Patrick Hamilton : Sklaven der Einsamkeit

Sklaven der Einsamkeit
Originalausgabe: The Slaves of Solitude Constable & Co Ltd, London 1947 Sklaven der Einsamkeit Übersetzung: Miriam Mandelkow Dörlemann Verlag, Zürich 2006 Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M 2008 ISBN 978-3-518-45946-1, 336 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die 39-jährige Londoner Verlagsangestellte Enid Roach wird Anfang 1943 ausgebombt und zieht in eine Pension in einem Vorort. Dort führt der Pensionsgast Mr Thwaites gegen sie eine Art Psychokrieg. Dann beobachtet Enid Roach auch noch, wie sich ihre aus Deutschland stammende Freundin Vicki Kugelmann an den amerikanischen Leutnant heranmacht, mit dem sie seit kurzem ausgeht. Eines Tages wird es zu viel für sie ...
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Kritik

Obwohl einige Szenen hingeschludert wurden, ist der Roman "Sklaven der Einsamkeit" lesenswert, weil Patrick Hamilton die Psyche der Protagonistin gut ausgeleuchtet hat.
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Enid Roach ist neununddreißig, alleinstehend und in einem Verlag in London mit Sekretariatsarbeit, Buchhaltung und dem Prüfen von Manuskripten beschäftigt. Seit die Wohnung in Kensington, die sie sich mit einer Tante geteilt hatte, im Winter 1942/43 ausgebombt wurde, lebt Enid Roach im „Rosamund Tea-Room“ in Thames Lockdon, 25 Meilen außerhalb von London, und muss mit dem Zug zur Arbeit fahren.

Sie war aufrecht und schlank, doch ein wenig flachbrüstig. Die Tochter eines Zahnarztes. Sie hatte zwei Brüder, von denen einer, der Jüngste der Familie, vor kurzem bei einem Fliegereinsatz ums Leben gekommen war. Der andere, der älter war als sie und von dem sie etwa alle zwei Jahre hörte, lebte in Brasilien. Beide Eltern waren tot. Sie hatte studiert und war einmal Lehrerin an einer privaten Grundschule für Jungen in Hove gewesen. (Seite 13)

„Rosamund Tea-Room“ gehört seit vier Jahren der Witwe Payne. Vor dem Krieg handelte es sich dabei wirklich um einen Tea-Room, aber als viele Londoner wegen der deutschen Luftangriffe die Hauptstadt verließen, stellte Mrs Payne die Räume zur Pension um.

Unter den Bewohnern hat Mr Thwaites das Sagen. Er ist zwischen sechzig und siebzig Jahre alt, wohlhabend und verbrachte sein ganzes Leben in Pensionen und Hotels. Mit einer „eigentümliche[n] Spielart von Redseligkeit und Schikane“ (Seite 20) hat er es vor allem darauf abgesehen, Enid Roach zu brüskieren.

Ganz anders ist Archie Prest, ein früherer Provinzschauspieler Ende fünfzig, der sich kaum an den Gesprächen im Salon beteiligt.

Geradezu einmütig in ihrem Gefühl der Überlegenheit gegenüber Mr Prest, konnten sich die Pensionsgäste gar nicht vorstellen, dass dieser Mann ihnen seinerseits anders als demütig und ablehnend begegnete. Doch in Wahrheit blickte er mit der äußersten, gelassenen, selbstbewussten Verachtung auf sie herab, wie sie ein kultivierter Mann für die ärgsten Philister empfindet, mit der Geringschätzung eines originellen, gebildeten Menschen, der das Leben so kennt, wie es engstirnige, jämmerliche Kleinstadtignoranten nicht mal in Ansätzen zu schätzen wissen, und betrachtete den Rosamund Tea-Room eigentlich als eine Art Zoo mit exemplarischen Fratzentieren, in den ihn eine Ironie des Schicksals verschlagen hatte.
Mr Prest war zu höflich und tatsächlich von Natur aus zu duldsam und bescheiden, um dies nach außen zu tragen; und so blieb die eigentümliche Umkehrung, bei der in Wahrheit Mr Prest den Pensionsgästen die kalte Schulter zeigte, unerkannt. (Seite 106)

