Robert Harris : Intrige

Intrige
Originalausgabe: An Officer and a Spy Hutchinson, London 2013 Intrige Übersetzung: Wolfgang Müller Wilhelm Heyne Verlag, München 2013 ISBN: 978-3-453-26878-4, Seiten, 622 € (D)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der antisemitische französische Offizier Marie-Georges Picquart hält den jüdischen Hauptmann Alfred Dreyfus für einen 1894 zu Recht verurteilten Spion. Doch als Chef des Deuxième Bureau stößt er auf Hinweise, die das Gerichtsurteil gegen Dreyfus in Frage stellen. Während die militärische Führung zu verhindern versucht, dass der Fall neu aufgerollt wird, kämpft Picquart für eine Wiederaufnahme des Verfahrens – obwohl er dadurch nicht nur seine Karriere ruiniert, sondern auch um sein Leben fürchten muss ...
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Kritik

Dass der historische Roman "Intrige" ebenso aufschlussreich wie packend ist, erreicht Robert Harris, indem er die komplexe Geschichte nicht als auktorialer Erzähler schildert, sondern sie aus der Perspektive eines unmittelbar Beteiligten darstellt.
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Nachdem Marie-Georges Picquart 1888/89 ein Bataillon in Besançon befehligt hatte, lehrte er drei Jahre lang Topografie an der École Supérieure de Guerre in Paris. Unter seinen Studenten befand sich Alfred Dreyfus, der wie er aus dem Elsass stammte und nur fünf Jahre jünger war. Aber Picquart mochte keine Juden und blieb gegenüber Dreyfus distanziert. Weil Dreyfus zu den zwölf besten Absolventen seines Jahrgangs gehörte, durfte er von Frühjahr 1893 bis Herbst 1894 in vier verschiedenen Bereichen des Generalstabs ein Praktikum ableisten.

Am 14. Oktober 1894 wird Major Picquart ins Kriegsministerium bestellt. Dort trifft er auf General Auguste Mercier, den Kriegsminister, General Raoul de Mouton de Boisdeffre, den Chef des Generalstabs, General Charles-Arthur Gonse, den Leiter des militärischen Geheimdienstes, Oberst Jean Sandherr, den Leiter des als „Statistik-Abteilung“ getarnten Auslandsgeheimdienstes (Deuxième Bureau), Oberst Armand du Paty de Clam und einige jüngere Offiziere. Picquart erfährt, dass Hauptmann Alfred Dreyfus verdächtigt wird, für die Deutschen spioniert zu haben. Mercier unterzeichnet den Haftbefehl gegen ihn, doch um die Festnahme vornehmen zu können, ohne Aufsehen zu erregen, wird Dreyfus unter einem Vorwand für den nächsten Tag zu Boisdeffre beordert. Picquart erhält den Befehl, ihn am Eingang des Gebäudes abzufangen und zu begleiten. Im Dienstzimmer des Generalstabschefs warten Kommissar Cochefort und ein weiterer Beamter der Sûreté auf ihn. Felix Gribelin, der Archivar der „Statistik-Abteilung“, führt Protokoll, und Major Hubert-Joseph Henry von der „Statistik-Abteilung“ verbirgt sich hinter einem Wandschirm. Dreyfus beteuert, kein Verräter zu sein, wird jedoch festgenommen und ins Gefängnis Cherche-Midi gebracht. Eigentlich hofften die Militärs, Dreyfus würde gestehen. Dann hätten sie ihm einen mit einer Patrone geladenen Revolver für den Suizid zur Verfügung gestellt.

Lucie Dreyfus, der Tochter eines wohlhabenden Diamantenhändlers und Schwester des Mathematikers Jacques Salomon Hadamard, die seit 1890 mit Alfred Dreyfus verheiratet ist und zwei kleine Kinder mit ihm hat, erfährt zunächst nur, dass ihr Mann inhaftiert wurde, aber weder den Grund noch seinen Aufenthaltsort. Erst Ende Oktober darf sie die Familie über die Festnahme informieren. Am 31. Oktober tauchen die ersten Zeitungsmeldungen darüber auf.

Würde Kriegsminister Mercier den jüdischen Hauptmann in dieser Situation freilassen, müsste er mit Angriffen nationalistischer und antisemitischer Kreise rechnen. Andererseits ist wegen der dünnen Beweislage ein Freispruch des Angeklagten zu befürchten. Die gerichtliche Rehabilitierung Dreyfus‘ wäre jedoch mit dem Vorwurf verbunden, Mercier und die militärische Führung hätten haltlose Vorwürfe gegen einen Offizier erhoben und grundlos eine deutsch-französische Krise heraufbeschworen. Der Kriegsminister müsste dann zurücktreten.

Mitte Dezember 1894 erhält Marie-Georges Picquart von Mercier den Auftrag, den am 19. Dezember beginnenden Prozess gegen Alfred Dreyfus zu beobachten und täglich Bericht zu erstatten.

Unmittelbar nach der Eröffnung der Verhandlung entscheidet das permanente Kriegsgericht der Militärregierung in Paris unter dem Vorsitzenden Richter Oberst Émilien Maurel gegen den Protest des Verteidigers Edgar Demange, dass die Öffentlichkeit aus Gründen der nationalen Sicherheit ausgeschlossen wird.

Als sich die Möglichkeit eines Freispruchs abzeichnet, lässt sich Major Hubert-Joseph Henry ein zweites Mal in den Zeugenstand rufen und behauptet, er habe bei seiner ersten Aussage nicht mehr an geheimen Informationen preisgeben wollen als unbedingt nötig, halte es aber nun für erforderlich, noch etwas zu ergänzen: Eine ehrenwerte Person, deren Namen er für sich behalten möchte, habe ihn im März und im Juni 1894 vor einem Spion im Generalstab gewarnt, und zwar vor Hauptmann Alfred Dreyfus. Der Vorsitzende Richter zeigt Verständnis dafür, dass der Zeuge den Namen des Informanten verschweigt und gibt sich mit Major Henrys Ehrenwort zufrieden, dass es um Hauptmann Dreyfus gegangen sei.

