Die Reise

Die Reise

Die Reise

Originaltitel: Die Reise – Regie: Markus Imhoof – Drehbuch: Markus Imhoof, nach dem Roman "Die Reise" von Bernward Vesper – Kamera: Hans Liechti – Schnitt: Ursula West – Musik: Franco Ambrosetti – Darsteller: Markus Boysen, Corinna Kirchhoff, Claude-Oliver Rudolph, Alexander Mehner, Gero Preen, Will Quadflieg, Christa Berndl, Beate Jensen, Thomas Anzenhofer, Ulrike Barthruff u.a. – 1986; 105 Minuten

Inhaltsangabe

Bertram Voss, der von seinem Vater, einem Blut-und-Boden-Dichter, indoktriniert wurde, schließt sich als Germanistik-Student in Berlin der APO an. In seiner WG freundet er sich mit Dagmar an. Als er sie seinen Eltern vorstellt, ist sie bereits schwanger. Bald nach der Geburt des Kindes schließt sie sich Rolf Schröder an, der radikaler und skrupelloser ist als Bertram. Die beiden gehen in den Untergrund und organisieren Bombenanschläge ...
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Kritik

In seiner Verfilmung des Romans "Die Reise" von Bernward Vesper erzählt Markus Imhoof zwei sich spiegelnde Vater-Sohn-Geschichten parallel. Das gelungene Politdrama ist differenziert, nachdenklich, packend und spannend.
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Als das NS-Regime zusammenbricht, lässt der Blut-und-Boden-Dichter Voss (Will Quadflieg) seinen Sohn Bertram (Gero Preen) und seine Tochter Ulrike taufen. Kurz darauf stehen US-Soldaten in der Tür. Sie requirieren die Villa und geben der Familie und dem Personal zwei Stunden Zeit, ihre Sachen zu packen und das Anwesen zu verlassen.

In der Schule werden Bertram Voss und seine Klassenkameraden vom Lehrer aufgefordert, Voss‘ Gedichte aus dem Lesebuch zu reißen. Bertram muss die entfernten Seiten einsammeln und als Toilettenpapier aufhängen. Die Seiten aus seinem eigenen Buch kann er gerade noch unter dem Pullover verstecken. – Als seine Mutter (Christa Berndl) das Buch mit den herausgetrennten und wieder eingelegten Seiten entdeckt, informiert sie ihren Mann darüber und der verlangt von seinem Sohn, dass er die Seiten wieder einklebt und sich für den Frevel entschuldigt. Bertram versucht nicht, sich zu verteidigen, aber er weigert sich auch, seinen Vater um Verzeihung zu bitten. Deshalb ordnet Voss an, dass nicht mehr mit dem Jungen gesprochen wird. Bei Tisch tun die Eltern und die Schwester einige Wochen so, als sei Bertram gar nicht anwesend. Anordnungen des Vaters werden ihm von Dienstpersonal mitgeteilt.

Voss wurde durch den Zusammenbruch des NS-Regimes nicht geläutert. Er pflegt seine antisemitischen, ausländerfeindlichen, von der Blut-und-Boden-Ideologie geprägten Überzeugungen auch weiterhin. Als in der Straße, in der die Familie seit ihrer Ausquartierung aus der Villa in einer Mietwohnung lebt, Jazz zu hören ist, fordert Voss seinen Sohn auf, das Grammofon ins Fenster zu stellen und legt eine Platte mit dröhnender Chormusik aus der Oper „Die Meistersinger“ von Richard Wagner auf.

Voss versucht, aus seinem Sohn einen aufrechten, harten und unerschrockenen Deutschen zu machen. Einmal dressiert er ihn sogar zusammen mit einem Pferd. Und als Voss von seiner Frau erfährt, dass Bertram heimlich ein Kätzchen hat, erschießt er das Tier kurzerhand.

