Wilhelm Genazino : Wenn wir Tiere wären

Wenn wir Tiere wären
Wenn wir Tiere wären Originalausgabe: Carl Hanser Verlag, München 2011 ISBN: 978-3-446-23738-4, 159 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Als Maria ihren Lebensgefährten, einen freien Architekten Anfang 40, mit zwei Flugtickets überrascht, bringt er sie dazu, die Urlaubsreise zu stornieren. Er ist "erlebnisüberdrüssig". Antriebslos und entscheidungsschwach, melancholisch und mit wenig Ehrgeiz, zugleich egozentrisch und rücksichtslos taumelt er durch ein Leben, das für ihn viel zu anstrengend ist. Nur eine obsessive Sexualität verleiht ihm ein gewisses Maß an Energie, die allerdings hin und wieder wie ein Tischfeuerwerk abbrennt ...
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Kritik

Der Roman "Wenn wir Tiere wären" ist eine tragikomische Satire auf die Überforderung eines Durchschnitts-mannes in der modernen Großstadt. Dem namenlosen Protagonisten überlässt Wilhelm Genazino das Wort.
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Der namenlose Erzähler, ein freier Architekt Anfang vierzig, wohnt in einer Zwei-Zimmer-Wohnung in Frankfurt am Main. Noch während seiner inzwischen geschiedenen Ehe mit Thea begann er ein Liebesverhältnis mit Maria, aber er mag nicht mit ihr zusammenziehen und fühlt sich jedes Mal erleichtert, wenn sie ihn nach einem langen Wochenende wieder allein lässt.

Eigentlich wünschte ich mir seit längerer Zeit eine andere Frau, eine solche war jedoch nicht in Sicht. Eigentlicher noch war ich mit Maria zufrieden, ja, vermutlich liebte ich sie inzwischen. Ich suchte eine Frau, deren Anwesenheit ich ohne Fluchtgedanken ruhig ertrug. Diese Frau war Maria nicht.

Maria arbeitet in einer Werbeagentur. Wenn sie abends zu ihm kommt, bringt sie oft zwei Flaschen Wein mit. Sie trinkt zu viel. Danach will sie mit ihm ins Bett. Er schätzt ihre Brüste, aber hin und wieder hat er keine Lust auf einen Orgasmus und simuliert eine Ejakulation, damit sie Ruhe gibt. Nach dem Sex wartet er häufig, bis sie eingeschlafen ist und geht dann noch zu einem „postkoitalen Ausflug“ in eine Kneipe. Dort fühlt er sich wohl, denn für diese Nacht braucht er sich nicht mehr nach einer Frau umzuschauen.

Ein auf diese Weise geordneter Mann tritt den anderen Frauen gegenüber gelassen auf, sie sehen sofort, dieser Mann wird wenigstens vorübergehend nicht von seinem Hauptanliegen gequält.

Widerwillig geht er mit Maria ins Kaufhaus, um Austern zu essen. Aber als sie ihn mit zwei Tickets für zwei Wochen Gran Canaria überrascht, bringt er sie dazu, die Buchung zu stornieren. Thea hatte ihm Urlaubsreisen aufgezwungen, aber gegen Maria setzt er sich durch. Er ist erlebnisüberdrüssig und beneidet eine Ente, die mitten in der Stadt schläft.

Ja, ich wünschte mir, die Ente nachahmen zu können. Schlafend auf einem Bein in der Stadt herumstehen: dann fiele mir kein weiterer Wunsch mehr ein.

Es war noch nicht lange her, dass ich mir beinahe täglich Gedanken darüber machte, was mit meinen alten Eltern geschehen sollte. Wo sollten sie wohnen, wer sollte sie pflegen, wer sollte ihnen den Alltag erträglich machen? Jetzt waren meine Eltern tot, und das Verblüffende war, dass ich mir immer noch die alten Sorgen machte, die sich jetzt auf mich selbst bezogen: Wo sollte ich wohnen, wer sollte mich pflegen, wer sollte mir im Alltag helfen? Ich hatte schon längst bemerkt, dass ich selbst alt sein wollte, weil mir die Lust an jeder Art von Arbeit abhanden gekommen war. Ich sehnte mich nach Ruhe und Untätigkeit. Ich musste diese Sehnsüchte verheimlichen, weil sie mir altersmäßig noch lange nicht zustanden.