Ende 1943 beginnt Enid Roach, mit Dayton Pike auszugehen. Der amerikanische Leutnant ist in der Nähe des „Rosamund Tea-Room“ einquartiert und isst in der Pension zu Abend. Er gehört zur Versorgungsmannschaft einer vier Meilen von Thames Lockdon entfernt stationierten medizinischen Militäreinheit. Dayton Pike stammt aus Wilkes Barre, Pennsylvania. Seine Eltern betreiben eine Lieferfirma für Gastronomiebetriebe, doch er plant, nach dem Krieg eine Wäscherei aufzumachen, statt den Betrieb zu übernehmen. Enid Roach lässt sich von ihm küssen, und nach ein paar Tagen macht er ihr einen Heiratsantrag. Das tut ihrem Selbstwertgefühl gut, und sie geht auch davon aus, dass ihr Verhältnis mit Dayton Pike dauerhaft sein wird, aber die Aussicht, mit ihm eine Wäscherei zu führen, schreckt sie ein wenig ab. Er besteht auch nicht auf einer klaren Antwort.

Außer mit Dayton Pike trifft Enid Roach sich seit einiger Zeit mit Vicki Kugelmann, einer achtunddreißigjährigen Deutschen, die seit langer Zeit in England lebt und als Hilfskraft bei einem Tierarzt arbeitet. Sie hat ein Zimmer in Thames Lockdon, doch weil es ihr dort nicht gefällt, zieht sie schließlich in den „Rosamund Tea-Room“. Dass Vicki ohne anzuklopfen Enid Roachs Zimmer betritt und dann auch noch deren Kamm benutzt, stört diese sehr, denn sie legt großen Wert auf ihre Privatsphäre.

Rasch erkennt Vicki, dass Mr Thwaites die Schlüsselfigur unter den Pensionsgästen ist. Im Gegensatz zu Enid Roach weiß sie ihn zu nehmen, und sie bezirzt den alten Herrn so, dass er augenscheinlich romantische Gefühle für sie entwickelt. Durch ihre Freundin lernt sie auch Dayton Pike kennen. Enid Roach beobachtet, wie sie ihm schöne Augen macht, und nach einem ausgelassenen Abend küsst der Leutnant nicht nur Enid Roach auf den Mund, sondern auch Vicki. Aufgebracht rennt Enid Roach davon. Ihr Groll richtet sich nicht gegen Dayton Pike, sondern gegen Vicki.

Als Pike einige Tage später wieder in der Pension anruft und Enid Roach aus dem Speisesaal ans Telefon geholt werden soll, lässt diese sich verleugnen, um Vicki zu demonstrieren, dass sie kein Interesse an dem Amerikaner hat. Pike fragt daraufhin nach Vicki und schlägt ihr vor, zusammen auszugehen. Sie lehnt die Einladung jedoch ab und erklärt Enid Roach:

„Ich habe ihm abgesagt. Keine Angst. Ich schnappe niemanden weg. Ich bin nicht die, die wegschnappt.“ (Seite 210)

Dieses scheinbar selbstlose Verhalten ärgert Enid Roach, denn sie wollte Vicki doch klarmachen, dass es da nichts wegzuschnappen gebe.

Am Weihnachtsabend schenkt Dayton Pike, der in den „Rosamund Tea-Room“ gekommen ist, um Vicki und Enid Roach abzuholen, Mr Thwaites Whisky ein und fordert ihn auf, mitzukommen. Enid Roach bezweifelt, dass dies eine gute Idee ist, aber der Leutnant lässt sich nicht davon abbringen:

„Jesses, lass doch dem alten Racker mal seinen Spaß, hm? Ist doch nur einmal Weihnachten, oder? Kann der Alte doch mal seinen Spaß haben.“ (Seite 237)

Es kommt, wie von Enid Roach vorhergesehen: Mr Thwaites ist nach einiger Zeit so betrunken, dass sie ihn nach Hause und ins Bett bringen müssen. Als er Enid Roach lallend als „Miss Prüde“ anspricht, weiß sie, wie Vicki hinter ihrem Rücken über sie redet, denn der Ausdruck stammt von ihr. Vicki und Dayton Pike wollen gleich noch einmal etwas unternehmen, und als Enid Roach nicht mitkommt, gehen sie zu zweit aus. Dafür hasst Enid Roach ihre Rivalin.

