Martino Gozzi : Einmal Mia

Einmal Mia
Originalausgabe: Una volta Mia PeQuod, Ancona 2004 Einmal Mia Übersetzung: Suse Vetterlein Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2006 ISBN 3-8031-2535-9, 91 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Mia steht leise auf, damit Amos nicht aufwacht. Nachdem sie alle Fenster geschlossen hat, dreht sie die vier Gashähne auf und zieht die Haustür leise von außen zu. Der Gesang von LeRoy Williams im Autoradio überwältigt sie so, dass sie mit ihrem rosaroten VW-Käfer von der Straße abkommt und in der Krone eines Feigenbaums landet. Zum Glück passiert ihr nichts weiter. Sie will nun unbedingt nach Luisville, wo LeRoy Williams am übernächsten Abend singen wird ...
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Kritik

"Einmal Mia" ist ein zauberhafter Roman, eine originelle, märchenhafte Geschichte in skurrilen Bildern, geschrieben von Martino Gozzi in einer poetischen Sprache.

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An dem Morgen, als alles explodierte, wachte Mia auf, als der Wind durch die Fensterläden pfiff, und ihr war klar, es war Zeit zu gehen. (Seite 5)

Mit diesem Satz beginnt der Roman „Einmal Mia“ von Martino Gozzi. Amos schläft noch. Vor zwei Jahren war Mia zu ihm gezogen. Oft ist er eine ganze Woche lang fort, denn er arbeitet für „Pelikan Express Deliveries“, den „schnellsten Lieferservice der Welt“. An den Tagen, an denen Amos zu Hause ist, spielt er nach dem Aufstehen erst einmal Gitarre, obwohl er es nicht wirklich kann, aber er geht damit sowohl jedem Gespräch als auch seinen eigenen Gedanken aus dem Weg. Am Vorabend hatte Mia einen Mann namens Adão kennen gelernt und war mit zu ihm gegangen, um mit ihm zu schlafen. Um 3 Uhr kehrte sie nach Hause zurück und legte sich neben Amos ins Bett. Noch vor dem Morgengrauen steht sie auf, schließt sorgfältig alle Fenster, dreht alle vier Gashähne auf und zieht die Haustür leise von außen zu. Das mit dem Gas macht sie nicht etwa aus Hass, sondern um die Brücke hinter sich abzureißen.

Mit ihrem rosaroten VW-Käfer durchquert Mia die Wüste von San Joaquim. Im Autoradio hört sie LeRoy Williams singen. Das überwältigt sie so, dass sie von der Straße abkommt und in der Krone eines Feigenbaums landet, der neben einer von einem alten Ehepaar betriebenen Raststätte steht. Mia plumpst auf den Boden. Glücklicherweise hat sie nur ein paar blaue Flecken. Bess und Jacob geben ihr zu essen und zu trinken, und Mia übernachtet bei ihnen. Am anderen Morgen macht Bess Pancakes fürs Frühstück.

„Entschuldigt bitte“, sagte [Mia], „aber wisst Ihr vielleicht, wo Luisville liegt?“ […]
„Luisville“, sagte Jacob.
„Luisville“, sagte die rührende Bess.
„Luisville“, sagte Mia. „LeRoy Williams spielt dort, am dreiundzwanzigsten. Das haben sie im Radio gesagt.“ (Seite 12)

Da an diesem Tag der einundzwanzigste ist, kommt Ramón mit seinem Lieferwagen vorbei, wie an jedem ungeraden Tag, um bei Bess und Jacob zu frühstücken und zu tanken. Ramón verkauft Bratpfannen aus rostfreiem Stahl. Er nimmt Mia mit nach Merisville und setzt sie dort vor dem „Motel 39“ ab.

In der Nacht schleicht Antoine, der Barbier, in das Motel, denn er hört aus einem der Zimmer Musik und verdächtigt seine Frau Mardou, ihn mit einem Liebhaber zu betrügen. Auf dem Korridor schärft er noch einmal sein Rasiermesser und reibt es mit Knoblauch ein. Er hat gehört, dass die damit verursachten Wunden niemals heilen. Dann tritt er die Tür ein. Mia schreckt aus dem Schlaf hoch. Sie wirft sich auf den Eindringling und prügelt auf ihn ein. Antoine lässt es geschehen, bleibt in der Zimmerecke liegen und fällt in Schlaf.

