Katharina Hacker : Alix, Anton und die anderen

Alix, Anton und die anderen
Alix, Anton und die anderen Originalausgabe: Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 2009 ISBN: 978-3-518-42127-7, 126 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Alix, Jan, Bernd und Anton sind um die 40 und gehören zum Mittelstand in Berlin. Auch wenn es ihnen nicht immer bewusst ist, werden sie von Selbstzweifeln verunsichert. Jeden Sonntag essen sie mit Alix' Eltern Heinrich und Clara. Heinrich umwirbt trotz seiner 80 Jahre eine jüngere Frau, und Maria Mai Linh geht darauf ein. Aber auch Anton scheint am Ende eine Lebensgefährtin gefunden zu haben ...
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Kritik

"Alix, Anton und die anderen" ist ein vielstimmiger Roman. Katharina Hacker wechselt zwischen Perspektiven verschiedener Figuren und einer auktorialen Erzählerin. Außerdem lässt sie in zwei Spalten zwei parallele Texte laufen.
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Clara und Heinrich Barnow zogen 1963 nach Berlin und kauften sich mit Geld der Eltern ein Haus am Schlachtensee. Kurz zuvor hatten sie geheiratet. Dass Clara bereits schwanger war, störte Heinrich, denn er wollte sich zunächst darauf konzentrieren, als Staatsanwalt Karriere zu machen. Claras Vater erfuhr gerade noch von der Geburt seines Enkels Friedrich, dann starb er an einer Fischvergiftung, und die Witwe verlor aus Kummer darüber ihr Gedächtnis.

Der Rasen hinter dem Haus war abschüssig. Clara und Heinrich liebten sich gerade und achteten nicht auf ihren zweijährigen Sohn, als dieser den Riegel der Gartentür öffnete, zum Ufer des Sees lief – und ertrank.

Mit kleinen Schritten lief Clara die abschüssige Straße, eigentlich nur ein asphaltierter Weg, zum See hinunter, der manchmal, was der Beleuchtung zu verdanken war oder dem Aussehen der Wolken, still und verträumt und abgeschieden dazuliegen schien, als wäre er von weiten Wiesen oder Kiefernwäldern umgeben, sodass die deutlich hörbaren Züge aufmerken ließen, und es war einer derjenigen Tage, an denen der Wald schütter und städtisch das Wasser umgab und jede Illustion zerstörte, ebenso wie die Krähe den Eindruck der Friedfertigkeit zunichte machte, indem sie gierig die Eingeweide einer erlegten Taube auseinanderzerrte und auffraß. (Seite 10)

Nach dem Tod ihres kleinen Sohnes zogen die Barnows ein Stück weiter weg vom Ufer. Bald darauf kam ihre Tochter Alix zur Welt.

Clara nimmt an, dass Heinrich weder den Sohn noch die Tochter liebte.

Die Emotionen, die ein eigenes Kind forderte, brachte er nicht gerne auf. (Seite 75)

Nun ist Heinrich über achtzig Jahre alt, und Clara feiert demnächst ihren 78. Geburtstag. Nachdem Heinrich vor zehn Jahren widerwillig in Pension gegangen war, eröffnete er eine Anwaltskanzlei.

Alix, die Grafikerin wurde und an Hyperakusis leidet, ist längst verheiratet. Ihr Mann, Jan, ein Einzelkind, verlor die Eltern bei einem Verkehrsunfall: Sie kamen bei einem Wolkenbruch von der Autobahn ab. Als er das Elternhaus verkaufte, überließ er es den neuen Besitzern mitsamt Hausrat und Erinnerungen. Jan ist Psychotherapeut. Im Gegensatz zu seiner Frau wollte er kein Kind.

Er erinnerte sich, wie warm es im Schlafzimmer gewesen war, sie hatten kaum eine Decke gebraucht, und wie durch die nur halb geschlossene Jalousie aus den anderen Fenstern im Hof Licht in ihr Fenster geschimmert hatte, als wäre es wirklich Kerzenlicht, als wäre es ein Licht, in dem Zärtlichkeit, Lust und Versöhnung sich vereinten. Deswegen hatte er zuerst nur ihre sanfte, flehende Stimme gehört, eine Stimme, wie er sie von ihr noch nie gehört hatte, und er hatte gespürt, wie sie sich an seine Brust und sein Geschlecht, an seine Schenkel schmiegte, besänftigend und erregend, aber dann, während er noch glauben wollte, dass sich etwas Wünschenswertes erfüllte, fing er an zu begreifen, was sie sagte. Lass uns ein Kind haben, lass mich ein Kind haben.
Der Abgrund der Einsamkeit, hatte er gedacht, war es, sie zu täuschen und zu begreifen, dass er seine Befürchtungen nie mit ihr teilen würde, dass seine Entscheidung unwiderruflich war, dass sie nie eins sein würden. Denn er wollte kein Kind. Er wollte es weder in ihrem Körper noch in ihrem und seinem Leben. Er wollte die Okkupation nicht, er wollte nicht zusehen müssen, wie der einzige Mensch, der ihm gehörte und nicht sterben würde, ein Baby im Arm hielt. Es war, als müsste er Zeuge seiner eigenen verlorenen Kindheit werden, und obwohl er wusste, es war nichts verloren gewesen, ertrug er den Gedanken nicht, zuzusehen, wie jemand mit der Liebe und Geborgenheit bedacht wurde, die er entbehrt zu haben glaubte. (Seite 58f)