Auf Drängen Marias geht er los, um sich einen Anzug zu kaufen. Aber er kommt nur mit einem Fertigsalat nach Hause.

Ausgerechnet ich, der sich auf seine Individualität so viel zugute hielt, ging wie ein x-beliebiger Massenmensch mit einem Fertigsalat nach Hause. Eigentlich hatte ich mir einen neuen Anzug und vielleicht sogar ein Bett kaufen wollen, aber es hatte nur zu einem Fertigsalat in einem scheußlichen Plastikbehälter gereicht. Jetzt trug ich mein Fertigschicksal in meine Fertigwohnung, wo ich einen Fertigabend vor dem Fernsehapparat verbringen würde.

Er schaut aus dem Fenster:

Auf der Straße sah ich eine kleine Frau mit viel zu großem und schwerem Koffer, den sie in gequälter Haltung hinter sich her zog. Um ein Haar hätte ich das Fenster geöffnet und auf die Straße hinuntergerufen: Reisen Sie künftig mit kleinerem und leichterem Gepäck! Ich sah einen Mann mit Ohrstöpseln im Ohr, aber ohne Regenschirm. Jemand müsste ihm klarmachen, dass ihm, falls es regnete (es regnete nicht), ein Schirm mehr nützen würde als Musik in den Ohren. Das Peinigende an diesen Verrücktheiten war, dass sie ganz eng an mich herantraten und nur langsam verschwanden. Endlich zog ich die Schuhe an und verließ die Wohnung. Ich hoffte, auf der Straße einen wirklich vor sich hinsprechenden Menschen zu sehen, dem ich eine Weile folgen könnte. Dann hätte ich das wunderbare Gefühl, dass ein anderer meine Verrücktheit austrug – und ich wäre erlöst.

Seine Aufträge bekommt er von Michael Autz, einem fest angestellten Architekten des Büros Erlenbach & Wächter. Vor vier Wochen fanden sie zusammen einen Personalausweis. Michael machte sich einen Spaß daraus, unter dem fremden Namen Waren bei Versandhäusern zu bestellen und sie postlagernd schicken zu lassen.

Völlig unerwartet erhält der Erzähler einen Anruf von Karin Autz. Ihr zweiundvierzig Jahre alter Ehemann legte sich nach dem Abendessen für ein Weilchen hin, um „nach spätestens einer Dreiviertelstunde […] erfrischt und ausgeruht in das Eheleben zurück[zu]kehren“, aber als Karin nach über einer Stunde ins Schlafzimmer schaute, war er tot. Ein Herzinfarkt.

Beim Begräbnis denkt der Erzähler an Thea, die inzwischen mit einem anderen Mann zusammenlebt. Bei dieser Vorstellung fängt er zu weinen an. Karin, die annimmt, er sei Michael so nahegestanden, hört zu weinen auf, und als sein Weinen in Schluchzen übergeht, fasst sie ihn zart am Arm und führt in ein Stück vom Grab weg, um ihn zu beruhigen.

Bald darauf wird ihm der Sattel seines angeketteten Fahrrads gestohlen. Er zeigt den Diebstahl bei der Polizei an und kauft einen neuen Sattel. Nachdem ihn der Verkäufer gefragt hat, ob das Fahrrad versichert sei, schreibt er unaufgefordert 89 statt 29 Euro auf die Rechnung.

Im Café eines der großen Hotels bestellt der Erzähler Kaffee, Kuchen und ein Glas Sekt. Als die Bedienung fragt, ob die Rechnung aufs Zimmer gehe, nickt er und gibt 134 als Nummer an.

Thea verabredet sich mit ihm. Die Zweiundvierzigjährige möchte ihre Zähne sanieren lassen. Der Kostenvoranschlag beläuft sich auf 12 000 Euro, und weil sie nur 2000 Euro gespart hat, bittet sie ihren Ex-Mann, ihr 10 000 Euro zu leihen. Eigentlich will er nicht, aber am Ende verspricht er, ihr den Betrag am nächsten Tag zu überweisen.