Der nahende Morgen tauchte in der Ebene von Merisville alles in eine große Stille. Wie lauter kleine Boote im Hafen schaukelten die Dinge genauso weiter, wie sie es schon die ganze Nacht über getan hatten. In einem kleinen Häuschen am Stadtrand, dem einzigen, wo in der Küche Licht brannte, packte eine Frau das Mittagessen für ihren Mann ein, der zum Arbeiten in die Zuckerfabrik musste. Der Mann küsste sie auf die Stirn, wortlos, schaltete das Licht in der Küche aus und schlüpfte nun, an der Türschwelle, in die Gummistiefel, die nach dem süßlichen Brei stanken. Nur wenige Meter entfernt stand sein Nachbar auf, um sich die Morgendämmerung anzuschauen, wie er es jeden Morgen tat, seit er wusste, dass ein Tumor seinen Magen auffraß. Zwei Häuserblöcke weiter tauchte seine allererste Freundin in die Wanne, mit Badehaube, damit ihre Haare nicht nass wurden, und löste ein paar Kreuzworträtsel, darauf achtend, dass auch das Rätselheft nicht nass wurde. Am anderen Ende der Stadt schnitt sich ihr zweiter Ehemann auf der Veranda sitzend die Nägel und wartete auf die Zeitung. Seine Taufpatin wiederum, die die letzten fünfundzwanzig Jahre alleine gelebt hatte, bekreuzigte sich, noch immer im Bett liegend und mit der Gewissheit, bald zu sterben. Ihre Enkelin Mardou, uneheliche Tochter eines Brasilianers und ihrer eigenen Tochter, schlüpfte mit der Anmut eines Windhauchs unter die Bettdecke, und kaum waren ihre Augen geschlossen, bemerkte sie nicht einmal, dass sie ganz alleine war, in diesem Bett. Mia dagegen wachte auf, als Antoine, der Barbier, noch immer auf dem Boden liegend, sagte:
„Ich muss nach Hause, Mardou wartet sicher schon auf mich.“ (Seite 32f)

Zum Abschied rät Antoine Mia, den Küstenbus Richtung Süden zu nehmen, in Auberville auszusteigen und sich dort an seine Mutter zu wenden: Emma Valdés.

Die zweiundsiebzigjährige Emma Valdés betreibt in Auberville eine „Boutique der kleinen Traurigkeiten“. Ihr Ehemann Léon war vor siebenundvierzig Jahren einem Herzinfarkt erlegen. Daraufhin hatte Emma die Metzgerei geschlossen und stattdessen die Boutique eröffnet. Sie packt Mia ein kleines Geschenk ein und empfiehlt ihr, vor Mitternacht zur Mole zu gehen und nach den Brüdern Gilio und Emiliano zu fragen. Die würden sie mit ihrem Fischerboot über den Fluss nach Luisville bringen, meint sie.

Mia wundert sich, als Gilio und Emiliano mitten auf dem Fluss eine Schallplatte auflegen und die Musik mit einem meterlangen Schlauch unter Wasser leiten. Daraufhin strömen von allen Seiten Garnelen herbei, um die Musik zu hören. Die Fischer brauchen sie nur mit ihrem Netz aus dem Wasser zu ziehen.

An dem Tag, als Mia mit Ramón wegfuhr, verließ Jacob zum ersten Mal nach langer Zeit das Haus und fuhr in die Stadt, um sich eine Platte von LeRoy Williams zu kaufen. Seither sitzt er nur noch da und hört sich fortwährend die Musik an; die Zeit scheint für ihn stehen geblieben zu sein.

Der gute alte Jacob tat nichts anderes als einfach nur dazusitzen, den ganzen Tag. Ab und zu wackelte er mit dem Kopf und betrachtete die Dinge, die sich mit dem Rhythmus verlangsamten. Und es kam immer häufiger vor, dass er sich in die Hosen machte oder das Bett einnässte.
Der Messingtrichter des Grammophons hatte immer dieselben Töne verströmt, immer und immer wieder, schon zwei ganze Tage, bis die rührende Bess schließlich an den Punkt gekommen war, an dem sie es einfach nicht mehr aushielt. In ihrem festen Glauben an Gott hatte sie heimlich über ihren Mann gewacht. Sie hatte den Fußboden gewischt und gebohnert. Sie hatte die Wäsche gewaschen, aufgehängt und seine Hemden gebügelt. Sie hatte den Teig für das Gebäck geknetet und die wenigen Kunden, die von der Autobahn kamen, bedient. Sie hatte das Glaubensbekenntnis gesprochen, das Tischgebet, das Abendgebet und das Schlussgebet, mit neuer Inbrunst. Dazwischen hatte sie dem guten alten Jacob das Mittagessen gebracht, möglichst unbefangen, um ja keinen erschöpften Eindruck zu machen. Sie hatte ihn gefüttert und die Reste des Schmorbratens von seinem Kragen entfernt […]
Am dritten Abend, kurz vor dem Essen, hatte die rührende Bess beschlossen, sie hätte nun lange genug gewartet […]
Und so war sie in die Werkstatt gegangen, hinters Haus, und hatte alle Schubladen der Werkbank aufgerissen, bis sie die Flinte in Händen hielt, mit der Jacob immer versucht hatte, sich vor Hagel zu schützen, indem er auf die Wolken schoss […] (Seite 60ff)

Als Gilio und Emiliano in Luisville anlegen, steht der zehnjährige schwarze Junge Kito wie jeden Morgen am Hafen. Sein Vater Benicio Onetti hatte als Matrose auf einem Kutter der Hochseefischerei gearbeitet und war ums Leben gekommen. Seither schwänzt Kito Tag für Tag die Schule und wartet darauf, dass der Tote von einem der Fischer gebracht wird. Gilio und Emiliano haben jemanden an Bord, aber es handelt sich nicht um Kitos Vater, sondern um eine junge Frau. Kito nimmt zunächst an, sie sei wie sein Vater ertrunken und von den beiden Fischern gefunden worden, aber als er Mia an der Hand nimmt, spürt er, dass ihre Haut nicht aufgequollen ist, wie es der Fall sein müsste, wenn sie tagelang im Wasser gelegen hätte. Kito führt Mia zum Baseballplatz und erklärt ihr die Spielregeln, bis sie übermüdet einschläft.