Einige Tage nach Weihnachten erklärt Mr Thwaites in seiner provozierenden Weise, die Welt sei kompliziert, und Vicki pflichtet ihm bei. Enid Roach hält dagegen: „Ach, ich finde es gar nicht so kompliziert.“ Durch den Widerspruch fühlt Mr Thwaites sich herausgefordert. Enid Roach erläutert ihre Aussage:

„Ich finde es ziemlich einfach, das ist alles. Es ist ein einfacher Kampf zwischen allem, was anständig ist, und allem, was böse ist – und das ist einfach, nichts weiter …“ (Seite 271)

Vicki wirft ihr vor, nicht kosmopolitisch zu denken. Darauf erwidert Enid Roach:

„Und bedeutet, kosmopolitisch zu denken, die Dinge für so kompliziert zu halten, dass man die Nazis unterstützt, die Europa mit Mord, Geifer und Folter überziehen?“ (Seite 273)

Beschwichtigungsversuche anderer Pensionsgäste bleiben erfolglos: Enid Roach steigert sich in die Streitlust hinein. Schließlich sagt Mr Thwaites:

„Beachten wir sie gar nicht. Wie heißt es so schön: Selbst die Hölle kennt nicht die Raserei einer verschmähten Frau.“ (Seite 274)

Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.

Enid Roach gerät außer sich. Auf der Treppe mahnt er sie auch noch, die Hände von Jugendlichen unter achtzehn Jahren zu lassen. Sie versteht zunächst gar nicht, was er meint. Dann begreift sie, dass man sie zusammen mit John Poulton gesehen hat, dem siebzehnjährigen Sohn ihrer früheren Damenschneiderin, die vor einiger Zeit aus Thames Lockdon weggezogen war und sie gebeten hatte, ein wenig auf John aufzupassen. Enid Roach rastet vollends aus. Sie macht eine ruckartige Bewegung. Mr Thwaites stürzt über die Stufen hinunter. Glücklicherweise verletzt er sich nicht ernsthaft. Sogleich beschuldigt er Enid Roach, ihn gestoßen zu haben, und sie gibt es ohne weiteres vor allen Anwesenden zu.

In einem Pub trifft Enid Roach zufällig Mr Prest, der sie darüber aufklärt, dass Dayton Pike mehrere Freundinnen in der Umgebung hat und allen die Ehe versprach. Archie Prest hat wieder ein Engagement und schenkt Enid Roach zwei Karten.

Kurz darauf wird Mr Thwaites mit einer Bauchfellentzündung ins Krankenhaus gebracht. Enid Roach entschließt sich spontan, ihn im Krankenwagen zu begleiten. Während der Fahrt blickt er sie verwundert an. Es dauert einige Zeit, bis die Ärzte, die mit Kriegsverletzten viel zu tun haben, Mr Thwaites operieren. Sie können ihm nicht mehr helfen: Er stirbt.

Enid Roach sucht eigens Mr Thwaites Hausarzt auf und vergewissert sich, dass eine Bauchfellentzündung nicht durch einen Sturz ausgelöst werden kann. Die Bestätigung des Arztes, der nur darauf bedacht ist, sie so schnell wie möglich wieder loszuwerden, weil er über seiner Steuererklärung sitzt, löst bei Enid Roach eine Euphorie aus, in der sie beschließt, wieder nach London zu ziehen und sich erst einmal ein Zimmer im „Claridge“ zu nehmen. Da sie nach dem Tod ihrer schwer kranken Tante 500 Pfund erben soll, glaubt sie, sich das Luxushotel leisten zu können.

