Michael Köhlmeier : Das Mädchen mit dem Fingerhut

Das Mädchen mit dem Fingerhut
Das Mädchen mit dem Fingerhut Originalausgabe: Carl Hanser Verlag, München 2016 ISBN: 978-3-446-25055-0, 139 Seiten ISBN: 978-3-446-25192-2 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

In dem Roman "Das Mädchen mit dem Fingerhut" veranschaulicht Michael Köhlmeier den Überlebenskampf von elternlosen Flüchtlingskindern in Mitteleuropa. Ein sechsjähriges Mädchen, das seinen Namen nicht kennt, ist in einer Stadt gestrandet und versteht kein Wort der hier gesprochenen Sprache. Nachdem das Kind von der Polizei aufgegriffen und in ein Heim gebracht wurde, flüchtet es mit zwei Jungen. Gemeinsam versuchen sie sich durchzuschlagen ...
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Kritik

Mit schlichten Hauptsätzen imitiert Michael Köhlmeier in "Das Mädchen mit dem Fingerhut" die Auffassungs­gabe des Flüchtlingskindes und dessen Kommunikations­schwierig­keiten. Das bittere, ergreifende Großstadt­märchen spiegelt unsere Gesellschaft.
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Ein sechsjähriges Mädchen, das seinen Namen nicht kennt, steht neben einem Mann auf der Straße, den es „Onkel“ nennt. Die beiden sind jedoch vermutlich nicht miteinander verwandt. Früher wurde das Kind mitunter „Yiza“ gerufen. Es weiß zwar, dass das kein Name ist, aber wenn es jetzt nach seinem Namen gefragt wird, sagt es: Yiza. Jenseits der Straße ist ein Markt zu sehen. Die Händler haben gerade begonnen, ihre Stände aufzubauen. Yiza geht hin und stellt sich stumm in den geheizten Laden eines Händlers, den der Onkel ihr zeigte. Der Händler heiße Bogdan, sagte der Onkel, und werde ihr etwas zu essen und zu trinken geben.

Bogdan fragte, was sie wünsche. Sie antwortete nicht. Ob sie jemand geschickt habe, wer sie geschickt habe, ob sie jemanden suche, ob sie auf jemanden warte. Wie sie heiße. Wie er ihr helfen könne. Sie gab keine Antwort. Er ließ sie. Er holte Würste, Schinken, Käse und die Tiegel mit in Öl eingelegten Oliven, Artischocken, Zucchini und Melanzani aus dem Kühlraum und breitete die Sachen unter dem Glas der Theke aus. Sie tat, was der Onkel gesagt hatte. Nichts. Sie stand nur da. Bogdan schnitt Brot ab, belegte es mit Wurst und Käse, teilte es in Viertel. Er hob sie hoch und setzte sie auf einen der Barhocker an der Theke. Er schob den Teller vor sie hin, goss gelben Saft in ein Glas.

Als später der Fischhändler herüberkommt, rät er Bogdan, die Polizei einzuschalten. Yiza versteht zwar die Sprache der Leute nicht, aber der Onkel hatte ihr verschiedene Varianten des Wortes Polizei vorgesprochen und ihr eingeschärft, lauthals zu schreien, sobald es fällt. Das tut sie nun. Daraufhin erklärt Bogdan dem Fischhändler, er werde noch bis zum Abend warten und dann die „Hmhm“ rufen. Aber am Abend ist das Kind verschwunden.

Am vereinbarten Ort wartet der Onkel auf Yiza. Sie steigen zu anderen Männern in einen Kleinbus und fahren weg. Am nächsten Morgen stellt Yiza sich wieder in Bogdans Laden. Das wiederholt sich einige Tage lang – bis der Onkel ausbleibt. Yiza geht ziellos durch die Straßen und findet schließlich nicht mehr zum Markt zurück. Wegen der Winterkälte übernachtet sie in einem Müllcontainer.

Am nächsten Tag spürt Yiza die Wärme, die aus der Tür eines Cafés strömt, als ein Mann und eine Frau herauskommen. Daraufhin legt sie sich in den geheizten Vorraum. Als sie erwacht, kniet eine Polizistin neben ihr. Die trägt sie in einen Streifenwagen und bringt das kein Wort sprechende Kind in ein Heim.

Mitten in der Nacht wird Yiza von einem 14-Jährigen geweckt, der ihre Sprache beherrscht. Neben ihm steht noch ein kleiner Junge, der sich zwar mit dem größeren verständigen kann, aber in einer Yiza fremden Sprache. Später erfährt sie, dass die beiden Schamhan und Arian heißen. Die beiden haben beschlossen, aus dem Heim zu flüchten, und sie nehmen Yiza mit. Arian schenkt dem Mädchen einen Fingerhut aus Messing, der auf ihren verletzten, mit einem Pflaster umwickelten Daumen passt.