Er folgt einer Einladung Karins zu einer Party und erinnert sich daran, wie sie sich auf einem Faschingsball vor einigen Jahren stürmisch küssten. Ob er sie in ein paar Tagen zu einem Arzttermin nach Wiesbaden fahren könne, fragt sie ihn. Sie besitzt zwar Michaels Auto und hat einen Führerschein, ist jedoch schon lange nicht mehr selbst gefahren.

Während er in dem Krankenhaus in Wiesbaden, in dem Karin sich untersuchen lässt, auf sie wartet, fällt ihm eine ältere Küchenhilfe mit einer Lippenspalte auf. Er kennt sie. Vor fünfundzwanzig Jahren – damals war sie noch eine blutjunge Küchenhilfe in dem Kaufhaus, in dem er einen Ferienjob hatte – fasste er sie im Aufzug an. Ein paar Tage später nahm sie ihn mit in den Keller. Dort holte sie seinen erigierten Penis aus der Hose, streifte ihren Slip ab und setzte sich mit gespreizten Beinen vor ihm auf einen Karton. So mutig er im Aufzug gewesen war, nun wusste er nicht mehr weiter und starrte sie nur an, bis sie die Geduld verlor und ihn kommentarlos stehen ließ.

Nachdem er Karin wieder heimgebracht hat, überlässt sie ihm das Auto. Und sie wird seine Geliebte.

Herr Erlenbach bietet ihm an, die verwaiste Stelle von Michael Autz zu übernehmen.

Die Anstellung war (wäre) ein Anschlag auf meine Unabhängigkeit. Aber sie war auch eine Attacke auf mein inneres Freiheitsgefühl, das war viel schlimmer.

Er zaudert, fängt dann aber doch in dem Architekturbüro an. Damit schlüpft er immer mehr in Michaels Rolle.

Ich hatte jetzt zwei Gebrauchtfrauen, einen Gebrauchtjob, einen Gebrauchtwagen und jetzt auch noch einen Gebrauchtschreibtisch.

Als er Michaels Schreibtisch aufräumt, findet er den fremden Personalausweis. Den steckt er ein. Zu Hause bestellt er auf den anderen Namen eine elektrische Zahnbürste, ein Heimbohrer-Set und eine automatische Schuhputzbürste aus Versandkatalogen, so wie es ihm Michael vorgemacht hatte.

In einer Schublade seines Bads entdeckt Maria einen fremden Tampon. Empört stellt sie ihn zur Rede, und er gibt zu, hin und wieder auch mit einer anderen Frau zu schlafen. Daraufhin verlässt sie ihn.

Ich war in gewisser Weise dankbar, dass mir ein vergessener Tampon geholfen hatte, eine Klärung herbeizuführen, für welche der beiden Frauen ich mich entscheiden sollte. Ich selbst hätte diese Entscheidung nicht treffen können. Ich liebte beide Frauen, und ich hätte sie auch beide gerne behalten.

Er zieht zu Karin.

Die Stelle im Architekturbüro hätte er gern wieder gekündigt, aber dafür fehlt ihm der Mut. Initiative zeigt er stattdessen in der Garderobe des Büros. Dort fällt er über eine zweimal geschiedene Kollegin in seinem Alter her und begrapscht sie. In den Tagen danach verrät ihr Blick, dass sie auf eine Fortsetzung und Steigerung hofft.

Es würde sehr lange dauern, bis Frau Meinecke verstehen würde, dass meine Annäherung höchstens die Qualität eines schnell abgebrannten Tischfeuerwerks hatte.

Als er die drei Pakete am Postamt abholen will, wird er verhaftet. Der Staatsanwalt wundert sich darüber, wieso ein gut verdienender Architekt sich zu lächerlichen Betrügereien hinreißen ließ.

Ich hatte mir von dem Betrug eine innere Belebung erhofft, sagte ich.
Ich erkannte an seinem Gesicht, dass der Staatsanwalt diesen Satz nicht verstand.
Das Hauptziel meiner Existenz ist eine Lebensersparnis, sagte ich dann auch noch.