Im letzten Augenblick fallen ihr die beiden Theaterkarten ein und sie eilt nach Wimbleton ins Theatre Royal. Die Aufführung ist ein voller Erfolg. Archie Prest ist glücklich und lädt Enid Roach und zwei Kolleginnen zwischen der Nachmittags- und der Abendvorstellung zum Tee ein.

Am Abend überlegt Enid Roach in ihrem Zimmer im „Claridge“, das sie nun doch einschüchtert, dass Mr Thwaites nichts weiter als ein geschwätziger kleiner Angeber war. Dass Dayton Pike zu viel trinkt und mit der wohl einem Kameraden abgeschauten Masche, Frauen die Ehe zu versprechen, mehrere Freundinnen zugleich hat, findet sie angesichts der Tatsache, dass er sich weit von seinem Zuhause entfernt einsam fühlt, verständlich. Vicki ist selbstsüchtig, eitel, sexbesessen, böse und erbärmlich, aber Enid Roach sieht ein, dass ihr Verdacht, bei der Deutschen handele es sich um eine Nazi-Spionin, überzogen war.

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In „Sklaven der Einsamkeit“ geht es vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkrieges um vier Menschen, die versuchen, aus ihrer Einsamkeit zu entkommen. Im Mittelpunkt steht die neununddreißigjährige Verlagsangestellte Enid Roach, bei der nicht klar ist, ob sie von Mr Thwaites und Vicki wirklich schlecht behandelt wird oder ob sie sich das nur eingebildet.

Wie kann der gewöhnliche Leser eine Figur ertragen, bei der er nicht weiß, ob er sie jetzt mögen oder hassen soll, sich mit ihr identifizieren oder sie verabscheuen darf. Aber dass das alles zugleich möglich ist, über eine so lange Strecke hinweg, das zeugt von großem Geschick. (Helmut Krausser, „Die Zeit“, 12. April 2006)

Die gut ausgeleuchtete Psyche der Protagonistin ist denn auch der Grund, warum der ironische, bisweilen auch sarkastische Roman „Sklaven der Einsamkeit“ lesenswert ist. Patrick Hamilton legte mehr Wert auf Beschreibungen als auf Handlung, und die Geschichte spielt nur an einigen wenigen Orten. Manche Kritiker haben Patrick Hamilton vorgeworfen, dass es keine Schlusspointe gibt. Schlimmer finde ich, dass er bei einigen Szenen schluderte. Aufgesetzt wirkt vor allem, dass Enid Roach sich um einen Siebzehnjährigen kümmern soll, dessen verwitwete Mutter aus irgendeinem Grund fortgezogen ist. Dieser Handlungsstrang beginnt ohne jede Vorbereitung auf Seite 225.

Helmut Krausser äußerte sich allerdings begeistert über den Roman:

Sein 1947 entstandener Roman The Slaves Of Solitude, mit dem die Renaissance Hamiltons hierzulande in die zweite Runde geht, ist elegant, zart, gediegen, erlesen und was der Adjektive mehr sind, um einen souverän elaborierten, wortmächtigen, vielleicht etwas schnörkelig-pretiösen Stil zu kennzeichnen. Letzteres erweist sich zum Glück bald als Werkzeug der Ironie. Sklaven der Einsamkeit ist ein hintergründiges Buch, das langsam beginnt und scheinbar etwas unentschlossen endet. (Helmut Krausser a. a. O.)

Patrick Hamilton (1904 – 1962) war vor dem Zweiten Weltkrieg ein gefeierter Dramatiker. Zwei seiner Bühnenstücke wurden verfilmt: „Cocktail für eine Leiche“ von Alfred Hitchcock und „Gaslicht“ von George Cukor.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2008
Textauszüge: © Dörlemann Verlag

Patrick Hamilton: Cocktail für eine Leiche (Verfilmung)
Patrick Hamilton: Gaslicht (Verfilmung)
Patrick Hamilton: Hangover Square

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