Brigitte Kronauer : Errötende Mörder

Errötende Mörder
Errötende Mörder Originalausgabe: Klett-Cotta, Stuttgart 2007 ISBN 978-3-608-93730-5, 334 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Weil Jobst Böhme, der 41-jährige Besitzer eines Büroartikelgeschäfts in Norddeutschland, in eine Lebenskrise geraten ist, rät ihm ein Schriftsteller, ein paar Tage in den Schweizer Bergen zu wandern und stellt ihm sein dortiges Haus zur Verfügung. Damit verbindet er die Bitte, Jobst möge die Manuskripte von drei unveröffentlichten Kurzromanen lesen. An drei aufeinanderfolgenden Tagen wandert Jobst jeweils ein Stück weiter, setzt sich dann hin und liest eines der drei Manuskripte ...
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Kritik

In "Errötende Mörder" hält Brigitte Kronauer drei Geschichten durch eine Rahmenhandlung zusammen. In allen Teilen geht es um Figuren, die durch Lebenskrisen gefährdet sind, um das Altern und die Inhumanität der Gesellschaft.
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Jobst Böhme ist einundvierzig Jahre alt und betreibt im Vorort einer norddeutschen Großstadt ein florierendes Geschäft für Büroartikel. Von seiner zwei Jahre jüngeren Ehefrau Ellen, mit der er seit zehn Jahren verheiratet ist, will er sich scheiden lassen, denn er hat sich in eine Dreiundzwanzigjährige verliebt: Natalja aus St. Petersburg. Seither regt es ihn beispielsweise auf, dass Ellen den kleinen Finger abspreizt, wenn sie ein Glas oder eine Tasse anhebt. Außerdem hat sie zu trinken angefangen.

Ihn konnten die sich täglich vermehrenden Galgen der Immobilienfirmen, inzwischen fast vor jedem zweiten Haus und Gebäude, nicht schrecken. Nur glaubte er seit einiger Zeit, im Grunde ein Karton zu sein. Junge Familien, von zu Geld gekommenen Eltern unterstützt oder durch den Beruf des Ernährers auf der Seite der schnell reich Gewordenen, führten sich mit hochglänzend gekachelten Terrassenanlagen und schematischen Säulenportalen auf, wie zu allem entschlossene, dem gemeinen Volk rechtmäßig entrückte Kleinfürsten. (Seite 8)

Weil Jobst das Gefühl hat, aus Pappe zu sein, rät ihm ein Schriftsteller, dem er einen Computer verkaufte und einrichtete, zu einem langen Wochenende in den Schweizer Bergen und stellt ihm sein „Haus zur Seewiese“ zur Verfügung. Damit verbindet er die Bitte, Jobst möge die Manuskripte von drei unveröffentlichten Kurzromanen lesen.

Kurz darauf sitzt Jobst im Zug. Den Laden hat er Natalja anvertraut.

Vor allem wegen Natalja wollte er unbedingt wieder ein Mann aus Fleisch und Blut werden, noch bevor sie mit dem riesigen Hohlraum, den er zur Zeit unter der Oberfläche namens Jobst Böhme verbarg, in Berührung käme. (Seite 21)

Am Morgen nach seiner Ankunft wandert Jobst in ein Tal hinein, setzt sich auf eine Bank und liest „Der böse Wolfsen oder Das Ende der Demokratie“.

– – –

Der Ich-Erzähler wurde von seiner Freundin Dottie Wamser verlassen. Sie ist spurlos verschwunden. Die Probleme fingen damit an, dass Dottie am Essen sparte, also nur noch billiges Zeug kaufte, und zwar wegen der Preisvorteile in Großpackungen. Da sie allerdings mehr als doppelt so viel aß wie zuvor, nahm sie gewaltig zu, bis sie merkte, dass ihr Freund das abstoßend fand. Da nahm sie ebenso extrem ab – und sah entsprechend schlecht aus (Magersucht). Mit ihrem Sparzwang steckte Dottie den Erzähler an: Er machte sich einen Sport daraus, im Internet vor jedem Kauf nach billigeren Alternativangeboten zu suchen. Bei Freunden und Bekannten erkundigte er sich nicht nur nach den Preisen von Urlaubsreisen, sondern auch nach ihrem Einkommen. Einen doppelten Spaß bereitete es ihm, das Ersparte zu spenden und Bettlern größere Geldscheine zuzustecken. Als Dottie es herausfand, brach sie vor Empörung erst einmal zusammen. Sie sparte selbst an Zärtlichkeiten ihm gegenüber, und er verzeichnete eine „geizige Eintrocknung unseres Lebens“ (Seite 73).

Er trifft sich nur noch selten mit anderen Menschen, nicht nur, weil er fortwährend den Eindruck hat, dass andere nicht verstehen, was er sagt und über seine Äußerungen verwirrt sind.

