Cynan Jones : Alles, was ich am Strand gefunden habe

Alles, was ich am Strand gefunden habe
Originalausgabe: Everything I Found on the Beach Parthian Books, Cardigan 2011 Alles, was ich am Strand gefunden habe Übersetzung: Peter Torberg Liebeskind Verlagsbuchhandlung, München 2017 ISBN: 978-3-95438-074-9, 240 Seiten ISBN: 978-3-95438-077-0 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der Fischer und Jäger Hold lässt Tiere nicht unnötig leiden und denkt bei seinem Handeln weniger an sich als an andere. Dem auf einem kleinen Bauernhof in Polen aufgewachsenen Arbeitsmigranten Grzegorz macht der industrielle Schichtbetrieb im Schlachthof schwer zu schaffen. Berge von Fleisch, das man in Polen essen würde, gelten hier als Müll. Dem irischen Verbrecher Stringer fehlt dagegen jeder Respekt vor dem Leben, und er handelt nur im Eigeninteresse ...
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Kritik

"Alles, was ich am Strand gefunden habe" lässt sich als düsterer und spannender Kriminalroman lesen, aber es geht um mehr. Cynan Jones spürt den Beweg­gründen der Roman­figuren intensiv nach und inszeniert einpräg­same Bilder. Geschickt führt er die Handlungs­stränge zusammen.
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Grzegorz

Den kleinen von den Großeltern gegründeten und von den Eltern geerbten Bauernhof in Polen musste Grzegorz Przybylski aufgeben. Die Erträge reichten nicht, um die Familie zu ernähren.

Die Regierung versuchte die Bauernhöfe zur Kooperation zu zwingen, versuchte sie zusammenzulegen, zu größeren, konkurrenzfähigeren Einheiten, die dann EU-Gelder beantragen konnten. Doch die Betroffenen verhedderten sich im Dickicht all der Richtlinien. Und dann kamen die Ausländer und kauften für einen Apfel und ein Ei riesige Landstriche auf und verwandelten sie in Urlaubsressorts oder Golfplätze.

In der Hoffnung auf ein besseres Leben zog Grzegorz vor einem Jahr mit Ana und dem kleinen Sohn nach Großbritannien. Eine Vermittlungsagentur brachte sie in einer Notunterkunft in Wales unter. Obwohl sie sich den Schlafsaal mit anderen Arbeitsmigranten teilen müssen und es keine Privatsphäre gibt, haben sie ein zweites Kind gezeugt. Inzwischen bereuen sie es, weil sie keine Zukunfts­perspektive erkennen.

An die Fassade der Notunterkunft hat jemand „Polen raus!“ gesprüht.

Grzegorz schuftet in Doppelschichten in einem Schlachthof. Aber es ist nicht abzusehen, wann er mit Ana und den beiden Kindern die Miete für eine eigene Wohnung aufbringen kann. Weil die Schlachter zwischendurch für drei Wochen entlassen wurden, kann Grzegorz auch keine staatliche Beihilfe beantragen, denn dafür müsste er eine ununterbrochene Beschäftigungsdauer von mindestens zwölf Monaten vorweisen.

Der industrielle Betrieb im Schlachthof macht Grzegorz schwer zu schaffen. Wehmütig erinnert er sich an die Gerüche auf dem Bauernhof, „an die vertraute Atmosphäre, an die vom Atem der Kühe dampfige Luft im Stall am frühen Morgen. An das gemächliche Tempo.“

Sie [die Kühe] trotteten gehorsam und ahnungslos weiter, mit der ruhigen Selbstverständlichkeit großer, schwerer Tiere, und eins nach dem anderen traten sie in den Tötungspferch.
Das metallene Absperrgitter fuhr knirschend nach oben, die Kuh ging hinein, dann fiel es scheppernd zu, und das Tier, das sich in dem kleinen Pferch nicht rühren konnte, blieb ruhig stehen. Die erste Metallplatte fuhr von unten an die Nase des Tieres, das sich zu setzen und zusammenzusinken schien, so als habe es beschlossen, für eine Weile auszuruhen. Dann hob sich die zweite Platte an die Brust des Rindes, das Tier zuckte für ein paar Sekunden und war dann still.
Es war dieser merkwürdige, distanzierte elektrische Vorgang, an den sich Grzegorz nicht gewöhnen konnte, diese Passivität des Ganzen. Dann glitt die Seitentür des Pferchs auf, das Tier fiel auf die Seite und landete auf dem Arbeitstisch vor ihm.