Erst während des Germanistik-Studiums in Berlin distanziert sich Bertram Voss (ab jetzt: Markus Boysen) von dem Gedankengut seines Vaters. Er zieht in eine WG und verliebt sich in seine Mitbewohnerin Dagmar (Corinna Kirchhoff). Als er sie Weihnachten seinen Eltern vorstellt, ist sie ist bereits schwanger. Das Zimmer mit dem Christbaum ist ungeheizt, und die Atmosphäre ist frostig. Als Bertram seinen Vater mit den Gräueln des Vietnam-Kriegs konfrontiert und dieser alles als Erfindungen von Journalisten abtut, geraten sie in einen heftigen Streit, in dessen Verlauf Bertram gesteht, dass er als Kind immer wieder den Löffel seines Vaters heimlich vor dem Essen ableckte, um sich an ihm zu rächen. Da wirft Voss ihn hinaus und schreit ihm nach, er verbiete ihm, an seinem Begräbnis teilzunehmen.

Während Dagmar mit ihrem Säugling Florian in der WG bleibt, beteiligen sich die anderen Bewohner an einer Demonstration gegen den Vietnam-Krieg. Bertram Voss und Rolf Schröder (Claude-Oliver Rudolph) werden zusammen mit anderen Demonstranten vorübergehend festgenommen. Dagmar hört in den Fernsehnachrichten, dass ein Polizist den Studenten Benno Ohnesorg aus nächster Nähe erschoss. Die Polizei, die eine Randale im Gefängnis vermeiden will, erzählt den Festgenommen stattdessen, ein Polizist sei von einem Demonstranten erstochen worden. Erst nach ihrer Rückkehr in die WG erfahren Bertram und Rolf, was wirklich geschah. Aus Zorn über den Tod des Demonstranten und die Lüge setzen Rolf, Dagmar und Bertram Stallungen in Brand, in denen Polizeipferde stehen. Die Flammen lodern bereits, da befreit Bertram die Tiere, obwohl er sich damit selbst in Gefahr bringt.

Dagmar verliebt sich in Rolf Schröder, der radikaler und skrupelloser ist als Bertram und im Kampf gegen das System lieber handelt als argumentiert. Sie folgt ihm in den Untergrund.

Bomben explodieren in Frankfurt am Main, Augsburg, München, Karlsruhe, Hamburg und Heidelberg. Vier Menschen sterben, zahlreiche werden verletzt. Erstmals werden nicht nur Sachen zerstört, um gegen die politischen Verhältnisse zu demonstrieren, sondern absichtlich Menschen getötet.

Bertram macht die Eskalation der Gewalt nicht mit.

Als er herausfindet, dass Dagmar und Rolf in Sizilien neue Anschläge vorbereiten und sein inzwischen fünf Jahre alter Sohn Florian (Alexander Mehner) mit anderen Kindern von Terroristen zusammen in ein Lager der Palästinenser gebracht werden soll, um dort mit einer neuen Identität aufzuwachsen, fährt er nach Italien. Die Kinder tollen am Strand herum. Ein Hippie-Paar soll auf sie aufpassen. Bertram entführt seinen Sohn und fährt mit ihm über Rom nach Deutschland zurück. Auf der Reise erzählt er Florian, was er als Kind mit seinem Vater durchmachte.

Er findet schließlich auch Dagmar. Sie fragt nicht einmal, wie es Florian geht und wirft ihn hinaus.

Während die Terroristen Bertram als Spitzel verdächtigen, hält ihn die Polizei für einen der Drahtzieher der Untergrundorganisation.

Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.

Bertram sucht mit Florian Zuflucht in der heruntergekommenen, leer stehenden Villa seiner längst gestorbenen Eltern. Er kocht mit Florian, bringt den Jungen abends ins Bett und erzählt ihm vor dem Einschlafen noch eine Geschichte. Währenddessen umstellen Polizeieinheiten das Gebäude. Dann kreist ein Polizeihubschrauber über dem Dach. Über ein Megafon wird Bertram aufgefordert, sich bis auf die Unterhose auszuziehen und mit erhobenen Händen herauszukommen. Er lässt sich widerstandslos festnehmen. Florian, der von einem Polizisten herausgetragen wird, wehrt sich und beißt den Beamten in die Hand.