Vor zwanzig Jahren lernte Jan Bernd kennen. Sie waren beide fünfundzwanzig und Medizinstudenten. Jan stand vor dem zweiten Staatsexamen. Bernd hatte kürzlich das erste bestanden; er war von seinem Lebensgefährten Lars verlassen worden und hatte an dem Tag, als er Jan in einer Kneipe ansprach, beschlossen, das Studium abzubrechen.

Arnold Glauber („Pedro“), der Wirt der Kneipe, kam übrigens vier Jahre später ums Leben, als er sich für einen halbwüchsigen Vietnamesen einsetzte, der von einem Autofahrer angepöbelt wurde. Der Deutsche legte daraufhin den Rückwärtsgang ein, fuhr Pedro absichtlich um und raste davon.

Obwohl Jan auf Schwule nicht gut zu sprechen ist, wurden er, Alix und Bernd Freunde. Schließlich gehörte auch Jans Kommilitone Anton dazu.

Anton ist jetzt zweiundvierzig Jahre alt. Sein Vater starb vor zwei Jahren an Alzheimer, und seine Mutter verliert zunehmend die Orientierung. Seine fünf Jahre jüngere Schwester Caroline lebt seit Jahren in Italien und arbeitet auf einem Bauernhof, auf dem Ziegenkäse hergestellt wird. Wie ihr Bruder ist sie allein, das heißt ohne Lebensgefährten.

Bernd eröffnete vor sechs Jahren einen Buchladen in Schöneberg.

Seit neunzehn Jahren treffen sich Alix, Jan, Bernd und Anton jeden Sonntag bei Clara und Heinrich zum Essen. Neulich schlugen sie zum ersten Mal vor, in ein Restaurant zu gehen, damit Clara nicht zu kochen brauchte. Sie aßen im vietnamesischen Lokal von Johannes Wang Li und Maria Mai Linh in Berlin-Zehlendorf.

Die katholischen Geschwister waren 1968 – also noch vor den Boat People – nach Berlin gekommen. Mai Linhs Ehemann Phu kehrte später mit der gemeinsamen Tochter Maria nach Vietnam zurück. Georg Tung, der Bruder von Johannes Wang und Mai Linh, ist gerade mal vier Jahre älter als seine Nichte Maria.

Als Chinesen im Restaurant auftauchen, die wie Gangster aussehen, schlägt Mai Linh ihrem Bruder vor, das Restaurant zu verkaufen, aber davon will der Sechsundfünfzigjährige nichts wissen.

Mai Linh wird von Heinrich umworben. Sie freut sich, wenn er ihr Blumen schenkt und wartet darauf, dass er sie küsst. Clara hat er schon lange nicht mehr berührt. Um so erregender ist es, wenn er Mai Linh mit dem Finger die Wange streichelt. Clara, der nicht entgeht, dass ihr Mann eine andere Frau begehrt, denkt:

Und wenn sie sich Rechenschaft ablegte darüber, ob sie ihm missgönnte, was ihn belebte, so kam sie zu dem Schluss, dass sie ihn lieber tot wünschte als glücklich ohne sie. (Seite 74)

Eines Tages sieht Mai Linh in der Straßenbahn zufällig Alix, die mit einer Puppe und einem Koffer unterwegs zum Bahnhof ist. Dass die fragile Alix, die sich kaum noch aus dem Haus wagt, allein eine Reise unternehmen würde, hätte ihr niemand zugetraut, aber sie will Bernds Schwägerin Eleonore eine in Berlin liegen gelassene Puppe bringen, die die geistig verwirrte Frau für ihr Kind hält. Auf diese Weise wird Alix wieder mit ihrem eigenen unerfüllten Kinderwunsch konfrontiert. Bernd rief seinen Bruder Hubertus an und drängte ihn, Alix in Kassel vom Zug abzuholen und mit dem Wagen nach Dillenburg zu bringen. Alix sieht Hubertus und Eleonore am Bahnsteig, aber sie weicht ihnen aus und bittet eine Frau, die von ihrem Sohn abgeholt wird, sie mit nach Dillenburg zu nehmen.

