Imre Kertész : Liquidation

Liquidation
Felszámolás Magvetö, Budapest 2003 Liquidation Übersetzung: Laszlo Kornitzer und Ingrid Krüger Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 2003 ISBN 3-518-41493-3, 142 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Im Frühling 1999 sucht ein im Innersten verunsicherter ungarischer Lektor nach einem Romanmanuskript eines Autors, der sich 1990 das Leben nahm. Er weiß nichts über das Manuskript, ist jedoch überzeugt, dass es geschrieben wurde und erhofft sich von der Lektüre Orientierung für sein eigenes Leben.
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Kritik

"Liquidation" ist ein kluger, kunstvoller Roman von Imre Kertész über die Verstörung durch den eigentlich unbegreiflichen Holocaust.
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Der Lektor

Budapest, Frühling 1999. Keserü, ein Lektor Mitte fünfzig, beobachtet nahezu obsessiv einige Obdachlose.

Keserü argwöhnte, dass hinter dieser merkwürdigen Leidenschaft irgendein erklärbarer Sinn steckte. Ja, er hatte das Gefühl, wenn es ihm gelänge, diesen Sinn zu begreifen, würde er auch sein Leben besser begreifen, das er neuerdings nicht mehr begriff. Er hatte das Gefühl, als würden ihn von der einst fast greifbaren Konstante, als die er seine eigene Person gekannt hatte, neuerdings Abgründe trennen. (Seite 11f)

Er blättert im Manuskript eines Bühnenstücks: „Liquidation. Komödie in drei Akten“. Es stammt von B., einem jüdischen Autor, der 1990 mit einer Überdosis Morphium aus dem Leben schied. Die Handlung spielt 1990 in Budapest. Sie beginnt in einem „trostlosen Lektoratszimmer in einem trostlosen Verlag“. Da sitzen Dr. phil. Obláth, Kürti und dessen Ehefrau Sára. Sie warten auf Keserü. Der kommt aus einer Lektoratssitzung, in der er die Herausgabe von B.’s vorschlagen wollte. Doch ausgerechnet an diesem Tag wurde bekanntgegeben, dass der Verlag mit Verlust arbeitete. Da sagte er lieber nichts.

Weil Keserü das Manuskript eines hohen Tiers aus der Nomenklatura abgelehnt hatte, war er wegen staatsfeindlicher Agitation sowie der Beteiligung an Herstellung und Vertrieb illegaler Zeitschriften verhaftet worden. Er kam zwar bereits nach zehn Tagen wieder frei, aber seine Frau, die eine demütigende Hausdurchsuchung über sich hatte ergehen lassen müssen, wollte keinen Umstürzler als Mann und verließ ihn deshalb zusammen mit ihrem zweijährigen Kind.

B. kannte er schon vorher, aber erst nach diesem Zwischenfall lektorierte er B.’s Übersetzungen französischer, englischer und deutscher Werke. „Das Lebensprinzip ist das Böse“, lautete B.’s Grundthese. An anderer Stelle behauptete er: „Rebellion ist AM LEBEN BLEIBEN.“

Irgendwann erzählte ihm B. von seiner Herkunft. Seine Mutter war im vierten Monat schwanger gewesen, als sie nach Auschwitz gebracht worden war. Durch die Hilfe von Lagerärzten und einer Lagerältesten gelang es ihr, das Kind auszutragen. Im Dezember 1944 kam sie mit B. nieder, in einer Krankenbaracke in Birkenau. Da die Ärmchen des Neugeborenen zu klein waren, wurde ihm die Lagernummer auf einen Oberschenkel tätowiert. Was aus seiner Mutter geworden war, wusste B. nicht; er selbst überlebte wie durch ein Wunder den Holocaust.

Suizid

Eines Morgens im Jahr 1990 rief Sára bei Keserü an. Sie war damals Mitte vierzig, etwa so alt wie Keserü. Aufgeregt bat sie Keserü, ihr beizustehen. Sie war bei B. in der Wohnung. B. hatte sich das Leben genommen. Keserü fuhr sofort hin. Sára gestand ihm, ein Verhältnis mit B. gehabt zu haben. An diesem Morgen waren sie zum Frühstück verabredet gewesen. Mit ihrem Wohnungsschlüssel hatte sie aufgesperrt und ihn dann tot im Bett liegend vorgefunden. Auf dem Tisch lag ein lapidarer Abschiedsbrief: „Seid mir nicht böse! Gute Nacht!“ (Erst später erfuhr Keserü, dass B. Sára einen langen persönlichen Abschiedsbrief hinterlassen hatte.) Damit Kürti nichts von der Untreue seiner Frau erfuhr, überließ diese den Schlüssel zu B.’s Wohnung Keserü. Der steckte erst einmal die Manuskripte, die ihm interessant zu sein schienen, in seine Aktentasche, bevor er die Polizei rief.