Oberst Armand du Paty de Clam, der die Ermittlungen gegen Alfred Dreyfus leitete, übergibt Major Picquart im Auftrag des Kriegsministers Mercier ein großes braunes Kuvert mit von Oberst Sandherr zusammengestellten Dokumenten. Picquart erhält den Befehl, dieses Geheimdossier möglichst unauffällig dem Vorsitzenden Richter zu übergeben. Die Verteidigung darf davon nichts mitbekommen.

Am 22. Dezember wird Alfred Dreyfus wegen Landesverrats zur Degradierung und zu lebenslanger Haft verurteilt. Die öffentliche Degradierung findet am 5. Januar 1895 im Hof der École Militaire statt. Unter den Zuschauern ist auch die Schauspielerin Sarah Bernhardt, die sich nicht vorstellen kann, dass Dreyfus sein Land verraten hat. Zur Vorbereitung wurden Fäden an Dreyfus‘ Uniform gelockert und sein Säbel eingekerbt. Vor dem Publikum reißt nun ein Feldwebel dem degradierten Hauptmann alle militärischen Abzeichen von der Uniform und zerbricht den Säbel.

Auch über diese Zeremonie hat Picquart dem Kriegsminister und dem Generalstabschef zu berichten.

Zwölf Tage nach seiner öffentlichen Degradierung wird Alfred Dreyfus in die Festung auf der Île de Ré gebracht. Dort darf seine Frau ihn am 13. Februar kurz besuchen, wobei die beiden zwischen Wachen an gegenüberliegenden Wänden eines Raumes stehen müssen. Acht Tage später sticht ein Kriegsschiff mit dem Verurteilten an Bord in See. Alfred Dreyfus soll den Rest seines Lebens unter strenger Bewachung auf der Teufelsinsel (Île de Diable) verbringen, einer 1200 Meter langen, 400 Meter breiten Insel vor der Küste von Cayenne.

Marie-Georges Picquart wird zum Oberstleutnant befördert und löst am 1. Juli 1895 Oberst Jean Sandherr als Leiter der „Statistik-Abteilung“ ab. Er ist der jüngste Oberstleutnant in der französischen Armee und hat auch weiter eine steile Karriere vor sich. Sein Büro und die Diensträume seiner fünf Mitarbeiter – darunter Major Hubert-Joseph Henry, Hauptmann Jules-Maximilien Lauth und der Archivar Felix Gribelin – befinden sich in einem heruntergekommenen Haus in der Rue de l’Université, das er bisher für unbewohnt hielt.

Im Schreibtisch seines Vorgängers findet Picquart Quecksilber, Guajak-Extrakt und Kaliumjodid, also Präparate, mit denen Syphilis behandelt wird.

Picquart erfährt, dass eine der Putzfrauen in der deutschen Botschaft in Paris seit fünf Jahren für die „Statistik-Abteilung“ spioniert. Marie Bastian – Deckname Auguste –, die auch Zugang zum Büro des Militärattachés Oberstleutnant Maximilian von Schwartzkoppen hat, übergibt Henry regelmäßig in der Basilika Sainte-Clotilde zerrissene Schriftstücke aus Papierkörben und aus dem Müll, der im Heizkessel verbrannt werden sollte. Ende September konnte Hauptmann Lauth aus den Schnipseln einen Brief zusammensetzen, der offenbar einer Lieferung von fünf geheimen Dokumenten eines Spions an Schwartzkoppen beigefügt war, also ein Begleitschreiben, ein Bordereau. Um Alfred Dreyfus als Absender zu überführen, zwangen ihn die militärischen Ermittler nach seiner Festnahme am 15. Oktober 1894, das Bordereau um die hundert Mal abzuschreiben. Ein Gutachter bestätigte, dass es sich bei der Handschrift auf dem Bordereau um die des Beschuldigten handele.

Lauth setzt im März 1896 aus den von Marie Bastian zugespielten Papierfetzen eine mit „C.“ signierte Nachricht des deutschen Militärattachés von Schwartzkoppen an den französischen Major Charles Ferdinand Walsin-Esterházy zusammen: ein Dokument, das wegen der blauen Papierfarbe als „le petit bleu“ bezeichnet wird. Der Deutsche beklagt sich über die Bedeutungslosigkeit der bisher ausspionierten Informationen. Picquart fährt daraufhin nach Rouen, trifft sich in der Kaserne Pélissier mit dem befreundeten Major Albert Curé und erkundigt sich nach Esterházy, der ebenfalls im 74. Infanterieregiment dient. Außerdem setzt Picquart Jean-Alfred Desvernine von der Sûreté auf Esterházy an. Es stellt sich heraus, dass der 48 Jahre alte Major, der vor etwa 15 Jahren vorübergehend in der „Statistik-Abteilung“ eingesetzt war, hochverschuldet ist, aber trotzdem für die 26-jährige amtlich registrierte Prostituierte Marguerite Pays eine Wohnung gemietet hat.

Jean-Alfred Desvernine schlägt Picquart vor, eine in der Zeitung inserierte Wohnung gegenüber der Deutschen Botschaft in Paris zu mieten und von dort den Eingang zu observieren. Picquart beauftragt daraufhin einen Mann namens Germain Ducasse, den Mietvertrag zu unterschreiben und sich dort einzuquartieren. Im Rahmen der „Operation Wohltäter“ wird Major Charles Ferdinand Walsin-Esterházy beim Betreten bzw. Verlassen der deutschen Botschaft fotografiert.

Von Oberst Foucault, dem französischen Militärattaché in Berlin, erfährt Picquart, dass der Agent Richard Cuers meldete, die Deutschen hätten von Alfred Dreyfus vor dessen Verhaftung nichts gewusst, aber es gebe einen seit zwei Jahren für die Deutschen spionierenden Major in der französischen Armee.

