Vilma Fuentes : Straßen der Wunder

Straßen der Wunder
Originalausgabe: El Autobús Editorial Mortiz, Mexico 1995 Straßen der Wunder Übersetzung: Michael Hofmann Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt/M 1996
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Ein Mädchen mit dem Kosenamen Pingo – Teufelchen – wächst wohl behütet in der pulsierenden, labyrinthartigen Großstadt Mexiko-Stadt auf, durch die es jeden Tag sicher mit dem Schulbus gefahren wird.
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Kritik

Bei "Straßen der Wunder" handelt es sich um einen Roman aus sechzehn rührenden, harmlosen Geschichten, die nur locker zusammenhängen.
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Die Erzählerin erinnert sich in sechzehn Geschichten an ihre glückliche Kindheit in Mexiko-Stadt. „Pingo“ – Teufelchen – lautete ihr Kosename.

Weil bei Pingos Tante Gloria in der Kindheit eine Herzerkrankung festgestellt worden war, glaubten die Ärzte, dass sie die Pubertät nicht erleben würde. Die Eltern und die übrigen Verwandten verheimlichten den Befund vor dem Mädchen, um es zu schonen, und nahmen es auch nach wenigen Jahren von der Schule.

Während ihre Geschwister zur Schule gingen, atmete sie die frische Luft der Felder des Landgutes; sie wurde von allen, die das Geheimnis ihres Todes kannten, verwöhnt, voll Mitleid betrachtet, erfuhr niemals Widerspruch, genoss die uneingeschränkte Zuneigung ihrer Eltern, die ihren übrigen Nachkommen gegenüber damit geizten. Angesichts Glorias ständig drohenden Endes begruben sie fast beiläufig zwei ihrer Kinder, die in zartem Alter unversehens starben: ohne ein Anzeichen oder vorherige Warnung. Und diese Plötzlichkeit ließ den Eltern vielleicht nicht einmal Zeit, darunter zu leiden. (Seite 10)

Inzwischen war Gloria bereits achtzehn. Einmal versprach sie Pingo auf der Straße, ein Cabriolet mit einem blonden jungen Mann am Steuer herbeibeizuzaubern, der sie zum Parque de las Américas fahren würde. Tatsächlich gelang die Zauberei: Der junge Mann hieß Carlos, studierte Architektur und schien Gloria bereits zu kennen. Später wechselten die Autos und die Männer am Steuer hießen Juan, Jerónimo, Pedro und so weiter.

Zwei Monate lang besuchte Pingo einen Kindergarten, der von der aus Spanien stammenden Witwe Doña Elvira geleitet wurde. Deren Tochter Xóchitl, die selbst noch zur Schule ging, brachte ihr das Lesen bei.

Xóchitl aber ahnte den Zauber nicht, den ich in der Schrift hatte aufblitzen sehen. Sie ahnte nicht, welch ein Wunder für mich die Buchstaben waren. (Seite 64)

Auf die Erstkommunion wurde sie von Madame du Saint-Esprit vorbereitet.

Entschlossen, uns unwiderruflich ihren eigenen Glauben aufzupfropfen und wenn möglich auch ihre religiöse Berufung, und das mit dem Schwung, den das Fehlen des geringsten Zweifels verleiht, über vierzig Jahre lang in das Einerlei der Gebete eingemauert, die sie uns auswendig lernen ließ […] (Seite 65)

In der Nachbarschaft wohnte ein schwarzes Mädchen, das zwar Blanca hieß, aber „Negra“ gerufen wurde und ständig irgendwelche Geschichten erfand. Durch bloße Anspielungen brachte sie Doña Lola darauf, dass deren Mann sie mit Celia betrog.

„Willst du etwa sagen, dass diese Schlampe ein Verhältnis mit meinem Mann hat, verflixter Teufel?“
„Ich? Wann hab ich das getan? Meine Zunge soll auf der Stelle verfaulen, wenn ich so etwas gesagt habe. Das ist ein Missverständnis. ich hätte nie geglaubt, dass Ihr Mann mit Celia ausgeht. Das ist ja das Allerneueste, Doña Lola. Ich schwöre Ihnen beim Jesuskind, dass ich niemals so etwas Infames gedacht hätte. Sie bezichtigen Herrn Leopoldo, und bestimmt ganz zu Unrecht. Ein Mann, der so anständig ist wie sie selbst, nicht wahr, sonst wäre er ja wohl nicht Ihr Mann, oder? So ein Herr, der nie den Mädchen nachschaut, nie ein Kompliment macht, wer hätte das gedacht? Aber wenn Sie es sagen …“ (Seite 108)

Schließlich besuchte Pingo das renommierte Kolleg Pedregal de San Angel. Der Schulbus brachte sie stets sicher duch die pulsierende, labyrinthartige Stadt. Häufig musste das Dienstmädchen der Familie den Schulbus aufhalten, weil Pingo und ihre kleine Schwester Lizy noch nicht fertig waren. Die Pause nutzten der Fahrer Don Juanito und die Aufseherin Doña Conchita dazu, um ihre vor zwanzig Jahren begonnene Unterhaltung fortzusetzen.