Nachdem die Kinder aus dem unvergitterten Fenster einer Abstellkammer geklettert sind, laufen sie durch einen Wald zu einer U-Bahn-Station. Schamhan schwärmt Yiza und Arian von einem Haus vor, dessen Bewohner die Wintermonate in Italien oder Spanien verbringen. Dahin will er Yiza und Arian bringen. Schamhan erklärt alles nacheinander in zwei Sprachen, damit sowohl Yiza als auch Arian ihn verstehen.

Es regnet ohne Unterlass, und die Kinder müssen erst einmal in einem Heustadel Unterschlupf suchen. Vor Kälte, Durst und Hunger weinen sie. Nach zwei Tagen und Nächten halten sie es nicht mehr aus. In einer Wohnsiedlung beobachten sie, wie ein Mann und eine Frau morgens ihr Haus verlassen, ins Auto steigen und wegfahren. Schamhan erklärt Yiza und Arian, dass bestimmt beide berufstätig seien und nicht vor dem Abend zurückkämen. Sie brechen ein. Ihre nasse Kleidung und Unterwäsche hängen sie über die warmen Heizkörper, und Schamhan stellt Yiza unter die heiße Dusche. Sie löschen ihren Durst und essen sich satt. Am Nachmittag ziehen sie ihre getrockneten Sachen wieder an und kehren in den Heuschober zurück.

Die Polizei braucht nur den Fußspuren im Schnee zu folgen. Die Kinder werden aufs Revier gebracht. Schamhan täuscht den Beamten vor, er bete, wendet sich jedoch in Wirklichkeit an Arian:

Schau mich nicht an, Arian. Und sag nichts. Hör mir zu. Wir müssen Yiza zurücklassen. Schau sie nicht an. Schau mich nicht an. Sie glauben, dass ich bete. Sie sollen nicht denken, dass ich mit dir rede. Yiza soll auch nicht denken, das ich mit dir rede.

Schamhan will mit Arian fliehen und Yiza nicht mitnehmen, weil sie nicht schnell genug rennen kann. Als gegen Mitternacht ein randalierender Betrunkener hereingebracht wird, hält Schamhan den Zeitpunkt für die Flucht gekommen und gibt Arian ein Zeichen.

„Wenn ich laufe, läufst du auch. Laufe in eine andere Richtung als ich.“

Schamhan springt auf. Arian bleibt sitzen. Aber bevor der 14-Jährige die Tür erreicht, muss er an dem Betrunkenen vorbei. Der schlägt ihn nieder, tritt nach dem am Boden Liegenden und wehrt die Polizisten ab, bis sie ihn mit einem Gummiknüppel außer Gefecht setzen. Niemand achtet auf Arian, der Yiza bei der Hand nimmt und mit ihr die Polizeistation verlässt.

Diesmal suchen sie auf der Ladefläche eines Lastwagens Schutz vor Kälte und Schnee. Während sie schlafen, fährt der LKW los. Schließlich wird er mit Paletten beladen, aber keiner der Arbeiter bemerkt die beiden unter Planen an der Wand zum Fahrerhaus verborgenen Kinder. Nach einer weiteren Fahrt werden die Paletten mit einem Gabelstapler entladen. Sobald niemand mehr da ist, springt Arian aus dem LKW und hebt dann Yiza herunter. Er kann zwar die Leuchtschrift an dem Gebäude nicht lesen, begreift aber, dass es sich um einen Supermarkt oder ein Einkaufszentrum handelt. Nachdem die Kinder in der Toilette Wasser getrunken haben, stehlen sie noch ein paar Lebensmittel. In welcher Stadt sie gestrandet sind, wissen sie nicht.

Unbehelligt gehen sie los. Im Gewächshaus der letzten Villa vor dem Wald suchen sie Zuflucht. Yiza hustet inzwischen immer ärger, und am nächsten Morgen stellt Arian fest, dass sie fiebert. Mit Gebärden versucht er ihr zu klären, dass sie schlafen soll, während er sich auf den Weg macht, Aspirin zu besorgen.

Unweit des Supermarkts befindet sich eine U-Bahn-Station. Arian fährt in die Stadt. Dort wendet er sich an Passanten und sagt „Aspirin“. Zwei Frauen wundern sich darüber.

Er will Aspirin. Ich habe Aspirin verstanden. Hast du eine Aspirin? Warum will er Aspirin?

Arian resigniert, aber eine der beiden Frauen läuft ihm nach und gibt ihm zwei Münzen. „Für Aspirin“, sagt sie. Das bringt ihn auf eine Idee: Er fährt mit der U-Bahn, geht von Fahrgast zu Fahrgast, sieht jedem in die Augen, hält die Hand auf und sagt: „Aspirin“. Auf diese Weise bekommt er auf Anhieb 12 Euro und 70 Cent zusammen, dazu noch vier Tabletten.