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Das Politdrama „Die Reise“ basiert auf dem gleichnamigen, 1977 posthum veröffentlichten Romanfragment von Bernward Vesper. Klugerweise hat Markus Imhoof nicht versucht, alle Aspekte der literarischen Vorlage abzudecken, sondern sich auf einen Handlungsstrang beschränkt. Er zeigt, wie Bertram durch das Engagement in der APO zugleich gegen seinen Vater rebelliert, einen ewig gestrigen Nazi-Dichter. Doch als es nicht bei Gewalt gegen Sachen bleibt, macht Bertram die Eskalation zum Terrorismus (der RAF) nicht mit. Und weil die Mutter seines kleinen Sohnes Florian, die mit ihrem neuen Geliebten Rolf Schröder in den Untergrund abgetaucht ist, sich nicht um das Kind kümmert, sondern es in ein Palästinenserlager bringen lassen will, entführt er den Jungen.

„Die Reise“ beginnt mit der Entführung Florians in Sizilien. Während Bertram mit seinem Sohn nach Norden fährt und am Ende mit ihm Zuflucht im verwahrlosten Elternhaus sucht, erinnert er sich an seine eigene Kindheit und Jugend. Die Rahmenhandlung (die Reise im landläufigen Sinn) entwickelt sich chronologisch, die Rückblenden in die Vergangenheit (die Reise im übertragenen Sinn) folgen dagegen assoziativ aufeinander.

Markus Imhoof erzählt zwei sich spiegelnde Vater-Sohn-Geschichten parallel: Die des Blut-und-Boden-Dichters und seines Sohnes Bertram und die Bertrams und seines Sohnes Florian. An diesen Beispielen veranschaulicht „Die Reise“ die Situation der Achtundsechziger: Statt sich an den Eltern orientieren zu können, fragen die jungen Männer und Frauen nach deren Haltung zum NS-Regime, und sie wollen im Fall neuer politischer Verbrechen – wozu sie den Vietnam-Krieg zählen – auf keinen Fall wieder wegschauen wie die Generation vor ihnen. Aus der Rebellion gegen die Eltern entwickeln sich eine Studentenrevolte und die APO. Als der Eindruck entsteht, dass sich mit Demonstrationen nichts verändern lässt, radikalisiert sich ein Teil der APO, geht in den Untergrund und versteht sich als „Stadtguerilla“.

Unschwer lassen sich Parallelen von „Die Reise“ zur Wirklichkeit ziehen: Vater Voss – Will Vesper (1882 – 1962), Bertram Voss – Bernward Vesper (1938 – 1971), Dagmar – Gudrun Ensslin (1940 – 1977), Rolf Schröder – Andreas Baader (1943 – 1977), Florian – Felix Robert Ensslin (* 1967), Terroristen – RAF. Die Entführung Florians erinnert an die Entführung der Zwillingstöchter von Ulrike Meinhof durch Stefan Aust („Der Baader-Meinhof-Komplex“) aus Sizilien.

„Die Reise“ ist ein differenzierter und nachdenklicher, zugleich packender und spannender Film mit einem überzeugenden Drehbuch, einer gelungenen Dramaturgie und glaubwürdigen Darstellern.

Bei dem klassischen Musikthema, das mehrmals zu hören ist, handelt es sich um einige Takte aus der Sinfonie Nr. 1 in D-Dur („Titan“) von Gustav Mahler. Die im Film zu sehenden Filmausschnitte stammen aus „Max, der Taschendieb“ (1962, Regie: Imo Moszkowicz, Hauptrolle: Heinz Rühmann) und „De Oppresso Liber“ (1968, Regie: Carlos Bustamante).

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2008

Bernward Vesper (Kurzbiografie)
Gudrun Ensslin (Kurzbiografie)
Andreas Baader (Kurzbiografie)

Leopold Tyrmand - Filip
In dem autofiktionalen Hotel- und Schelmenroman "Filip" verarbeitet Leopold Tyrmand seine Erlebnisse als Fremdarbeiter 1942/43 im Rhein-Main-Gebiet. Er  fügt retardierende Reflexionen ein, fesselt aber v. a. mit lebendigen Szenen, einer Fülle origineller Einfälle und einer genauen Beobachtung des widersprüchlichen Handelns der Menschen nicht nur in schweren Zeiten.
Filip