Judith Hermann : Alice

Alice
Alice Originalausgabe: S. Fischer Verlag, Frankfurt/M 2009 ISBN: 978-3-10-033182-3, 191 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

In "Alice" geht es ums Sterben, um Ohnmacht und Resignation angesichts des Todes von Angehörigen, Freunden, Bekannten, um Verlust, Trauer und Loslassen. Gefühlsaufwallungen gibt es keine. Fünfmal wird Alice mit dem Thema Tod konfrontiert. Ob sie sich dadurch verändert, wissen wir nicht, denn Judith Hermann porträtiert keine der Figuren und lässt darüber hinaus auch deren Beziehungen im Unklaren.
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Kritik

Judith Hermann lädt das Sterben in "Alice" nicht pathetisch mit Sinn auf, sondern stellt es als banalen Vorgang im Alltagsleben dar. Dem-entsprechend evoziert das Lesen dieser leisen, radikal reduzierten Erzählungen auch keine Emotionen.
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Micha

Micha liegt aus irgendwelchen Gründen nicht an seinem Wohnort Berlin, sondern in Zweibrücken im Krankenhaus. Er leidet unter Krebs im Endstadium. Die Ärzte geben ihm nur noch Morphium gegen die Schmerzen. Vor zehn Tagen flog seine Frau Maja mit dem Kind zu ihm. Als sie begriff, dass Micha hier sterben würde, rief sie Alice an, und diese kam mit dem Zug aus Berlin.

Alice, die etwas älter als Maja ist, hatte Micha vor langer Zeit geliebt, aber während ihrer einzigen gemeinsamen Reise waren sie einvernehmlich zu dem Entschluss gekommen, sich zu trennen. Micha war vorzeitig abgereist – und hatte kurz darauf Maja kennengelernt.

Weil die von Maja gemietete Ferienwohnung für drei Personen zu klein ist, zumal Michas Sterben offenbar noch einige Zeit dauert, wechseln die beiden Frauen mit dem Kind in eine größere Wohnung, ebenfalls in der Nähe des Krankenhauses.

Aber Micha starb nicht. Nicht in der Nacht vom Montag zum Dienstag, auch nicht in der Nacht vom Dienstag zum Mittwoch, möglicherweise würde er am Mittwochabend sterben oder in der Nacht zum Donnerstag. Alice glaubte, gehört zu haben, die meisten Leute stürben nachts. (Seite 5)

Um 4 Uhr morgens weckt Maja Alice. Sie erhielt gerade einen Anruf aus dem Krankenhaus: Micha war zwei Stunden zuvor gestorben.

Alice fährt zurück nach Berlin. Maja bittet sie, Michas Koffer mitzunehmen. Sie wird abends mit dem Kind ein Flugzeug nehmen.


Conrad

Alice fährt von Berlin zum Gardasee, um dort das siebzig Jahre alte Ehepaar Conrad und Lotte zu besuchen. Zwei Personen, die weder Lotte noch Conrad kennen, begleiten sie: Anna sitzt im Fond, und der Rumäne, dessen Namen wir nicht erfahren, am Steuer. (Judith Hermann klärt uns auch nicht über die Beziehungen der Figuren auf.)

Als sie am Zielort eintreffen, ist Conrad unerwartet krank und fiebert. Während die drei Besucher am Abend im Restaurant Nuovo Ponte essen und trinken, bringt Lotte ihren Mann ins Krankenhaus, um ihn untersuchen zu lassen. Mitten in der Nacht kommt sie allein zurück. Wider Erwarten wollten die Ärzte den Kranken dabehalten.

Am nächsten Morgen fahren sie zusammen zum Krankenhaus in der Stadt. Es scheint Conrad besser zu gehen. Das Fieber ist gesunken.

Nachmittags kommt der Gärtner Fulvio zu den Besuchern ins Haus und sagt: „Signor Conrad è morto.“


Richard

Richard liegt in seiner Wohnung in Berlin im Sterben. Seine Frau Margaret betreut ihn, und ein Pfleger kommt täglich vorbei, um ihm Morphium zu spritzen. Margaret ruft Alice an und sagt, sie brauche Wasser und Zigaretten. Obwohl es ihr arbeitsfreier Tag ist, fährt Alice hin. Ihr Ehemann oder Lebensgefährte Raymond liest gleichgültig weiter in einem Buch.

Unterwegs kauft Alice an einem Kiosk Wasser, Zigaretten und Blumen. Richard ist nicht bei Bewusstsein.

Margaret, sagte Alice.
Margaret nickte. Sie sagte, also, soweit ist jetzt alles klar. Wir haben alles geklärt. Die Musiker, die Friedhofskapelle, die Grabstelle. Wir haben den Tag für die Beerdigung festgesetzt. In drei Wochen.
Und wenn Richard bis dahin nicht gestorben ist, sagte Alice.
Oh, bis dahin wird er das geschafft haben, sagte Margaret. (Seite 106)

Am Sonntag fahren Alice und Raymond zu einem Picknick hinaus aus der Stadt. Am Abend geht Raymond in den Dienst. Alice setzt sich mit einem Buch in die Küche und legt das Telefon vor sich auf den Tisch.


Malte

Als Malte vor fast vierzig Jahren eine tödliche Dosis Schlaftabletten schluckte, war seine Nichte Alice noch nicht auf der Welt. Sie wurde erst einen Monat später geboren.

Malte war der Bruder ihres Vaters Christian. Er lebte zunächst bei seinen Eltern in Zehlendorf, dann mietete er eine Ein-Zimmer-Wohnung in Kreuzberg. Zu diesem Zeitpunkt war sein einige Jahre älterer schwuler Freund Friedrich schon nicht mehr in Berlin, sondern studierte in einer anderen Stadt, aber sie schrieben sich Briefe – bis Malte sich mit dreiundzwanzig das Leben nahm.