Die Menge an Schlachtabfällen war nur schwer zu ertragen. Grzegorz dachte wehmütig daran, wie entsetzt seine Großeltern wohl gewesen wären über die Verschwendung, die hier herrschte, über all das gute Fleisch, das hier weggeworfen wurde. Er dachte an die Füße, die Mäuler der Rinder, all die langsam köchelnden Speisen seiner Kindheit, als man diese besten Teile der Tiere kaufen konnte. Und er sah hier all die verschmähten Innereien, die in Körbe geworfen und mit Farbe übergossen wurde, obwohl man sie hätte essen können.

Grzegorz wird dabei erwischt, wie er für den Müll bestimmte Fleischreste mit nach Hause nimmt. Er wird zwar nicht entlassen, darf aber zur Strafe zunächst nur noch eine halbe Schicht im Schlachthof arbeiten und bekommt entsprechend weniger Lohn. Um den Ausfall auszugleichen, verdingt er sich als Muschelstecher am Strand.

Ohne es zu ahnen, arbeitet er dabei für den Drogenhändler Scouser in Liverpool, der zum Waschen der illegalen Gelder ein Restaurant betreibt, Mädchen bezahlt, die sich vor einer Webcam ausziehen und die Muschelstecher beobachtet, um geeignete Drogenkuriere zu rekrutieren.

10 000 Pfund Sterling bietet er Grzegorz für die Beteiligung an einer Einbringung vom Flugzeug über dem Meer vor der walisischen Küste abgeworfener Drogenpakete. Obwohl der Pole weiß, dass er damit ein erhebliches Risiko eingeht, mag er diese Chance nicht zurückweisen. Mit dem Geld könnten er und die Familie endlich ein neues Leben anfangen.

Hold

Hold und sein Freund Danny hatten in einer Fischfabrik gearbeitet. Als Danny sich in der Schockgefrierkammer einen Spaß erlaubte und alle lachten, wurde ein Vorarbeiter darauf aufmerksam. Auf die Frage, wessen Idee es gewesen sei, meldete sich Hold – und wurde deshalb entlassen. Aber es war wichtig, dass Danny seinen Arbeitsplatz behielt, denn er musste Frau und Kind ernähren, während Hold allein war.

Danach leistete Hold zwei Jahre lang Schichtarbeit in einer Käserei, aber das war ihm zu monoton.

Danny starb vor drei Jahren und ließ Cara und den Sohn Jake mittellos zurück.

Danny hatte nie daran gedacht, dass etwas schiefgehen oder es sogar zum Schlimmsten kommen könnte. Und wenn, dann steckte er einfach den Kopf in den Sand. Es gehörte zu seinem einnehmenden Wesen, aber es funktionierte nur, weil Hold zum Ausgleich die Verantwortung übernahm.

Hold verkaufte sein Boot, um Cara und Jake finanziell beistehen zu können. Er gab seine Einzimmerwohnung auf und zog in einen Wohnwagen. Weil er von einem eigenen Boot nur noch träumen kann, arbeitet er als Fischer für einen Bootsbesitzer.

Er bekam einen prozentualen Anteil aus dem Fischverkauf und einen festen Betrag für jede Ausfahrt. Der Bootsbesitzer bestritt alle Kosten und kümmerte sich um die Fanglizenz.

Nebenbei geht Hold zur Jagd, aber nicht aus Freude am Töten, sondern nur, um beispielsweise einem Restaurant-Betreiber Wildkaninchen verkaufen zu können. Unnötig quält Hold kein Tier, denn er hat großen Respekt vor der Natur.

Das Messer, das Hold von Danny geschenkt bekam, will er später Jake anvertrauen. Er beabsichtigt auch, das seinem sterbenden Freund gegebene Versprechen zu halten und das von Dannys Großeltern errichtete Wohnhaus für Jake zu bewahren. Deshalb hat er all sein Geld für Baumaterial ausgegeben und mit der Sanierung des heruntergekommenen Hauses angefangen. Aber nun lässt Dannys Schwester sich scheiden und beansprucht ihren Teil des Erbes. Wo sollen Cara oder Hold das Geld hernehmen, um sie auszuzahlen?

Wenigstens solange er sein Versprechen nicht erfüllen kann, verbietet sich Hold jeden Gedanken an eine Liebesbeziehung mit Cara. Sie spürt das und bedauert es.