Laut Cuers hat der Kaiser seinerzeit von Feldmarschall Schlieffen persönlich die Wahrheit gefordert: Hat die kaiserliche Armee diesen Juden angeworben, ja oder nein, hat er angeblich gefragt. Schlieffen wiederum hat die gleiche Frage Hauptmann Dame gestellt, und der hat geschworen, noch nie von einem jüdischen Spion gehört zu haben. Auf Schlieffens Befehl hat Dame Schwarzkoppen zum Rapport nach Berlin zurückgerufen – Cuers hat ihn mit eigenen Augen in Tiergarten gesehen. Schwartzkoppen versicherte, er hätte von der Existenz Dreyfus‘ zum ersten Mal erfahren, als er am Morgen nach dessen Verhaftung die Zeitung aufgeschlagen habe. Cuers hat mir erzählt, dass Dame diskrete Nachforschungen bei allen befreundeten Nachrichtendiensten in Europa angestellt habe, ob einer von denen Dreyfus angeworben habe. Das Gleiche: nichts.

Für 6. August vermittelt Oberst Foucault ein Treffen mit Richard Cuers in Basel. Picquart beauftragt Hauptmann Lauth, in die Schweiz zu reisen. Major Henry setzt alles daran, dabei zu sein und erreicht schließlich, dass Picquart zustimmt. Aber die Männer kommen ohne Ergebnis aus Basel zurück. Henry behauptet, Richard Cuers sei ein Aufschneider und verfüge über keine glaubwürdigen Informationen.

Dennoch unterrichtet Picquart sowohl Generalstabschef Boisdeffre als auch den seit April amtierenden Kriegsminister Jean-Baptiste Billot über seinen Verdacht gegen Major Charles Ferdinand Walsin-Esterházy.

Als dieser sich um eine Versetzung in den Generalstab bewirbt, ist Picquart alarmiert, denn er vermutet, dass der Spion dadurch an wichtigere Geheimnisse herankommen möchte. Die Schrift der beiden Bewerbungsschreiben kommt ihm bekannt vor, und als er sie mit einer Kopie des zusammengeklebten Bordereau vergleicht, stellt er fest, dass es sich um dieselbe Handschrift handelt. Das bestätigt ihm auch der Experte Alphonse Bertillon. Also stammt das Begleitschreiben nicht von Alfred Dreyfus, sondern von Esterházy!

Picquart beginnt daran zu zweifeln, dass Alfred Dreyfus zu Recht verurteilt wurde.

Er fragt seinen Archivar Felix Gribelin nach dem Geheimdossier, das er im Auftrag von Oberst Armand du Paty de Clam dem Vorsitzenden Richter übergab. Es befindet sich in Major Henrys Tresor. Das Kuvert enthält fünf Schriftstücke und Henrys Protokoll dazu. Demzufolge fing die „Statistik-Abteilung“ bereits im Juni 1893 und im Januar 1894 Mitteilungen an den deutschen Militärattaché ab, aus denen hervorging, dass er von einem Agenten Pläne von französischen Befestigungsanlagen erhalten hatte. Nachdem François Guénée von der Sûreté im März 1894 von dem spanischen Militärattaché Marquis de Val Carlos vor einem Spion im Generalstab gewarnt worden war, traf Major Henry sich im Juni mit dem Spanier, der ihm bestätigte, dass nicht nur der deutsche Militärattaché von Schwartzkoppen, sondern auch der italienische Militärattaché Major Alessandro Panizzardi von dem französischen Agenten Informationen bekamen.

Das Geheimdossier enthält keinen Beweis dafür, dass es sich bei dem Spion um Alfred Dreyfus handelte. Im Gegenteil: Picquart stellt fest, dass Schwartzkoppen bereits im Juni 1893 im Besitz von geheimen Informationen aus einem Bereich des Generalstabs gewesen war, in den Dreyfus erst einen Monat später kam.

Am 1. September 1896 spricht er General Boisdeffre darauf an. Der Generalstabschef wundert sich darüber, dass das Geheimdossier überhaupt noch existiert, denn er weiß, dass Oberst Sandherr von General Mercier nach dem Prozess gegen Dreyfus den Befehl bekommen hatte, es zu vernichten. Statt etwas zu unternehmen, schickt Boisdeffre den Leiter der „Statistik-Abteilung“ zum Geheimdienstchef, obwohl dieser gerade beurlaubt ist. Picquart fährt am 15. September zu General Charles-Arthur Gonse nach Cormeilles-en-Parisis. Gonse begreift, dass nicht Alfred Dreyfus sein Land verriet, sondern wahrscheinlich Major Charles Ferdinand Walsin-Esterházy. Aber er meint nur, das dürfe niemand erfahren.

„Ein Kriegsgericht hat schon entschieden, wer den Bordereau geschrieben hat. Der Fall ist abgeschlossen. Ich glaube, die Juristen nennen das Res iudicata, eine rechtskräftig entschiedene Sache.“ […]
„Aber wenn wir herausfinden, dass Esterházy der Landesverräter ist und nicht Dreyfus …“
„Nun, das werden wir kaum herausfinden, oder? Das ist der Punkt. Weil nämlich, wie ich Ihnen gerade erklärt habe, der Fall abgeschlossen ist. Das Gericht hat sein Urteil gesprochen, damit ist die Sache erledigt.“

Picquart warnt Gonse vor dem Schaden für die Armee, der entstehen würde, wenn die Wahrheit ans Tageslicht käme. Der Geheimdienstchef erwidert:

„Dann kommt es besser nicht heraus, oder?“

Als Picquart zu bedenken gibt, es sei besser, die Initiative zu ergreifen, als das Risiko einzugehen, später nur noch auf Enthüllungen reagieren zu können, meint Gonse:

„Uns schützt die eiserne Wand der Rechtsprechung. Wir sagen einfach: Sieben Richter haben alle Beweise begutachtet. Wir haben ein einstimmiges Urteil gefällt. Der Fall ist abgeschlossen.“

„Ich verstehe Sie nicht, Picquart! Was wollen Sie? Dass die gesamte Armee – also eigentlich die gesamte Nation! – sich nur um Ihr empfindliches Gewissen dreht? Ihre Arroganz ist ziemlich beeindruckend, das muss ich schon sagen!“

Obwohl Picquart verstanden hat, dass seine militärischen Vorgesetzten eine Korrektur des Urteils gegen Alfred Dreyfus verhindern wollen, unterrichtet er auch den seit April amtierenden Kriegsminister Jean-Baptiste Billot über seine Erkenntnisse und über seinen Plan, den tatsächlichen Spion zu überführen. Aber davon will Billot nichts wissen; er würde Major Esterházy lieber vorzeitig in den Ruhestand verabschieden oder nach Afrika versetzen, in ein Gebiet, in dem damit zu rechnen wäre, dass ihn eine Seuche oder eine Kugel tötet. Am Urteil gegen Alfred Dreyfus will der Minister unter keinen Umständen rütteln.

Major Henry, mit dem Picquart ebenfalls über Dreyfus spricht, meint:

„Hören Sie, ich weiß nicht, ob er schuldig oder unschuldig ist, Herr Oberstleutnant, und offen gesagt ist mir das auch, pardon, scheißegal. Und genau so sollten Sie das auch sehen. Ich habe getan, was man mir gesagt hat. Ich erhalte den Befehl, einen Mann zu erschießen, also erschieße ich ihn. Hinterher heißt es, dass man mir den falschen Namen genannt hat und ich einen anderen hätte erschießen sollen – schön, tut mir sehr leid, aber ist nicht meine Schuld.“

Am 9. September wird in der Zeitung „L’Éclair“ erstmals öffentlich erwähnt, dass Dreyfus aufgrund eines der Verteidigung vorenthaltenen Geheimdossiers verurteilt worden sei. Das Kriegsministerium wird aufgefordert, die Beweise publik zu machen.

Boisdeffre beschwert sich darüber, dass Picquart den Kriegsminister über das Dossier informierte und tut so, als verdächtige er ihn, der Zeitung einen Hinweis gegeben zu haben, um weiter im Fall Dreyfus stochern zu können. General Gonse befiehlt Oberstleutnant Picquart ausdrücklich, keine Nachforschungen mehr vorzunehmen, die im Zusammenhang mit Alfred Dreyfus stehen könnten.

Während eines Feuerwerks zu Ehren des Zaren Nikolaus II. und der Zarin Alexandra, die sich in Paris aufhalten, bricht Picquart ins Archiv der „Statistik-Abteilung“ ein und findet Unterlagen, aus denen hervorgeht, dass Schwartzkoppen und Panizzardi zwölf geheime Pläne von militärischen Einrichtungen zugespielt bekamen. Major Henry unterrichtete seinen Vorgesetzten Oberst Sandherr bereits Monate vor Dreyfus‘ Verhaftung darüber, dass es sich bei dem Spion um den Drucker Jacques Dubois handele. Wegen der Bedeutungslosigkeit des Falls wurde nichts gegen Dubois unternommen, aber später tat Henry so, als habe Dreyfus die Pläne verraten.

Ein paar Tage später erfährt Picquart von Foucault, dass Richard Cuers sich bitter über das konspirative Treffen in Basel beklagte. Major Henry habe ihn kaum zu Wort kommen lassen und von Anfang an für einen Lügner gehalten. Da begreift Picquart, dass Henry die Aufklärung des Falls hintertreibt.

Er sucht Major Étienne Bazeries im Außenministerium auf, der für die Entschlüsselung von abgefangenen codierten Nachrichten zuständig ist. Der Experte bestätigt, dass er ein verschlüsseltes Telegramm bearbeitete, das der italienische Militärattaché Panizzardi am 2. November 1894 an den Generalstab in Rom schickte. Aus der Meldung ging hervor, dass die Italiener nichts von Dreyfus gewusst hatten. Dieses Ergebnis gefiel Oberst Sandherr zwar gar nicht, aber Major Bazieries unterrichtete auch Kriegsminister Mercier darüber.

Als Picquart ins Büro zurückkommt, sitzt General Gonse an seinem Schreibtisch. Nachdem sich der Geheimdienstchef das Dossier aushändigen ließ, kündigt er Picquart an, man werde ihn auf eine Inspektionsreise schicken.

Der anarchistische Journalist Bernard Lazare schreibt einen Artikel unter der Überschrift „Ein Justizirrtum: Die Wahrheit über die Dreyfus-Affäre“. Und die Zeitung „Le Matin“ veröffentlicht am 10. November ein Faksimile des als Beweis gegen Alfred Dreyfus verwendeten Bordereau. Mathieu Dreyfus lässt Plakate aufhängen, auf denen das Bordereau neben Briefen seines Bruders abgebildet ist. Damit weist er die Öffentlichkeit darauf hin, dass das Bordereau nicht von Alfred Dreyfus geschrieben wurde.

