Lukas Hartmann : Die Wölfe sind satt

Die Wölfe sind satt
Die Wölfe sind satt Geschichten Erstausgabe: Verlag Nagel & Kimche, Zürich / Frauenfeld 1993 Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt/M 1996 ISBN 978-3-596-12887-7, 139 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Drei durchaus nicht ausländerfeindliche Schweizer werden mit Fremden konfrontiert und erleben, wie problematisch der Umgang mit ihnen nicht zuletzt wegen der kulturellen Barrieren ist:

Ein Haus mit vielen Zimmern
Kinderspiele
Die schöne Kurdin  
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Kritik

Durch den sachlich Stil muten die drei Geschichten, die Lukas Hartmann in dem Band "Die Wölfe sind satt" zusammengefasst hat, beinahe authentisch an.
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Ein Haus mit vielen Zimmern

Walder, einer der führenden Köpfe in der Schweizer Asylbewegung, meldet sich telefonisch bei dem Architekten Ambühl, den er bei einem Antirassismuskongress in Südfrankreich flüchtig kennen gelernt hatte. Da er weiß, dass Ambühl allein ein renoviertes Bauernhaus bewohnt, drängt er ihn, einige von der Abschiebung bedrohte Asylanten bei sich zu verstecken. Widerwillig erklärt Ambühl sich dazu bereit.

Nach Einbruch der Dunkelheit kommt Walder mit vierzehn Kurden in einem Kleinbus. Nur einer von ihnen, Masud, spricht wenigstens radebrechend Deutsch. Die Asylanten schlafen auf Matratzen und Decken. Jeden zweiten Tag bringt Walders Mitarbeiterin Anita Lebensmittel, Spielzeug und türkische Zeitungen vorbei. Ambühl beobachtet, dass Frauen und Kinder das Plumpsklo im Freien benützen müssen, während die kurdischen Männer sich mit Ambühl die Toilette im Badezimmer teilen. Immer wieder beschwert er sich bei Masud über die Verschmutzung des WCs. Als er die Kurden, die den ganzen Tag im Zimmer herumlungern und türkische Videos anschauen, zur Gartenarbeit auffordert, lehnt Masud ab; es sei zu gefährlich, sich im Freien sehen zu lassen, behauptet er zunächst, doch als Ambühl diesen Grund nicht gelten lassen will, erklärt der Kurde, Gartenarbeit sei nichts für Männer, sondern nur etwas für Frauen. Da versucht Ambühl, die Kurden mit Deutschunterricht zu beschäftigen.

Ambühl unternahm einen einzigen Anlauf, Deutsch zu unterrichten. Eine Stunde lang ertrug er den passiven Widerstand, die lethargischen Nachsprechversuche der Männer, dann ließ er sein Vorhaben fallen, und niemand fragte je nach weiteren Lektionen. (Seite 31)

„Mit unnachgiebiger Höflichkeit“ laden die Kurden Ambühl ein, mit ihnen gemeinsam zu essen und sie drängen ihm die fettesten Fleischstücke auf.

Ambühl wusste, dass er seine Höflichkeit mit Schmerzen bezahlen würde; nachts lag er wach im Bett und verwünschte seinen empfindlichen Magen. Es war nicht nur das Essen, das ihn störte, es war ebenso die unbequeme Stellung beim Sitzen, es waren die ihm unverständlichen Gespräche unter den Männern, die immer wieder in Wortwechsel ausarteten, es war der Umstand, dass er nicht wusste, ob er diese Heftigkeit ihrem Temperament oder einem wirklichen Zwist zuschreiben sollte. (Seite 22)

Erst als er ärztliche Rezepte und Tabletten vorzeigt, akzeptieren seine ungebetenen Gäste, dass er sich selbst Rühreier oder Salat zubereitet und in seinem Zimmer isst.

Wenn er sich über die Kinder beschwert, die unter dem Scheunendach gestapelte Holzscheite in den Bach werfen, Kerben in die Vortreppe schnitzen und die frisch eingesäten Beete zertrampeln, verprügeln die Männer ihre Frauen und Kinder.

Eines Morgens findet er die Toilette nicht nur völlig verdreckt, sondern auch noch verstopft vor. Da verlangt er von den Kurden, das Bad zu putzen. Es kommt zum Streit, denn die Männer weigern sich, diese Frauenarbeit zu übernehmen und – von Ambühl vor die Wahl gestellt – wollen sie lieber bis zum Abend sein Haus verlassen.

Walder, der am Telefon vergeblich versucht hat, Ambühl zum Einlenken zu bringen, holt am Vormittag die Familie Görat ab und verspricht, in der Nacht noch einmal mit dem Kleinbus zu kommen. Einige Stunden später ruft Anita an: Walder und die Kurden sind bei einer Verkehrskontrolle aufgefallen und verhaftet worden. Weil damit zu rechnen ist, dass die Festgenommenen bei den Vernehmungen ihren letzten Aufenthaltsort verraten, führt Ambühl die übrigen Kurden eilig zu einem alten Steinbruch, damit sie sich dort verstecken. Anita sorgt dafür, dass sie von dort abgeholt werden.

Kinderspiele

Bevor Michael Portmann Sektionschef im Schweizer Bundesamt für Flüchtlinge wurde, hatte er Geschichte unterrichtet. Seine Frau Teresa ist Italienerin, spricht aber auch fließend Deutsch. Eigentlich wollten sie ihre drei Kinder Claudia, Pietro und Mario zweisprachig aufziehen, aber das ließ sich dann doch nicht durchsetzen.