Inzwischen bin ich fast dran gewöhnt, dass es in jeder Gesellschaft, die ich aufsuche – es passiert immer seltener –, als würden, sobald ich den Mund aufmache, Kröten daraus springen, wie auf Verabredung zu einem Themenwechsel kommt. (Seite 38)

Als kaum noch jemand mit ihm spricht, schickt er seinen bisherigen Freunden mit Ausrufezeichen versehene Zeitungsartikel, die ihm wichtig erscheinen.

Er glaubt zu spüren, dass er diskret überwacht wird.

Unangenehm aber war mir der Gedanke, auch meine Hauswände hielten der Durchleuchtung nicht stand. (Seite 44)

Das Haus verlässt er kaum noch, und wenn, dann meistens erst bei Dunkelheit.

Eines Nachts glaubt er, er werde von einem unbekannten Wesen qualvoll ermordet.

Zwei Tage später, um 16.50 Uhr, steht ein Unbekannter mit impertinenten Augen in der Tür. Er stellt sich vor: „Wolfsen“, und behauptet, sie seien verabredet. Erst nachdem er sich umgesehen hat, sagt er zum Abschied, er sei unterwegs, um Kandidaten für einen Preis zu prüfen, den ein Mäzen für Privatsammlungen gestiftet habe. In der Tat sammelt der Erzähler alles Erdenkliche; in seiner Wohnung türmen sich Gegenstände auf, die er vom Sperrmüll holte oder in Warenhäusern kaufte, bevor sie in dieser Form nicht mehr hergestellt werden.

Jemand muss sie aufheben, diese Sachen, diese Zeugen und Zeugnisse, muss sie horten unter noch so großen Opfern an Bequemlichkeit, damit sie nicht dahin sind für immer, wie nie gewesen, zerfallen ins staubige Nichts, wie wir es von den Toten kennen. (Seite 30)

Ordnung lässt sich da keine mehr herstellen; der obsessive Sammler reglementiert sein Dasein stattdessen durch Zwangshandlungen, die nach festen Schemata ablaufen.

Einmal bestellt er telefonisch ein Callgirl, doch als Lezza zu ihm kommt, bezahlt er sie, damit sie gleich wieder geht. Erst als sie ein weiteres Mal bei ihm klingelt, lässt er sich von ihr verführen. Danach ist er froh, dass ihn sein alter Kumpel Fred mit dem Auto herumfährt. Zufällig sehen sie, wie ein Radfahrer von einem Auto durch die Luft geschleudert wird. Fred – sonst ein herzloser Angestellter – stöhnt vor Mitleid auf.

Wie ich ihn um diese schrecklich schöne Leichenblässe der Anteilnahme beneidete! (Seite 80)

Der Erzähler ist überzeugt, dass das Ende der Demokratie bevorsteht.

Was jetzt herrscht, ist also die Ruhe vor dem Sturm, die Totenstille vor dem Bürgerkrieg. Eine neue Barbarei, hoho, wird alle Hindernisse hinwegfegen, alle mühsamen Errungenschaften der Aufklärung, der Zivilisation als Endphase eines Prozesses, den die, die dann zerschlagen werden, einleiteten […]
Ich prophezeie das Ende der Demokratie! Das ist die andere Seite eurer mörderischen Handels- und Handlungsmaschinerie. (Seite 102)

Manchmal bildet er sich ein, er habe Dottie Wamser totgeschlagen, doch er kann keine Spuren eines Mordes entdecken.

Heute Morgen, gerade erst, bin ich wach geworden und wusste, dass ich einen Mord begangen habe. (Seite 103)

– – –

Bei seiner Rückkehr von der ersten Wanderung überrascht Jobst im „Haus zur Seewiese“ eine Putzfrau aus Kroatien. Sie hat einen Schlüssel und schaut regelmäßig nach dem Rechten.

Am nächsten Tag wandert Jobst wieder in das Tal hinein, setzt sich auf eine andere Bank und liest „Errötende Mörder“, während er Schüsse hört: Die Jagdsaison hat gerade begonnen.

– – –

Der gelernte Elektriker Sven Strör ist auf dem Weg zum Händler, um sein Motorrad abzuholen. Auf dem Hinweg nimmt er den Bus, aber er trägt bereits Lederkleidung und hat seinen bei Aldi gekauften Helm bei sich, damit er für die Heimfahrt gerüstet ist.

Der Bus ist voll alter Leute, die sich untereinander kennen bzw. vorstellen: Frau Holt-Ogastl, Frau Pulsatilla, die ehemalige Chefsekretärin Elfriede Hartriegel, die Toilettenfrau Ruth Bärlapp und die längst von Helene Kohl abgelöste Nachrichtensprecherin Eva Fingerhut; Emil Günsel, Herr Felberich, der frühere Reitstallbesitzer Wurz, der Neurochirurg Prof. Dr. Eibisch, der vierundneunzigjährige Pianist Wiesenfeld und der Geistliche Rumex. Paul Briza war als junger Mann Karnevalsprinz, später Zweiter Bürgermeister in Eichbach in der Eifel und nach seinem Parteiwechsel Stadtrat. In dem Landstreicher Holger Trespe erkennt Strör seinen früheren Mitschüler Dieter Schwarn wieder.