Weil Anton nicht aufpasst, läuft er einer Radfahrerin in den Weg, und sie stürzt. Zufällig ist sie ebenfalls Ärztin. Anton bringt das beschädigte Rad in die Werkstatt und gibt dem Mechaniker die Handynummer der Besitzerin, damit er sie anrufen kann. Dann bedauert Anton, sich die Nummer nicht notiert zu haben. Um die Radfahrerin wiederzusehen, wartet der Fünfundvierzigjährige auf der Straße, in der sie zusammenstießen, bis sie wieder vorbeikommt. Sie heißt Lydia und hat eine kleine Tochter namens Rachel. Nach ein paar Verabredungen beabsichtigen Anton und Lydia, ihre Praxen zusammenzulegen. Und Lydia wird in die Clique aufgenommen, die sich sonntags zum Essen trifft.

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Die Geschichte, die Katharina Hacker in „Alix, Anton und die anderen“ erzählt, beginnt im November und endet im März des folgenden Jahres, aber wir erfahren auch einiges über die Vergangenheit der zahlreichen Figuren. Einen Protagonisten gibt es nicht; Clara, Heinrich, Alix, Jan, Bernd, Anton und Maria Mai Linh stehen im Mittelpunkt. Eleonore, Hubertus, Mai Linhs Brüder Johannes Wang Li und Georg Tung, der türkische Gemüsehändler Ahmed und seine Tanten, Jans Patient Steffen und andere tauchen als Nebenfiguren auf. Mai Linh, deren Ehemann mit der gemeinsamen Tochter nach Vietnam zurückkehrte, repräsentiert mit ihren unverheirateten Brüdern eine entwurzelte Migrantenfamilie. Die Mitglieder der Clique um Alix, Anton und die anderen gehören zum Mittelstand, sind um die vierzig, kinderlos. (Darunter leiden Alix und Eleonore.) Auch wenn es ihnen nicht immer bewusst ist, werden sie von Selbstzweifeln verunsichert, die über die einer Midlife Crisis hinausgehen. Ausgerechnet Heinrich, die mit achtzig Jahren älteste Figur, umwirbt eine jüngere Frau, und Mai Linh geht darauf ein. Aber auch Anton scheint am Ende eine Lebensgefährtin gefunden zu haben.

„Alix, Anton und die anderen“ ist ein vielstimmiger Roman. Katharina Hacker wechselt zwischen Perspektiven verschiedener Figuren und einer auktorialen Erzählerin. Bernd und Anton lässt sie auch in der Ich-Form zu Wort kommen.

Katharina Hackers Idee war es, den Roman in zwei parallele Texte aufzuteilen und diese in zwei gleich breiten Spalten zu drucken. Der Verlag hielt sich jedoch nicht an das Konzept und zog ein Layout mit einer breiteren und einer schmaleren Spalte vor. Deshalb musste der schmalere Text in einer kleineren Schrift gesetzt werden. Auf diese Weise wirkt er als ob es sich um Anmerkungen zum Haupttext handeln würde.

Die Arbeit mit einem Grafiker, zahlreiche Gespräche über das Layout, wurden missachtet. Aus Gründen, die man mir nicht mitgeteilt hat, wurde der Text so gesetzt, dass er statt der zweihundert Manuskript-Seiten einen Umfang von einhundertundfünfunddreißig Seiten hat […]
An dem Roman habe ich fast vier Jahre gearbeitet, ich halte ihn im Kern für mein bislang wichtigstes Buch, weil ich eine Form gefunden habe, die mir für das, was mich beschäftigt, einleuchtet.
Es wird ein Romanprojekt in mehreren Teilen sein; eine Novelle, die nächsten Frühsommer im S. Fischer Verlag erscheint, ist eigenständig, gehört aber dazu. Sobald die Novelle beendet ist, werde ich am zweiten Teil schreiben. (Katharina Hacker auf ihrer Website).

Auch wenn Katharina Hacker ihr Konzept verwirklichen hätte können, erschwert die Aufteilung des Textes in zwei Spalten das Lesen, ohne dass es dafür einen überzeugenden Grund gibt: Die Perspektivenwechsel, Brüche, Kontraste, Spiegelungen wären auch anders möglich gewesen.

„Alix, Anton und die anderen“ ist ein spröder, formal ambitionierter Roman, der die Leser auf Distanz hält. „Der Bademeister“ hat mir sehr viel besser gefallen.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2009
Textauszüge: © Suhrkamp

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