Picquart muss sich bei Kriegsminister Jean-Baptiste Billot melden. Dieser und die ebenfalls anwesenden Generäle Raoul le Mouton de Boisdeffre und Charles-Arthur Gonse erhielten einen anonymen Brief mit der Ankündigung, dass Major Esterházy in Kürze als Komplize des Spions Alfred Dreyfus entlarvt werde, und nun verdächtigen sie Picquart als Urheber. General Billot:

„Erst wird die Existenz des Dossiers enthüllt! Dann erscheint ein Foto vom Bordereau auf der Titelseite einer Zeitung! Und jetzt das! Daraus können wir nur folgern, dass Sie sich in eine Obsession hineingesteigert haben, in eine gefährliche Fixierung, mit Major Esterházy anstelle von Dreyfus, und dass Sie alles Erdenkliche tun, damit sie sich erfüllt, einschließlich der Weitergabe geheimer Informationen an die Presse.“

Wie beschlossen, wird Oberstleutnant Marie-Georges Picquart auf eine Inspektionsreise nach Châlons geschickt. Am 16. November verlässt er Paris. Rasch stellt sich heraus, dass man ihn aus der Hauptstadt fernhalten will: Anfang Januar 1897 wird er zum 4. Tunesischen Schützenregiment in Sousse abkommandiert. Picquart hält den ihm zugeteilten Ordonnanzoffzizier Flavian-Uband Savignaud für einen Spitzel des Geheimdienstes und es entgeht ihm auch nicht, dass seine Korrespondenz kontrolliert wird. Außerdem versucht man, ihn mit fingierten Telegrammen in Misskredit zu bringen.

Im Frühsommer 1897 fährt er nach Tunis, sucht den Oberbefehlshaber General Jérôme Leclerc auf und beantragt Heimaturlaub. Obwohl Leclerc weiß, dass er damit die militärische Führung in Paris brüskiert, gewährt er ihm eine Woche.

Picquart reist mit einem Schiff nach Marseille und von dort mit dem Zug weiter nach Paris, wo er bei seiner Schwester Anna und seinem Schwager Jules Gay Zuflucht sucht. Anna kontaktiert für ihn seinen Schulfreund Louis Leblois, der Rechtsanwalt geworden ist. In einem Schreiben, das im Fall seines Todes dem Staatspräsidenten übergeben werden soll, hat Picquart seine Erkenntnisse über Alfred Dreyfus und Marie Charles Ferdinand Walsin-Esterházy zusammengefasst. Leblois fordert ihn auf, zwei Abschriften davon zu machen und kommt am nächsten Tag noch einmal vorbei, um die Schriftstücke abzuholen. Eines legt er in seinen Tresor, ein anderes deponiert er in einem Bankschließfach in Genf, und das dritte übergibt er Auguste Scheurer-Kestner, dem über jeden Zweifel erhabenen Vizepräsidenten des Senats.

Scheurer-Kestner lässt Lucie Dreyfus daraufhin im Juli 1897 wissen, dass er ihren Mann für unschuldig halte und sie bei ihren Bemühungen um eine Wiederaufnahme des Falls unterstützen werde. Gerüchte darüber sorgen für großes Aufsehen.

Ende Oktober wird Oberstleutnant Picquart nach El Quatia abkommandiert, wo der Marquis de Morès am 9. Juni des Vorjahres von Tuaregs erschossen wurde. Kein Zweifel: Es handelt sich um ein Himmelfahrtskommando! Picquart wendet sich nochmals an General Leclerc. Der hält den aus dem Kriegsministerium stammenden Befehl zunächst für einen Irrtum, aber sein Besucher klärt ihn in groben Zügen über die Lage auf. Der General kann den Befehl zwar nicht aufheben, nutzt jedoch die Möglichkeit, die Ausführung zu verzögern.

In einem am 17. November publizierten Brief an den Kriegsminister beschuldigt Mathieu Dreyfus Major Marie Charles Ferdinand Walsin-Esterházy, das Bordereau geschrieben zu haben. Erstmals wird der Name öffentlich genannt. General Billot bleibt nichts anderes übrig, als eine Voruntersuchung gegen den Beschuldigten einzuleiten. Damit beauftragt er General Georges de Pellieux, den Militärkommandanten des Département Seine. Der kommt nach ein paar Tagen zu dem Ergebnis, dass Esterházy unschuldig sei und regt Ermittlungen gegen Picquart an.

Der Oberstleutnant wird Ende November nach Paris zurückgerufen. In einem tagelangen, zermürbenden Verhör beschuldigt Pellieux ihn, Dokumente gefälscht und seinem Freund Louis Leblois das Geheimdossier gezeigt zu haben. Picquart möchte über Major Esterházy und den Bordereau sprechen, aber Pellieux hindert ihn daran mit der Behauptung, das sei nicht Gegenstand der Untersuchung. Daraufhin bricht Picquart die Vernehmung ab und wird zu seiner eigenen Verwunderung auch nicht daran gehindert, das Gebäude zu verlassen.

Zu Hause stellt er fest, dass seine Räume während seiner Abwesenheit gründlich durchsucht wurden. Seine Geliebte Pauline ist da. Ihr Ehemann hat sie hinausgeworfen. Die langjährige Liebesbeziehung ist Philippe Monnier, einem hohen Beamten im Außenministerium, gewiss nicht entgangen, aber als das Ministerium nun aus Armeekreisen auf die Affäre hingewiesen wurde, konnte er sie auch nicht länger ignorieren, ohne um seine Karriere fürchten zu müssen. Er will sich scheiden lassen. Die beiden Töchter Germaine und Marianne hat er zu seiner Schwester gebracht und Pauline verboten, sie zu besuchen.

Bei ihrem Liebhaber kann Pauline nicht bleiben. Zuflucht sucht sie bei ihrem Bruder und ihrer Schwägerin in Toulon.

Picquart wird zwar observiert, aber es gelingt ihm, seine Beschatter abzuschütteln und von ihnen unbemerkt an einem konspirativen Treffen der „Dreyfusarden“ im Haus des Verlegers Georges Charpentier teilzunehmen. Außer dem Hausherrn und seinem Freund Louis Leblois begrüßen ihn Georges Clemenceau, der Herausgeber der Zeitung „L’Aurore“, der Senator Arthur Ranc, der Politiker Joseph Reinach, ein Vertrauter des Senators Auguste Scheurer-Kestner, Émile Zola und einige andere Herren. Picquart erklärt, das den Deutschen und Italienern zugespielte Material sei bedeutungslos gewesen. Trotzdem habe man in der militärischen Führung so getan, als stehe die Sicherheit Frankreichs auf dem Spiel. Und er berichtet in groben Zügen über die Ereignisse seit Herbst 1894.