So kam er auch in den Besitz des Bühnenstücks „Liquidation“, in dem B. mit verblüffender Klarsichtigkeit voraussah, was Keserü, Obláth, Kürti und Sára nach seinem Tod erlebten: Zerwürfnisse, Krisen, Identitätsverlust. Nun, neun Jahre später, endete die Geschichte. Aber Keserü lebt weiter. Das ist ein Problem. Obsessiv sucht Keserü nach einem Romanmanuskript, von dem er überzeugt ist, dass B. es vor seinem Selbstmord geschrieben haben muss.

Es wäre lebenswichtig für mich, diesen Roman zu lesen, denn aus ihm könnte ich vermutlich erfahren, warum B. gestorben ist, vielleicht aber auch, ob es mir, wenn er gestorben ist, noch erlaubt ist zu leben. (Seite 47)

Die Suche

Keserü vermutet, dass B. das gesuchte Manuskript Judit anvertraute, obwohl er zum Zeitpunkt seines Suizids bereits seit fünf Jahren von ihr geschieden war. Judit, die damals ein Verhältnis mit Keserü hatte, arbeitet nach wie vor als Dermatologin in der Poliklinik. Sie hat inzwischen wieder geheiratet, einen Architekten namens Ádám. Keserü ruft sie so oft an, bis sie bereit ist, sich mit ihm zu treffen. Im Gespräch erfährt er, dass B. mit Hilfe Judits regelmäßig während der Sprechstunden Morphium aus dem Medikamentenschrank im Krankenhaus gestohlen hatte. Um am Ende die tödliche Menge anzusammeln, muss er für eine Weile auf die Injektion der Droge verzichtet haben, obwohl dazu eine enorme Selbstdisziplin erforderlich gewesen war. Von einem hinterlassenen Manuskript weiß Judit angeblich nichts. Aber Keserü lässt nicht locker. Er sagt zu ihr:

Was wäre ein Lektor ohne Glauben, ohne geistige Aufgabe? In einer zensurierten, bösen, analphabetischen Welt? Nichts und niemand. Ein Hausaufgaben verbessernder Sklave, ein starblinder Korrektor. Doch ich glaube an die Literatur. An nichts sonst, einzig und allein an die Literatur. Die Menschen leben wie die Würmer, aber sie schreiben wie die Götter. Einst war es ein bekanntes Geheimnis, heute ist es in Vergessenheit geraten: Die Welt besteht aus Scherben, die auseinanderfallen, sie ist ein dunkles, zusammenhangloses Chaos, allein vom Schreiben zusammengehalten. (Seite 107)

Nach dem vergeblichen Gespräch mit Judit sucht Keserü ihren Mann auf. Ádám wusste natürlich, dass Judit mit B. verheiratet gewesen war, aber von ihrem Verhältnis mit Keserü ahnte er nichts. Alarmiert fragt er sie nach ihrer „Vergangenheit“ aus – und zerstört damit seine eigene Liebesbeziehung mit Judit. Sie erzählt ihm, wie B. sich immer mehr von der Welt zurückzog, nur noch schrieb und auch sie vernachlässigte. Einmal rannte sie weinend aus dem Haus, versuchte mühsam das Schluchzen zu unterdrücken, bis sie bei Keserü war und sich in seiner Wohnung nicht mehr zu beherrschen brauchte. Nach einem Weinkrampf schlief sie mit ihm. Von Ádám auf das Manuskript angesprochen, gibt sie zu, dass es existierte. Aber sie hat B.’s letzten Wunsch erfüllt und es verbrannt. Wovon es gehandelt habe? Judit antwortet:

„Der Kampf zwischen einem Mann und einer Frau. Anfangs lieben sie sich, später will die Frau ein Kind von dem Mann, und das verzeiht er ihr nie. Er unterwirft die Frau verschiedenen Torturen, um ihr Vertrauen in die Welt zu erschüttern, es zu untergraben. Er treibt sie in eine schwere seelische Krise, fast schon bis zum Selbstmord, und als er sich dessen bewusst wird, begeht er selbst Selbstmord anstelle der Frau.“
Du schwiegst. Dann fragtest du, wieso der Mann die Frau bestrafe, nur weil sie ein Kind will.
„Weil sie das nicht wollen darf.“
„Warum nicht?“
„Wegen Auschwitz.“
(Seite 116f)

B. zitierte oft aus einem anderen Buch:

„Und auch die, die selbst dort gewesen sind, kennen Auschwitz nicht. Auschwitz ist ein anderer Planet, und wir, die Menschen, die den Planeten Erde bewohnen, besitzen keinen Schlüssel, um die aus dem Wort Auschwitz bestehende Chiffre zu entschlüsseln.“ (Seite 121f)

B. habe sich nie als Schriftsteller gesehen, erläutert Judit. Aber das Schreiben sei sein einziges Ausdrucksmittel gewesen.