Bei einem von Claudias Klassenlehrerin organisierten Picknick für die Schüler, ihre Eltern und Geschwister befreunden sich Portmanns Kinder mit Mirathai („Mira“) und ihrem Bruder Balu, den Kindern der tamilischen Familie Vakanatam aus Jaffna in Sri Lanka. Auch die beiden Frauen, Teresa und Bharati, verstehen sich auf Anhieb. Nur Portmann fällt es schwer, seine Befangenheit gegenüber Jagadish Vakanatam durch ein paar höfliche Worte zu überbrücken. Jagadish ist Ingenieur, arbeitet als Lagerarbeiter in einer Verpackungsfabrik und hat für sich und die Familie in der Schweiz Asyl beantragt. Seine Frau Bharati ist zwar eigentlich Lehrerin, aber sie wäre auch schon mit einer Halbtagsstelle als Putzfrau zufrieden.

Wieder im Büro, studiert Portmann die Akte Vakanatam und stellt fest, dass die Familie aufgrund widersprüchlicher Aussagen keine Chance hat, als Asylanten anerkannt zu werden. Er notiert am Rand des Deckblatts die Empfehlung, sie baldmöglichst abzuschieben. Dann überlegt er, was er seinen Kindern sagen könnte, wenn sie von der Abschiebung der neuen Freunde erfahren. Vielleicht sollte er seinen Chef einschalten. Der würde vielleicht eine Ausnahme zulassen.

Die schöne Kurdin

Rechtsanwalt Gurtner vertritt die türkische Kurdin Saliha Zeren bei ihrer Beschwerde gegen die Ablehnung ihres Asylantrags durch die Schweizer Behörden. Weil die Frau als Serviererin in einem Hotel in Grindelwald arbeitet, dort auch ihr Zimmer hat und mangels Freizeit den Ort nicht verlassen kann, nützt Gurtner die Gelegenheit, mit seiner vierzehnjährigen Tochter Bea einen Ausflug nach Grindelwald zu machen. Er holt sie bei seiner geschiedenen Frau ab und fährt mit Bea zum Bahnhof.

Während das Mädchen zur Schlittschuhbahn geht, unterhält Gurtner sich mit Saliha in deren Zimmer. Sie erzählt ihm, der Vater habe sie als Dreizehnjährige einem fünfundzwanzig Jahre älteren und doppelt so schweren Polizeioffizier verkauft. Nach vier oder fünf Jahren begann sie sich zu wehren, aber ihr Ehemann, der inzwischen zum Polizeichef der Stadt avanciert war, reagierte mit blinder Wut und riss in ihrem Zimmer das Telefonkabel aus der Wand, um ihre Kontakte mit anderen Menschen abzubrechen. Ihr älterer Bruder war zu diesem Zeitpunkt untergedacht, und man verdächtigte ihn, ein Mitglied der PKK zu sein. Der Polizeichef, der annahm, seine Frau wisse mehr über ihren Bruder, ließ ihren Vater verhaften und misshandeln, um sie unter Druck zu setzen. Doch schließlich glückte ihr die Flucht. Als sie merkt, dass Gurtner ihr nicht glaubt, dreht sie sich um, öffnet den Reißverschluss ihres Kleides, schlüpft aus den Ärmeln und lässt das Oberteil über die Taille gleiten. Gurtner sieht, dass ihr Rücken mit Narben übersät ist. Das sei mit Rasierklingen und brennenden Zigaretten gemacht worden, erklärt Saliha.

Abends lädt Gurtner Bea und Saliha in ein Café ein, und sie essen Minestrone.

Als Gurtner und seine Tochter danach allein in ihrem Hotelzimmer sind, fragt Bea, ob er die Kurdin liebe. „Ich weiß es nicht“, antwortet Gurtner. Ob sie in der Schweiz bleiben könne, möchte Bea wissen. Das hält der Anwalt für unwahrscheinlich: „Man wird vermutlich sagen, die politische Verfolgung sei nicht nachgewiesen, es handle sich um ein Beziehungsdelikt.“

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Drei durchaus nicht ausländerfeindliche Schweizer werden mit Fremden konfrontiert und erleben, wie problematisch der Umgang mit ihnen nicht zuletzt wegen der kulturellen Barrieren ist: Ambühl versteckt vierzehn Kurden, die sich illegal im Land aufhalten, bei sich im Haus und hält deren Andersartigkeit nicht lange aus. Portmann, der Sektionschef im Schweizer Bundesamt für Flüchtlinge, sieht aufgrund der gesetzlichen Regelungen für den Asylantrag einer tamilische Familie keine Chance und fragt sich, wie seine Kinder, die sich mit den tamilischen Kindern befreundet haben, auf die Abschiebung reagieren werden. Gurtner verliebt sich in eine von der Abschiebung bedrohte Kurdin.

Durch den sachlichen Stil muten die drei Geschichten, die Lukas Hartmann in dem Band „Die Wölfe sind satt“ zusammengefasst hat, beinahe authentisch an. Umso ambitionierter und störender wirken die kursiv eingestreuten Puzzleteile eines Märchens in der Geschichte „Ein Haus mit vielen Zimmern“.

Lukas Hartmann (*1944) studierte Musik, Germanistik und Psychologie. Heute lebt er als freier Journalist und Schriftsteller in seiner Geburtsstadt Bern.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2004
Textauszüge: © Verlag Nagel & Kimche 1993
Die Seitenangaben beziehen sich auf die 1996 im Fischer Taschenbuch Verlag erschienene Ausgabe.

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