Sobald der Schulbus Pingo und Lizy nachmittags wieder nach Hause brachte, wurden sie von Jorge erwartet. Der war fünfzehn, vier Jahre älter als Pingo. Sie versteckten sich in den Ruinen einer Hazienda in der Nachbarschaft, und Pingo las den beiden anderen Kindern aus Büchern vor, die sie sich in der Schulbibliothek ausgeliehen hatte. Jorge war vorzeitig von der Schule abgegangen, ohne richtig lesen gelernt zu haben. Seine Eltern überließen ihn sich selbst. Wenn abends das Dienstmädchen Teresa nach Pingo und Lizy rief, hörten die beiden meistens eine Viertel- oder sogar eine halbe Stunde nicht auf sie, und Teresa war darüber nicht unglücklich, denn sie nutzte die Zeit, um mit ihrem in der Nachbarschaft arbeitenden Verlobten zu schwatzen.

Wie wie meisten Schülerinnen erhielt Pingo zwei Peso am Tag, um sich in der Pause etwas kaufen zu können. Ganz anders Mónica: Ihr mussten die Nonnen am Verkaufsstand immer wieder auf einen Hundert-Peso-Schein herausgeben. Mónica zählte das Wechselgeld nicht nach und bezahlte auch großzügig für ihre Schulfreundinnen mit. Einmal lud sie Pingo und Carmen ein, das Wochenende bei ihr zu verbringen. Als erstes ging Javier Sainz, Mónicas Vater, mit den drei Mädchen in ein Restaurant. Pingo fand ihn sehr unterhaltsam, nicht so steif wie die Väter der anderen Mitschülerinnen. Erst nach einer Weile fiel ihr auf, dass seine Frau gar nicht dabei war. Sonst kamen die Schülerinnen nie allein mit einem Mann zusammen: Im Schulbus passte Doña Conchita auf, und in den Unterrichtsstunden des einzigen Lehrers saß Madame de Saint-Philippe, eine fast hundert Jahre alte Nonne, mit auf dem Podest. Nach dem Essen setzte Javier Sainz die Mädchen vor seinem Haus ab. Dort lernte Pingo Mónicas Mutter kennen, María Elena Sainz, eine knapp siebenundzwanzigjährige Frau, die bereits seit zwölf Jahren verheiratet war und unter Schlaflosigkeit litt, vielleicht, weil ihr Mann selten vor dem Morgengrauen nach Hause kam. Er war nämlich der Spielleidenschaft verfallen. Nachdem er sich später damit ruiniert hatte, scheiterte auch sein Selbstmordversuch.

Die Lehrerin Catalina Naipes befürchtete den Rückfall in die Barbarei, als sie die Schülerin Patricia Aguilar mit einem Kaugummi erwischte, Elsa Castillos vor dem Schultor mit zwei jungen Männern in einem Cabriolet plaudern sah und selbst auf dem Weg zur Schule in ihrem Auto von einem LKW-Fahrer angestarrt wurde.

Mein Rock war ein wenig hochgerutscht, weil ich das Kupplungspedal, das Gas, die Bremse und was weiß ich betätigen musste. Wir Frauen sind nicht dazu geschaffen, durch die Straßen zu fahren, wir sind allen möglichen Gefahren ausgesetzt. […] Ich hätte Nonne werden, mir den Kauf dieses Fiats sparen, mich in ein Kloster zurückziehen sollen. (Seite 268f)

Als für Pingo und ihre Klassenkameradinnen der Schulabgang bevorsteht, tun die Nonnen und die weltlichen Lehrerinnen, als handele es sich um eine Hinrichtung.

„Ihre Kindheit geht zu Ende“, sprach die Mutter Oberin wie ein Richter, der einem verstockten Angeklagten das Todesurteil verkündet. (Seite 295)

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„Straßen der Wunder“, das ist ein Roman aus sechzehn rührenden, harmlosen Geschichten, die nur locker zusammenhängen. Sie handeln von der glücklichen Kindheit eines wohl behüteten Mädchens in Mexiko-Stadt.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2004
Textauszüge: © Frankfurter Verlagsanstalt

Reso Tscheischwili - Die Himmelblauen Berge
Der Mikrokosmos des Verlags spie­gelt die Ineffektivität und In­effi­zienz des bürokratischen Sys­tems. "Die Himmelblauen Berge" ist eine originelle, tragikomische Parabel von Reso Tscheischwili, eine absurd-surreale Farce mit An­klän­gen an Kafka und Beckett.
Die Himmelblauen Berge