Auf der Veranda von Kitos Elternhaus wacht Mia wieder auf. Kito und sein Freund Elmore James haben sie mit einem Handkarren hergebracht, während sie schlief. Verzweifelt stellt Mia fest, dass sie das Konzert am Vorabend verschlafen hat.

Alles hatte sie aufgegeben, sie hatte ihre Wohnung in die Luft gejagt, mit ihrem Freund darin, und sie war herumgereist, drei Tage und drei Nächte lang, für nichts und wieder nichts! (Seite 78)

In der Bar „Dilsey de Deus“ setzt Mia sich an den Tresen und isst einen Pancake mit Ahornsirup. An einem der Tische verschlingt ein überaus großer und korpulenter Afroamerikaner unglaubliche Mengen Frühstück.

Er war ein Koloss von einem Schwarzen. Beim Gehen zog er immer den Kopf ein, um nicht an der Decke anzustoßen, und bewegte sich im Zeitlupentempo, als wären die Tische und Stühle unglaublich groß und sperrig. Er atmete durch ein Sauerstoffgerät, das er mit sich herumschleppte, so viel Speck hatte er auf seinen Rippen. Er war so fett, dass seine Augen mandelförmig geworden waren, richtige Schlitzaugen, wie bei Asiaten, sie sahen aus, als wären sie ständig geschlossen. Seine Haut war so straff, dass sie heller als die seiner Geschwister wirkte und weicher als die Kissen in den Hotels, in denen er auf seiner Tournee übernachtete. Immer schlief er mit eingeschaltetem Ventilator und wachte morgens nass geschwitzt auf – ein fauliger, säuerlicher Schweiß. Oft hatten ihn die Leute für einen Bodyguard gehalten, obwohl nicht einmal er selbst einen hatte. Wenn er sich in seine alte Black Mariah aus den Zwanzigerjahren setzte, beanspruchte er im Grunde den ganzen Rücksitz für sich, und sein Fahrer musste gezwungenermaßen die Motorhaube mit Sandsäcken beschweren, damit alle vier Räder auf der Straße blieben. (Seite 40)

Als er gegessen hat und aufsteht, lässt er nur eine Handvoll Geldscheine und die Plastikblumen auf dem Tisch zurück. Draußen wartet sein Fahrer mit dem Wagen auf ihn.

Mia ahnt nicht, dass es sich um LeRoy Williams handelt. Sie begibt sich zur Mole. Plötzlich hält ein Kleinlaster vor ihr.

Amos roch das Gas nicht, als er aufwachte. Während er Mia suchte, sperrte er sich versehentlich aus. Dann begriff er, dass sie mit ihrem rosaroten VW-Käfer fortgefahren war und wollte ihr nacheilen, aber die Schlüssel für seinen Kleinlaster lagen im Haus. Deshalb holte er sich aus dem Keller ein Brecheisen und hebelte die Haustür auf. Als er das Licht einschaltete, warf ihn die Explosion zurück und Holzsplitter bohrten sich in seinen Körper. Von seinen Locken blieben nur ein paar Borsten übrig. Mit eingebundenen Armen fuhr er los, um Mia zu finden.

Und jetzt war er nur zwei Schritte von Mia entfernt – sagen wollte er ihr hunderttausend Dinge.
Endlich fühlte Mia den Widerhall der kleinen Traurigkeit zwischen ihren Rippen, und mit dem Zeigefinger auf den Lippen bat sie Amos, nichts zu sagen. (Seite 91)

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„Einmal Mia“ ist ein zauberhafter Roman des italienischen Schriftstellers und Drehbuchautors Martino Gozzi (*1981). Von der ersten Seite an fühlt man sich als Leser davon gebannt. Alles dreht sich um Musik, und wie Musik klingt die poetische Sprache von Martino Gozzi, obwohl die deutsche Übersetzung ein paar Schnitzer aufweist. Die skurrilen Bilder dieser originellen, naiven und märchenhaften Geschichte prägen sich ein. „Einmal Mia“ ist ein ganz besonderes Lesevergnügen.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2006
Textauszüge: © Verlag Klaus Wagenbach

Beate Teresa Hanika - Vom Ende eines langen Sommers
"Vom Ende eines langen Sommers" ist ein kunstvoll gestalteter Roman. Geschickt und durchdacht wechselt Beate Teresa Hanika zwischen den Zeitebenen, Handlungssträngen und Perspektiven der Ich-Erzählerinnen. Mit Andeutungen erzeugt die Autorin Ahnungen der Leser – und so auch Spannung.
Vom Ende eines langen Sommers