„Wir befinden uns jetzt in der grotesken Lage, meine Herren, dass die Armee so fest entschlossen ist, einen Unschuldigen in Haft zu halten, dass sie den Schuldigen dabei unterstützt, seiner Bestrafung zu entgehen, und dass sie ebenso fest entschlossen ist, auch mich aus dem Weg zu räumen – wenn nötig, für immer.“

Nachdem Major Marie Charles Ferdinand Walsin-Esterházy auf Anraten seiner Unterstützer ein Gerichtsverfahren gegen sich selbst beantragt hat, eröffnet der Militärgerichtshof am 10. Januar 1898 den Prozess gegen ihn – und ordnet gleich zu Beginn an, die Öffentlichkeit bei Aussagen von Armeeangehörigen auszuschließen. Picquart, der als Zeuge vorgeladen ist, wird so behandelt, als sei er der Angeklagte. Man beschuldigt ihn, sich mit seinem Anwalt Louis Leblois gegen Major Esterházy verschworen zu haben. Seine früheren Untergebenen Felix Gribelin, Major Henry und Jules-Maximilien Lauth – der inzwischen zum Major befördert wurde – behaupten, er habe Leblois das Geheimdossier gezeigt. Henry gibt zu Protokoll, das sei im September 1896 gewesen. Leblois war zwar nachweislich von August bis Anfang November 1896 ununterbrochen bei seinem kranken Vater in Straßburg und kehrte erst am 7. November nach Paris zurück, aber diesen Widerspruch nimmt das Gericht hin. Es spricht Esterházy frei.

Billot unterzeichnet einen Haftbefehl gegen Marie-Georges Picquart. Man sperrt ihn am 13. Januar 1898 als einzigen Häftling in die Festung Mont-Valérien in Suresnes.

Am selben Tag druckt „L’Aurore“ auf dem Titelblatt einen offener Brief Émile Zolas an den Staatspräsidenten: „J’Accuse …“

Ich klage Oberst du Paty de Clam an, der teuflische Schöpfer dieses Justizirrtums zu sein […]
Ich klage den General Mercier, zumindest aus geistiger Trägheit, der Mittäterschaft an bei einer der größten Ungerechtigkeiten des Jahrhunderts.
Ich klage den General Billot an, den sicheren Beweis für Dreyfus‘ Unschuld in Händen gehabt und zurückgehalten zu haben und sich so des Verbrechens an Menschlichkeit und Gerechtigkeit schuldig gemacht zu haben […]
Ich klage General de Boisdeffre und General Gonse der Mittäterschaft bei dem gleichen Verbrechen an […]
Ich klage General de Pellieux an, eine betrügerische Untersuchung durchgeführt zu haben […]
Ich klage die drei Handschriftenexperten an […]
Ich klage das Kriegsministerium an, gegen das Gesetz verstoßen zu haben, indem es den Angeklagten auf Grundlage von geheimen Beweismitteln verurteilt hat, und ich klage das zweite Kriegsgericht an, auf Befehl wissentlich einen schuldigen Mann freigesprochen zu haben […]

Damit provoziert Émile Zola absichtlich eine Verleumdungsklage, damit seine Anschuldigungen öffentlich verhandelt werden. Ab 7. Februar muss der Schriftsteller sich vor Gericht verantworten. Picquart wird am 11. Februar in den Zeugenstand gerufen. Er sagt:

„Ich beschränke mich auf die erdrückende Beweislast gegen Esterházy: das Petit Bleu, Esterházys unmoralischen Charakter, seine Geldnot, sein verdächtiges Interesse an Artillerie-Angelegenheiten, die Tatsache, dass seine Handschrift mit der des Bordereaus identisch ist. Ich schildere, wie ich meine Vorgesetzten von meinem Verdacht unterrichtete, wie ich schließlich in Nordafrika landete und mit welchen Intrigen mir seitdem zugesetzt wird.“

Als Hubert-Joseph Henry den Zeugen im Gerichtssaal der Lüge bezichtigt, fordert dieser Satisfaktion.

General Georges de Pellieux sagt aus, das Kriegsministerium habe im November 1896 einen sicheren Beweis dafür erhalten, dass es sich bei Albert Dreyfus um einen Spion handelte. (Es handelt sich um „le faux Henry“; später mehr dazu.) General Raoul le Mouton de Boisdeffre bestätigt dies ohne Einschränkung. Aber Picquart erklärt:

„Ich möchte etwas zu dem Schriftstück sagen, dem sicheren Beweis für Dreyfus‘ Schuld, von dem General Pellieux in seiner Aussage gesprochen hat. Wenn er es nicht erwähnt hätte, hätte ich nie ein Wort darüber verloren, aber nun sehe ich mich genötigt, es doch zu tun.“ Die Uhr tickt. Ich fühle mich, als stünde ich vor einer geöffneten Falltür und täte nun den Schritt über den Rand. „Es ist eine Fälschung.“

Émile Zola wird am 23. Februar zu einem Jahr Haft und einer Geldbuße verurteilt. Alexandre Perrenx, der Geschäftsführer der Zeitung „L’Aurore“, soll für vier Monate ins Gefängnis und ebenfalls eine Geldstrafe bezahlen. Die Vollstreckung der Urteile wird bis zur erwarteten Berufungsverhandlung ausgesetzt.

Drei Tage später beschließt eine Militärkommission, Oberstleutnant Marie-Georges Picquart wegen schweren Fehlverhaltens aus der Armee auszuschließen und ihm nur die Pension eines Majors zu gewähren. Er kann die Festung Mont-Valérien verlassen.

