“ serviert wird. Überhaupt habe ich den Eindruck, dass Jonathan Franzen seinen Roman aus PR-Gründen bewusst mit zahlreichen schlüpfrigen Szenen und Anspielungen gespickt hat. Im Fall von Denise, die sich zunächst nicht klar darüber ist, ob sie lieber mit (älteren) Männern oder mit (gleichaltrigen) Frauen ins Bett geht, tragen erotische Szenen durchaus zur Geschichte bei, aber einige Stellen in „Die Korrekturen“ sind mehr peinlich als sinnvoll.

Nicht alles an „Die Korrekturen“ gefällt mir, einige Passagen haben mich auch etwas gelangweilt, aber es handelt sich ohne Zweifel um einen empfehlenswerten, außergewöhnlichen Roman.

Zunächst war geplant, die deutschsprachige Ausgabe des in den USA millionenfach verkauften Romans „The Corrections“ im Verlag Alexander Fest zu veröffentlichen. Dann ging Fest als Verlagsleiter zu Rowohlt – und brachte die Rechte mit. Wegen der enormen Nachfrage zog der Rowohlt-Verlag den Erscheinungstermin um einige Monate auf Juni 2002 vor.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2003
Textauszüge: © Rowohlt Verlag

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