Alice wohnt noch immer in Berlin. Unvermittelt sucht sie Friedrichs Telefonnummer heraus, ruft ihn an und stellt sich als Maltes Nichte vor. Er erkundigt sich nach der Mutter seines Freundes, die ebenfalls Alice hieß und erfährt, dass sie seit zwanzig Jahren tot ist.

Als Friedrich wieder einmal nach Berlin kommt, meldet er sich bei Alice und verabredet sich mit ihr. Sie treffen sich in der Halle seines Hotels, gehen zusammen spazieren und in ein Café. Friedrich hat Alice die Briefe seines Freundes mitgebracht.


Raymond

Nach Raymonds Tod ist Alice dabei, seine Sachen auszusortieren und wegzuschaffen. Einzelne Kleidungsstücke sind mit Erinnerungen assoziiert, die sich ihr aufdrängen. Das Auto verschenkt sie, nachdem sie alle persönlichen Gegenstände herausgenommen und weggeworfen hat: Sie kann es sich nicht leisten und benötigt es auch nicht.

In diesem ersten Sommer ohne Raymond geht Alice häufig ins Schwimmbad.

Als sie Margaret besucht, die jetzt in einem Haus am Stadtrand wohnt, erzählt diese, Richard habe gemeint, sie werde drei Jahre brauchen, um über seinen Tod hinwegzukommen.

Michas Koffer steht noch immer bei Alice herum. Maja hat ihn noch nicht abgeholt.

Michas Kind gehe es gut, meint der Rumäne, mit dem Alice sich hin und wieder trifft.

Sie redeten nicht über Raymond. Der Rumäne fragte nicht nach Raymond, und Alice sagte nichts darüber. Raymond hatte von dem Rumänen nicht viel gehalten, vielleicht war er eifersüchtig gewesen, hatte was gewusst oder geahnt oder einen Verdacht gehabt. Die Letzten werden die Ersten sein? Oder die Ersten werden die Letzten sein? Aber es gab nichts zu wissen. Würde es auch nicht.
Sie redeten auch nicht über alles andere. Eigentlich, fand Alice, redeten sie genau an den Dingen vorbei, möglicherweise waren sie beide zu erschöpft, oder sie konnten sich nicht entscheiden, wie auch immer, sie war froh darüber. (Seite 186f)

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Unter dem Titel „Alice“ hat Judith Hermann fünf Geschichten zusammengestellt. Fünfmal wird die Berlinerin Alice mit dem Thema Tod konfrontiert. Der Verlag gibt nicht an, ob es sich bei „Alice“ um einen Roman oder einen Band mit Erzählungen handeln soll, aber es ist wohl eher letzteres der Fall, auch wenn alle fünf Geschichten aus Alices Perspektive erzählt werden und chronologisch angeordnet sind.

In „Alice“ geht es ums Sterben, um Ohnmacht und Resignation angesichts des Todes von Angehörigen, Freunden, Bekannten, um Verlust, Trauer und Loslassen. Alle fünf Erzählungen sind mit den Namen der sterbenden bzw. toten Männer überschrieben: Micha, Conrad, Richard, Malte, Raymond. Ob Alice sich durch die fünf Todesfälle verändert, wissen wir nicht, denn Judith Hermann porträtiert keine der Figuren und lässt darüber hinaus auch deren Beziehungen im Unklaren. Es gibt keine Gefühlsaufwallungen, weder bei den Sterbenden, noch bei den Hinterbliebenen. Judith Hermann lädt das Sterben nicht pathetisch mit Sinn auf, sondern stellt es als banalen Vorgang im Alltagsleben dar. Dementsprechend evoziert das Lesen dieses leisen Buches auch keine Emotionen.

Maja hatte gekocht, sie kochte absolut salzarm, ohne jeden Hokuspokus, eine Art biblisches Essen, man konnte es fade oder pur finden. (Seite 27)

Was Judith Hermann über Majas Art zu kochen schreibt, gilt auch für „Alice“: Die Darstellung ist radikal reduziert, schlicht, herb und nüchtern. Die lakonische Sprache besteht aus einfachen Wörtern und kurzen Sätzen. Das kann man fade oder pur finden.

Ist das nicht ein Übermaß an Tragödienstoff und Krisenpotenzial? Keineswegs, wenn der Mehltau des Hermann-Tons darüber liegt, dieser zarte Frosthauch einer Grundmelancholie, die gegen veritable Erschütterungen resistent bleibt. Die dazugehörige Erzähltechnik besteht in einem wie beiläufigen, doch ostentativ empfindsamen Aufsammeln und Anordnen von Alltagspartikeln, Beobachtungen, Bildausschnitten, Gesprächsfragmenten. Das ist zuweilen banal und flach, dann wieder etwas unbeholfen mit Bedeutung aufgeladen, aber an manchen Stellen führt es zu atmosphärischen Verdichtungen von poetischer Kraft […] (Kristina Maidt-Zinke, Süddeutsche Zeitung, 5. Mai 2009)

Bei Conrad dachte Judith Hermann möglicherweise an den Schriftsteller und Literaturkritiker Reinhard Baumgart, der am 2. Juli 2003 im Alter von vierundsiebzig Jahren am Gardasee starb. Und der Name Raymond könnte sich auf ihr Vorbild Raymond Carver beziehen.

„Alice“ gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Judith Hermann (Regie: Ralf Ebel, München 2009, 4 CDs, ISBN: 978-3-86717-435-0).

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2010
Textauszüge: © S. Fischer Verlag

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