In der Einzelzelle leidet er nicht unter der Isolation, sondern fühlt sich wohl. Eine Frau steht ihm hier zwar nicht zur Verfügung, aber er masturbiert und erinnert sich, wie er es als Siebzehnjähriger mit Luise und zwei Jahre später mit Elisabeth trieb. Maria besucht ihn und versöhnt sich mit ihm. Schließlich wird das Verfahren wegen Geringfügigkeit eingestellt und er kommt wieder frei.

Als er nun endlich ein neues Bett kaufen will, trifft er in der Möbelabteilung auf Thea. Sie ist schwanger.

Dass Thea mit einem anderen Mann zusammenlebte, hatte ich inzwischen hingenommen, aber dass sie von diesem Mann auch schwanger war, überstieg meine Toleranz.

Er versteckt sich vor ihr – und kauft wieder kein Bett.

Maria bringt die Stellenanzeigen aus der Zeitung mit und drängt ihn, sich als Social Investor in einer Computerfabrik zu bewerben. Er flieht ins Bad.

Ein paar Tage später kommt Maria in ihrer kurzen Mittagspause aufgeregt zu ihm, zieht den Slip aus und hält ihm das Wäschestück hin.

Da, schau rein, mir fallen die Schamhaare aus.

Nachdem er ihr versichert hat, dass der Ausfall einiger Schamhaare völlig normal sei, beruhigt sie sich, legt sich auf die Couch und nickt ein. Aber er weckt sie, damit sie rechtzeitig ins Büro zurückkommt.

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Der Roman „Wenn wir Tiere wären“ ist eine Satire auf die Überforderung eines Durchschnittsmannes in der modernen Großstadt. Wilhelm Genazino porträtiert einen Architekten, der antriebslos und entscheidungsschwach, melancholisch und mit wenig Ehrgeiz, zugleich egozentrisch und rücksichtslos durch ein Leben taumelt, das für ihn viel zu anstrengend ist. Vor zu vielen Erlebnissen scheut er zurück. Die Welt ekelt ihn an, doch um eine Änderung der Situation herbeizuführen, fehlt es ihm an Mut und Stärke. Nur eine obsessive Sexualität, die auch vor stillenden Müttern nicht Halt macht, verleiht ihm ein gewisses Maß an Energie, die allerdings hin und wieder wie ein Tischfeuerwerk abbrennt.

Noch kürzer zusammengefasst: Das Leben ist beschissen, und dann bist du tot.
(Richard Kämmerlings, Die Welt, 24. Juli 2011)

Wilhelm Genazino überlässt das Wort in „Wenn wir Tiere wären“ einem namenlosen Ich-Erzähler, der trotz seiner Interesselosigkeit und fehlenden Empathie genau beobachtet, was um ihn herum vorgeht und das auch in einfachen Sätzen detailliert schildert.

Die Ich-Form wird bei Genazino zu einer furiosen Erprobung von Fluchtwegen, und es waltet dabei eine Art auktorialer Ironie. Die klassischen Instanzen der Erzählung, die Ich- und die Er-Perspektive, verschwimmen, die Ich-Figur kommentiert sich in der Pose des einstmals allwissenden Erzählers ständig selbst. (Helmut Böttiger, Süddeutsche Zeitung, 26. Juli 2011)

Mit Ironie und Tragikomik unterhält Wilhelm Genazino die Leserinnen und Leser. Aber nicht alle Episoden fügen sich nahtlos ein. Manche wirken, als ob er ein Notizbuch mit Einfällen abgearbeitet hätte.

Die meisten Abweichungen von der üblichen Grammatik und Rechtschreibung, die in „Wenn wir Tiere wären“ zu finden sind, billigt man einem Schriftsteller durchaus zu, aber es gibt auch Grammatikfehler, die vom Lektorat übersehen wurden, z. B.:

Nach fast einer Stunde, berichtete Karin, wurde sie unruhig und schaute nach ihm.

Einige Kollegen zogen sich in den sogenannten Pausenraum zurück, tranken einen Becher Kaffee und aßen ein belegtes Brot, das sie sich von zu Hause mitbrachten.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2011
Textauszüge: © Carl Hanser Verlag

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