Er verbot sich weitere Gedanken. Er hatte oft Fantasien wegen ihr gehabt, als Danny noch lebte, aber nach seinem Tod hatte er sie unterdrückt, als wäre das jetzt ein größerer Treuebruch.

Hold und Grzegorz

In einem an den Strand getriebenen Schlauchboot findet Hold die Leiche eines Mannes. Der Tote hat keine Papiere bei sich, aber ein Handy und drei Päckchen mit weißem Pulver, vermutlich Kokain. Ist das die Chance, auf die Hold gewartet hat? Er nimmt das Handy und die Drogen an sich, startet den Motor des Schlauchbootes und schickt es samt der Leiche aufs Meer zurück.

Das Kokain versteckt er in den ausgenommenen Körpern von drei Wildkaninchen, die er in der Nacht erlegte. Er erkundigt sich nach Drogenpreisen und schätzt dann den Marktwert des Kilogramms Kokain in seinem Besitz auf 40 000 Pfund. Das wäre mehr als genug, um das Haus für Jake zu erhalten.

Wer der Tote ist, weiß Hold nicht. Es handelt sich um Grzegorz. Ohne seine Frau Ana einzuweihen, verdingte er sich als Drogenkurier. Er und einige andere Männer fuhren nachts auf einem Trawler aufs Meer hinaus. Ein Flugzeug warf ein wasserdicht verpacktes Paket ab. Scousers Leute bargen es und teilten das Kokain in kleinere Portionen auf. Dann wurden acht Schlauchboote aufgeblasen und mit Motoren bestückt. Aufgabe der acht Kuriere war es, die ihnen zugeteilten Päckchen an verschiedene Strände zu befördern. Voreingestellte elektronische Kompasse gaben die Richtungen vor.

Grzegorz‘ Kompass fiel jedoch nach einiger Zeit aus, und er verlor in der Dunkelheit die Orientierung. Für sein Handy gab es auf dem Meer kein Netz.

Stringer

Über das erbeutete Handy nimmt Hold Kontakt mit dem Drogenring auf. Scouser in Liverpool beauftragt Declan Stringer in Dublin, die Sache zu regeln.

„Soll es unauffällig vonstatten gehen?“, fragte Stringer.
„Nein. Es soll eine Botschaft sein.“
„Wie deutlich?“
„Sehr deutlich?“
Stringer verstand.

Der Ire Declan Stringer zuckt nicht vor Gewalt zurück. Einem Gegner lauerte er in einer Dampfsauna auf und drückte ihm das Gesicht in die glühenden Kohlen. Er erinnert sich an den Geruch des verbrannten Fleisches und wundert sich noch immer über die Kraft, die erforderlich war, um den Kopf von den Kohlen loszubekommen. Er saß sieben Jahre lang im Gefängnis, im Mountjoy Prison und in Portlaoise. Währenddessen bauten seine Komplizen ihr Drogengeschäft in Dublin aus. Stringer ist verbittert, weil er glaubt, zu kurz gekommen zu sein. Aber er hält sich für intelligent und ist überzeugt, dass er seinen Weg machen wird.

„Ich verdiene eine Chance, was aus mir zu machen.“


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Hold, Stringer und der Große

Bevor Hold sich mit seinem Lieferwagen auf den Weg nach Ucheldre auf Holy Island macht, wo die Übergabe stattfinden soll, packt er alles, was ihm wichtig ist, in einen Karton und deponiert ihn unbemerkt in Dannys Schuppen, während Cara bei der Arbeit ist.

Fast zur gleichen Zeit holt Declan Stringer seinen debilen Kumpan Galen Gleeson bei dessen Mutter in Dublin ab und fährt mit ihm zum Fährhafen. Stringer nennt ihn nur „der Große“. Bei der Überfahrt nach Ucheldre wird der Große, der viel zu viel gegessen hat, seekrank.

Am Telefon erfährt Hold, dass er gerade einmal 7000 Pfund für das Kokain bekommen soll. Das ist viel zu wenig, um Dannys Schwester auszuzahlen. Damit würde sich nichts grundlegend ändern. Er beschließt, umzukehren und das Kokain zu verstecken. Dann wäre alles wie zuvor.

Dieses Geld ändert ja nichts, es reicht nicht. Nur ich weiß von dem Zeug hier, und wenn ich es irgendwo wegsperre, wo es niemand finden kann, dann gibt es keinen Grund, warum nicht alles beim Alten bleiben kann.

Aber die Verbrecher haben damit gedroht, den Hinterbliebenen des toten Kuriers etwas anzutun. Hold nimmt sich deshalb vor, die Sache zu Ende zu bringen.