Das wahre Ausdrucksmittel des Menschen aber, sagte er immer, sei sein Leben. Die Schmach des Lebens über uns ergehen lassen und schweigen: das sei die größte Leistung. (Seite 117)

Als Judit einmal zwei Plätze für eine Gruppenreise nach Florenz buchte, reagiere er entsetzt: In dieser Welt von Mördern könne er nirgendwohin reisen. Da sagte sie zu ihm:

„… meine Antwort steht fest, Bé. Sicherlich hast du Recht, sagte ich zu ihm, die Welt ist eine Welt von Mördern, aber ich will die Welt trotzdem nicht als eine Welt von Mördern sehen, ich will die Welt als einen Ort sehen, an dem man leben kann.“ (Seite 128)

Sie fuhr ohne ihn nach Florenz. Dabei lernte sie Ádám kennen.

Obwohl seine Frau versucht, es ihm zu erklären, kann Ádám nicht verstehen, was in B. und Judit vorgegangen ist.

„… was euch getrieben hat. Ihn, sein Büßerwerk zu schreiben, das er dann zusammen mit sich zum Tode verurteilt; und dich, das Urteil zu vollstrecken und damit eine Art mystische Vereinigung zu erleben, wenn ich das deinen Worten richtig entnehme.“ (Seite 133)

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„Liquidation“ handelt nicht so sehr vom Leben, sondern davon, wie man am Leben bleibt.“
(Franziska Augstein in der Literaturbeilage der „Süddeutschen Zeitung“ vom 6. Oktober 2003)

Wie in all seinen anderen Büchern auch, thematisiert Imre Kertész in „Liquidation“ den Holocaust. „Der Holocaust ist ein Zustand, der noch nicht zu Ende ist“, sagte er einmal. „Ich spüre ihn überall. Es gab bisher keine Katharsis. Den Holocaust kann man nicht verarbeiten.“ In „Liquidation“ geht es um die zweite Generation der Überlebenden, die „die ratlos mit dem schweren Erbe ringt“. In Osteuropa verstärkt der Zusammenbruch der zwangsstaatlichen Systeme 1999 die Orientierungslosigkeit.

Kertész beginnt den Roman mit Zitaten aus einem angeblich von B. bei dessen Suizid hinterlassenen und von dem Lektor Keserü geretteten Manuskript eines Theaterstücks, in dem B. minuziös dargestellt hat, was Keserü in den neun Jahren nach B.’s Tod erleben würde.Inzwischen ist das Theaterstück zu Ende. Keserü lebt jedoch weiter. Das verwirrt ihn. Er ist überzeugt, dass B. vor seinem Tod einen Roman geschrieben hat und sucht obsessiv nach dem Manuskript, weil er sich von der Lektüre neue Orientierung verspricht. Auf Seite 109 wechselt Imre Kertész für den Rest des Buches noch einmal die Perspektive und erzählt nicht mehr aus der Sicht des Lektors Keserü, sondern von B.’s geschiedener Frau Judit.

„Liquidation“ ist ein kluger, kunstvoller Roman über die Verstörung durch den eigentlich unbegreiflichen Holocaust.

Meine Existenz ist in jeder Hinsicht schrecklich, außer wenn ich schreibe: Also schreibe und schreibe ich, um meine Existenz ertragen zu können, um sie zu rechtfertigen.

2002 erhielt Imre Kertész den Nobelpreis für Literatur und wurde Ehrenbürger von Budapest.

2006 erschien im Rowohlt Verlag die deutsche Übersetzung des Romans „Doessier K. Eine Ermittlung“ von Imre Kertész.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2003
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag

Raphaela Edelbauer - Die Inkommensurablen
Raphaela Edelbauer umkreist die Mobilisierung und Manipulation der Massen. "Die Inkommensurablen" ist vor allem ein intellektueller Roman mit Diskursen über philosophische Fragen. Realistisch soll die Handlung wohl auch gar nicht sein.
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