Als er zu einer von Jean-Alfred Desvernine vermittelten Verabredung mit dem Fälscher Moisés Lehmann – der sich auch Lemercier-Picard oder Koberty Dutrieux nennt – in ein Hotel geht, weil er vermutet, dass der Mann an den Fälschungen der Militärs beteiligt war, findet er ihn erdrosselt vor. Die Polizei kommt zu dem Schluss, dass Lehmann sich selbst das Leben genommen habe, aber Picquart bezweifelt das; er glaubt nicht an einen Selbstmord.

Zum Säbel-Duell mit Hubert-Joseph Henry – der inzwischen zum Oberstleutnant befördert wurde – kommt Picquart mit seinem Cousin Edmond Gast und dem Senator Arthur Ranc, seinen Sekundanten, in die Reithalle der École Militaire. Augenscheinlich ist Henry darauf aus, ihn zu töten, aber Picquart trifft seinen Gegner am Ellbogen, und weil dabei ein Nerv verletzt wird, kann Henry den Säbel nicht mehr halten. Widerwillig gibt er sich geschlagen.

Politiker, die für eine Wiederaufnahme des Verfahrens gegen Alfred Dreyfus eintreten, verlieren ihre Ämter bzw. Mandate, und die Anwaltskammer bestraft Louis Leblois wegen angeblich standeswidrigen Verhaltens.

Nachdem Henri Brisson Ende Juni die Regierung übernommen hat, versichert Godefroy Cavaignac, der neue Kriegsminister, am 7. Juli in der Abgeordnetenkammer, Alfred Dreyfus sei zu Recht verurteilt worden. Um dies zu untermauern, verliest er Texte aus dem Geheimdossier. Die Parlamentarier applaudieren.

Picquart nimmt dazu in einem von der Zeitung „Le Temps“ veröffentlichten Brief an den Ministerpräsidenten Henri Brisson Stellung:

[…] bis zum heutigen Tag war es mir nicht möglich, mich offen zu den geheimen Dokumenten zu äußern, die angeblich die Schuld von Hauptmann Alfred Dreyfus beweisen. Nachdem der Herr Kriegsminister vom Rednerpult der Abgeordnetenkammer drei dieser Dokumente verlesen hat, halte ich es für meine Pflicht, Sie davon zu unterrichten, dass ich in der Lage bin, vor jedem zuständigen Gericht zu belegen, dass die beiden Dokumente, datierend aus dem Jahr 1894, nicht mit Dreyfus in Verbindung gebracht werden können und das aus dem Jahr 1896 datierte Dokument alle Anzeichen einer Fälschung aufweist.

Prompt verklagt Godefroy Cavaignac den pensionierten Offizier und dessen Anwalt Louis Leblois. Während Leblois gegen Kaution freikommt, wird Picquart im Gefängnis La Santé eingesperrt.

Weil das erste Urteil gegen Émile Zola inzwischen aufgehoben worden war, begann am 23. Mai ein neuer Prozess gegen ihn. Als dieser am 18. Juli mit einem weiteren Schuldspruch endet, flüchtet Zola nach London.

Hauptmann Louis Cuignet fällt bei der Untersuchung einer dem Geheimdossier gegen Alfred Dreyfus nachträglich hinzugefügten Kopie auf, dass ein Teil des Blattes blau, ein anderer rot liniiert ist. Das Schriftstück wurde also aus zwei nicht zusammengehörigen Teilen zusammengesetzt. Oberstleutnant Hubert-Joseph Henry gibt die Fälschung am 30. August 1898 zu. Am 2. November 1896 hatte er sie General Gonse übergeben. Einen oder zwei Tage zuvor hatte er auf einen abgefangenen undatierten Brief Panizzardis an Schwartzkoppen das Datum 14. Juni 1894 geschrieben und zwischen Anrede und Unterschrift einen selbst geschriebenen Text eingefügt, demzufolge Alfred Dreyfus Informationen weitergegeben hatte. (Nach der Aufdeckung der Fälschung kam dafür die Bezeichnung „le faux Henry“ auf.) Oberstleutnant Henry wird festgenommen und in die Festung Mont Valérien gebracht. Dort findet ein Aufseher ihn am nächsten Morgen mit durchschnittener Kehle vor. Er habe sich mit einem Rasiermesser selbst getötet, so das Ergebnis der Ermittlungen.

In den folgenden Wochen reichen die Generäle Georges de Pellieu und Raoul le Mouton de Boisdeffre ihren Abschied ein, Kriegsminister Godefroy Cavaignac und Ministerpräsident Henri Brisson stellen ihre Ämter zur Verfügung, General Charles-Arthur Gonse und Oberst Armand du Paty de Clam müssen den Generalstab verlassen.

Das Oberste Berufungsgericht entscheidet am 3. Juni 1899, dass Alfred Dreyfus für ein Wiederaufnahmeverfahren nach Frankreich geholt werden muss. Während Dreyfus an Bord des Kreuzers „Sfax“ unterwegs ist, kommt Picquart frei, und die Verfahren gegen ihn und Louis Leblois werden eingestellt.

Am 7. August beginnt der neue Kriegsgerichtsprozess gegen Alfred Dreyfus in Rennes. Königin Viktoria schickt den Lord Chief Justice of England als Beobachter. Oberst Mercier Jouaust übernimmt den Vorsitz, die Anwälte Edgar Demange und Fernand Labori verteidigen den Angeklagten.

Picquart sagt im Zeugenstand aus, dass dem damaligen Kriegsminister General Auguste Mercier bereits einen Monat vor dem Prozess gegen Alfred Dreyfus der korrekte Text einer abgefangenen und entschlüsselten Botschaft des italienischen Militärattachés Major Alessandro Panizzardi vorgelegen habe. Er wusste also, dass die Mitteilung Alfred Dreyfus entlastete und der später von der „Statistik-Abteilung“ zitierte, scheinbar Dreyfus‘ Agententätigkeit beweisende Text eine Fälschung war.