Er beobachtet, wie die Fähre aus Irland entladen wird.

Stringer und der Große werden von einem als Taxifahrer getarnten Komplizen abgeholt. Beim Losfahren fällt Stringer ein Kerl an der Kirchenmauer auf, der das Treiben vor der Fähre beobachtet.

Die Kühlbeutel sind längst aufgetaut, und die Kaninchen haben angefangen zu stinken. Hold nimmt die Kokain-Päckchen heraus, säubert sie, legt sie in eine Einkaufstüte und wirft die Kadaver weg. Er wickelt Dannys Messer in Papiertaschentücher, schiebt es in eine an Jake adressierte Versandtasche und gibt das Päckchen am nächsten Briefkasten auf. Cara wird es verstehen, meint er, auch ohne Brief.

An der vereinbarten Stelle am Strand trifft er auf Stringer. Der gibt ihm einen Umschlag mit Banknoten für die Kokain-Päckchen, dreht sich um und geht weg. Hold beschließt, die Adresse der Frau herauszufinden, deren Bild er auf dem Handy des Toten sah, und ihr das Geld zu schicken. Er will es nicht haben, und für Cara und Jake würde es nichts ändern.

Im nächsten Augenblick wird er von dem Großen aus dem Hinterhalt erschossen.

Stringer kommt zurück und nimmt dem Großen die Waffe ab.

Der Taxifahrer bringt sie zum Fährhafen.

Scouser beauftragte Stringer, dafür zu sorgen, dass die Leiche aufs Meer hinausgetrieben und mit dem Kokain gefunden wird, um ein Zeichen zu setzen.

„Lasst den Stoff da. Macht deutlich, dass die Tat mit Drogen zu tun hat, verbreitet ein wenig Unruhe …“

Stringer hat die Päckchen jedoch bei sich. Er muss nur vorsichtig sein, wenn er das Kokain verhökert.

Der Große liegt seekrank auf einer Bank an Deck der Fähre. Nachdem Stringer sich umgesehen hat und sicher ist, dass es keine Zeugen gibt, ruft er den Großen an die Reling und umklammert den Hals einer Flasche. Er wird fest zuschlagen müssen.

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„Alles, was ich am Strand gefunden habe“ lässt sich als düsterer und spannender Kriminalroman lesen, aber dem walisischen Schriftsteller Cynan Jones (* 1975) geht es um mehr. Er lässt uns Elend und Ausweglosigkeit nachempfinden. Im Mittelpunkt stehen die Tragödien von drei Menschen, die sich dringend eine Wende in ihrem trostlosen Leben erhoffen. Bemerkenswert sind dabei auch die Unterschiede zwischen ihnen: Der Fischer und Jäger Hold lässt Tiere nicht unnötig leiden und denkt bei seinem Handeln weniger an sich als an andere. Dem auf einem kleinen Bauernhof in Polen aufgewachsenen Arbeitsmigranten Grzegorz macht der industrielle Schichtbetrieb im Schlachthof schwer zu schaffen. Berge von Fleisch, das man in Polen essen würde, gelten hier als Müll. Dem irischen Verbrecher Stringer fehlt dagegen jeder Respekt vor dem Leben, und er handelt nur im Eigeninteresse.

Für all das hat Cynan Jones in „Alles, was ich am Strand gefunden habe“ einprägsame Bilder gefunden. Wenn er beispielsweise inszeniert, wie ein Sperber eine unvorsichtig aus einer Baumkrone geflogene Taube im Flug zerfetzt, ist das schon hyperrealistisch.

Cynan Jones spürt den Beweggründen aller Romanfiguren intensiv nach und leuchtet vor allem Holds Charakter tief aus. Dazu versetzt er sich in ihre Lage und lässt uns in Form innerer Monologe, Erinnerungen und Vorstellungen daran teilhaben.

Die Handlungsstränge in „Alles, was ich am Strand gefunden habe“ werden zunächst parallel geführt, und Cynan Jones wechselt immer wieder hin und her. Dann kreuzen sich die Wege von zwei Figuren, und auch die beiden anderen Handlungsstränge laufen aufeinander zu.

Cynan Jones‘ Sprache ist lakonisch, die Sätze sind einfach. Das passt zu den Figuren.

Fazit: „Alles, was ich am Strand gefunden habe“ ist ein ebenso außergewöhnlicher wie überzeugender Roman.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2017
Textauszüge: © Liebeskind Verlagsbuchhandlung

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