Trotz des Aspirins verschlechtert sich Yizas Zustand. Als Arian von einer weiteren Beutetour zurückkommt, trifft er auf eine Frau, die Yiza ins Wohnhaus trägt und ihn verscheucht.

Die Frau lässt dem kranken Kind ein heißes Bad ein. Vergeblich versucht die Frau dem Mädchen zu erklären, dass sie Renate heißt. Weil das Wort vielleicht zu schwierig ist, fordert sie Yiza auf, „Oma“ zu sagen. Nach ein paar Tagen hat Yiza kein Fieber mehr.

Monate später schaut Yiza, die inzwischen die Sprache der Frau ansatzweise erlernt hat, durchs Küchenfenster und sieht Arian auf der Straße stehen.

Sie tat, als ob sie gähnte, und bewegte den Kopf, wie es die Frau tat, wenn sie Nackenschmerzen hatte vor Müdigkeit. So tat sie, damit ihr Blick aus dem Fenster nicht wie ein Blick aussähe, sondern wie ein zielloses Umherschauen. Sie sagte, sie müsse zur Toilette, ob die dürfe, und erschrak gleich, weil sie das gesagt hatte, denn sie sollte nicht fragen, die Frau wurde zornig, wenn sie fragte, ob sie zur Toilette dürfe, das klinge, als ob sie sich vor ihr fürchte, als ob sie ihr verbiete, zur Toilette zu gehen, sie solle einfach aufstehen und zur Tür gehen und bei der Tür warten, bis sie ebenfalls aufgestanden und zur Tür gegangen sei, und solle warten, bis die Tür aufgesperrt werde.

Die Frau holt den Schlüssel aus der Schürzentasche. Yiza entreißt ihn ihr und stößt sie zurück. Rasch sperrt sie die Tür auf und schließt sie von außen wieder ab. Dann holt sie Arian ins Haus. Offenbar kann er inzwischen auch ein wenig die Sprache der Menschen von hier, denn er erklärt Yiza, dass er hungrig sei. Das Mädchen mit dem Fingerhut zeigt auf die Küchentür.

Inzwischen hat die Frau aufgehört, dagegen zu hämmern. Stattdessen droht sie, aus dem Fenster nach der Polizei zu rufen. Arian hebt einen Gegenstand auf und öffnet die Tür.

Arian holte aus und schlug das Ding gegen die Stirn der Frau. Und er schlug gleich noch einmal. Und dabei schrie er, wie Yiza geschrien hatte. Genau gleich schrie er, als würde er sie nachmachen. Die Frau taumelte in den Flur, streckte die Arme aus, stolperte und fiel. Arian schlug zum dritten Mal, diesmal auf den Hinterkopf der Frau. Die Frau zuckte, wie sie am Boden lag, wälzte sich herum, lag nun auf dem Rücken, die Beine zuckten, und aus ihrem Mund quälte sich ein merkwürdiges Geräusch, das kein Wort wurde. Arian schlug ein viertes Mal und ein fünftes Mal zu und ein sechstes Mal.

Die beiden Kinder füllen Säcke und einen Rollkoffer mit Lebensmitteln und anderen nützlichen Sachen. Dann machen sie sich damit auf den Weg.

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In dem kurzen Roman „Das Mädchen mit dem Fingerhut“ – vielleicht spräche man besser von einer Erzählung – veranschaulicht Michael Köhlmeier den Überlebenskampf von elternlosen Flüchtlingskindern (Amtsdeutsch: unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, UMF) in Mitteleuropa.

Er lässt die sechsjährige Protagonistin, die ihren eigenen Namen nicht kennt und die Sprache der Menschen in diesem Land nicht versteht, nicht als Ich-Erzählerin auftreten, sondern schreibt in der dritten Person Singular, nimmt jedoch vorwiegend die Perspektive des kleinen Mädchens ein, dem vieles in dieser fremden Erwachsenenwelt rätselhaft bleibt. Mit schlichten Hauptsätzen und absichtlichen Grammatikfehlern imitiert Michael Köhlmeier die Auffassungsgabe des Kindes und dessen Kommunikationsschwierigkeiten. Dadurch ähnelt „Das Mädchen mit dem Fingerhut“ zugleich einem bösen Märchen.

Die Geschichte, die Michael Köhlmeier in „Das Mädchen mit dem Fingerhut“ schnörkellos erzählt, ist bitter und ergreifend. Er hält damit unserer Gesellschaft einen Spiegel vor.

Den Roman „Das Mädchen mit dem Fingerhut“ von Michael Köhlmeier gibt es auch als Hörbuch, gelesen vom Autor (ISBN 978-3-8445-2107-8).

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2016
Textauszüge: © Carl Hanser Verlag

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