Als Picquart, Fernand Labori und Edmond Gast am 14. August auf einem Treidelpfad spazieren gehen, schießt jemand den Rechtsanwalt nieder. Picquart verfolgt den Attentäter, aber der entkommt. Trotz des Anschlags auf den Verteidiger unterbricht Oberst Jouaust die Verhandlung nur für eine Dreiviertelstunde. Edgar Demange, der im Gegensatz zu Labori nicht darauf vorbereitet ist, muss das Kreuzverhör gegen General Mercier führen.

Im Salon von Aline Ménard-Dorian in Paris warten die Dreyfusarden am 9. September 1899 auf das Urteil. Alfred Dreyfus wird erneut für schuldig gefunden; das Gericht senkt nur das Strafmaß von lebenslang auf zehn Jahre.

Einige Tage später erfährt Picquart von Mathieu Dreyfus, dass dessen Bruder wegen seiner angegriffenen Gesundheit bereit sei, eine Begnadigung zu akzeptieren, statt weiter für seine Rehabilitierung zu kämpfen. Am 19. September begnadigt der Staatspräsident Alfred Dreyfus, der sich nach seiner Freilassung am nächsten Tag mit seiner Familie in die Provence zurückzieht und später in die Schweiz emigriert.

Nachdem weitere Zweifel an der Echtheit von „Beweisen“ im Geheimdossier aufkamen, werden im Frühjahr 1904 neue Untersuchungen durchgeführt, die am 12. Juli 1906 zur Aufhebung des Urteils von Rennes durch das Oberste Berufungsgericht führen. Damit ist Alfred Dreyfus vollständig rehabilitiert, und er wird am 13. Juli im Majorsrang wieder in die französische Armee aufgenommen.

Marie-Georges Picquart trifft es noch besser: Er kehrt sogar als Brigadegeneral in die Armee zurück, und nachdem Georges Clemenceau am 25. Oktober 1906 Ministerpräsident geworden ist, wird General Picquart zum Kriegsminister ernannt.

Am 29. November 1906 wendet Alfred Dreyfus sich an den neuen Kriegsminister. Er findet es ungerecht, dass man ihm keinen höheren Rang zugestanden hat. Picquart lehnt es jedoch ab, daran etwas zu ändern. Das sei politisch nicht machbar, erklärt er seinem Besucher.

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In seinem brillanten Roman „Intrige“ beschäftigt Robert Harris sich mit der Dreyfus-Affäre. Obwohl es keine Action-Szenen gibt, viel gesprochen wird und sich die Handlung um eine Unmenge historischer Fakten rankt, ist „Intrige“ keine trockene Geschichtsstunde, sondern ein außergewöhnlich farbiger, packender und spannender historischer Roman. Das erreicht Robert Harris, indem er die Ereignisse nicht als auktorialer Erzähler von außen schildert, sondern sie aus der Perspektive eines unmittelbar Beteiligten darstellt, den er in der Ich-Form und im Präsens zu Wort kommen lässt.

Marie-Georges Picquart – zu Beginn ist er Oberst, am Ende General – mag Juden nicht und hält den jüdischen Hauptmann Alfred Dreyfus für einen zu Recht verurteilten Spion. Doch als Chef des Deuxième Bureau, also des französischen Auslandsgeheimdienstes, stößt er auf Hinweise, die das Gerichtsurteil gegen Alfred Dreyfus in Frage stellen. Während die militärische Führung einschließlich des Kriegsministers unter allen Umständen verhindern möchte, dass der Fall neu aufgerollt wird, kämpft Picquart für eine Wiederaufnahme des Verfahrens – obwohl er dadurch nicht nur seine vielversprechende Karriere ruiniert, sondern auch mit Schimpf und Schande aus der Armee verstoßen wird und um sein Leben fürchten muss.

„Intrige“ veranschaulicht zumindest einen gravierenden Fall, in dem Misstrauen gegenüber dem Staatsapparat berechtigt war.

Robert Harris erzählt, er sei Anfang 2012 im Gespräch mit Roman Polanski auf die Idee gekommen, die Dreyfus-Affäre zum Thema eines Romans zu machen. Als die Weltöffentlichkeit durch die Enthüllungen von Edward Snowden ab Juni 2013 vom Ausmaß der Datenspeicherung durch die NSA erfuhr, war das Manuskript für „Intrige“ fast fertig. Dass der Roman über einen Whistleblower auf einen aktuellen Widerhall stieß, ließ sich nicht voraussehen.

Im Vorwort beteuert Robert Harris:

Keine der Personen des Buches, nicht einmal die nebensächlichste, ist gänzlich erfunden.

Dass er die wichtigsten Figuren auf drei Seiten auflistet (Dramatis Personae), hilft, beim Lesen den Überblick zu behalten. Obwohl es sich bei „Intrige“ um eine extrem komplexe Geschichte mit zahlreichen Figuren handelt, fällt es aufgrund der souveränen Führung nicht schwer, der Handlung zu folgen. Sie beginnt mit der öffentlichen Degradierung Alfred Dreyfus‘ am 5. Januar 1895 und endet 1906 mit der Rehabilitierung des Verurteilten und Picquarts Aufstieg zum Kriegsminister. Erzählt wird weitgehend chronologisch und linear. Was wir über die Vorgeschichte wissen müssen, erfahren wir zwischendurch.

Beim Lesen des Romans glaubt man, dabei zu sein. Robert Harris entwickelt die Handlung vor historischen Kulissen und vermittelt dadurch auch ein plastisches Bild der französischen Gesellschaft um 1900.

Fazit: „Intrige“ ist Unterhaltung auf höchstmöglichem Niveau, aufschlussreich und atemraubend zugleich.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2013
Textauszüge: © Wilhelm Heyne Verlag

Alfred Dreyfus (kurze Biografie)
Dreyfus-Affäre

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