Die Frauen greifen nach ihren Fläschchen. Holger Trespe sieht es augenblicklich und ist beleidigt: „Ich stinke wohl für die feinen Damen? Ja, ich hab‘ mich vollgeschissen. Na und?“ (Seite 169)

Der Busfahrer heißt Sascha. Er trinkt aus einem Flachmann und drängt auch Strör einen Schluck auf. Frau Hartriegel fragt Strör, ob er Kinder habe. Ja, aber seine Ehefrau Elvira verließ ihn mit der gemeinsamen Tochter Inge. Inzwischen hat Strör eine Freundin, aber seit er im ICE Franziska kennen lernte, überlegt er, wie er sie loswerden kann.

Strör hält es unter den alten Leuten kaum noch aus.

„Ich verfluche das alte Pack und Gesindel, verfluche die klapprigen Herrschaften.“ (Seite 163)

„Alte Ärsche, haltet die Fresse. Ich ersticke. Lasst mich raus, winselnde Mumien!“ (Seite 209)

Er schreit: „Anhalten!“, setzt seinen Helm auf und rammt seinen Kopf gegen die Tür, aber sie geht nicht auf.

Erst als sie blühende Rapsfelder erreichen, legt Sascha eine Pause ein, damit die alten Herrschaften austreten können. Danach fehlt der Geistliche Rumex. Sascha sucht nach ihm und findet ihn tot vor; vermutlich erlag er einem Herzinfarkt.

„Den kann keiner da raustragen. Ich hab’s versucht. Ansonsten keine Sorge. Leutchen, habe alles telefonisch geregelt da draußen. Rumex wird abgeholt. Die sind bestimmt schon unterwegs. Ist alles unbürokratisch eingespielt.“ (Seite 203)

Während die anderen einkehren, wird Strör von Sascha mit dem Bus zu einem Meeresstrand gebracht. Dort soll er sich erholen. Nach einer Weile bemerkt Strör, dass der Fahrer mit Herrn Felberich und Frau Pulsatilla in der Nähe steht. Ein Segelschiff taucht auf, und Strör muss sich zwischen dem Bus und dem Schiff entscheiden. Er geht ins Wasser, kann jedoch nicht schwimmen, zum einen weil er die Lederkluft anhat, aber auch wegen seiner Gebrechlichkeit.

– – –

Jobst Böhme wird den Verdacht nicht los, dass der Schriftsteller ihm nur deshalb zu der Reise riet, damit er ungestört mit Natalja zusammensein kann.

Für den dritten und letzten Tag hat Jobst sich den weitesten Weg vorgenommen, den Aufstieg zur Alp Binoz. Immer wieder läuft ihm ein seltsamer Wanderer über den Weg, der ihm bereits an den vergangenen beiden Tagen auffiel: Er trägt eine kurze Hose und hat ausziehbare Wanderstöcke aus Metall dabei. Jobst kann den Kerl nicht ausstehen.

Im Schatten einer Hütte auf der Alp Binoz holt er das dritte Manuskript aus dem Rucksack: „Der Mann mit den Mundwinkeln“.

– – –

Um nicht den Verstand zu verlieren, bilde ich mir etwas ein, eine Menschengruppe am besten, ein willenloses Touristenrudel, das mir zuhören muss, dem ich einen Bären aufbinde, wo es mir passt. (Seite 256)

Die Ich-Erzählerin führt eine Reisegruppe in einen Dom und stellt sich vor verwitterte Reliefs, auf denen kaum noch etwas zu erkennen ist. Es handelt sich um dreizehn (Unglückszahl!) Reliefs, von denen sieben (Glückszahl!) Personen darstellen. Die fabulierende Reiseführerin bemerkt amüsiert, dass die Touristen auch dann verständnisvoll nicken, wenn sie den größten Unsinn erzählt. Sie behauptet, dass die Reliefs von den drei Versuchungen handeln, denen die heilige Petronia ausgesetzt war.

„Petronia oder Petunia, verheiratet, wie Sie wissen, widerfuhr ihr Unglück bei der Geburt ihres ersten Kindes, einer Tochter, durch einen Fehler, Unterbrechung der Sauerstoffversorgung, zu spät begonnener Kaiserschnitt. Die Schädigung des Gehirns zeigte sich bald in motorischer und geistiger Hinsicht. Trotz des Entsetzens über ihr verunstaltetes, von Lähmungen gezeichnetes Kind, weinte Petronia zwar viele Tage und Nächte lang, verklagte aber weder Klinik noch Arzt, nahm alles auf sich, in Kummer und Geduld, ertrug klaglos die Trennung von ihrem Mann, der sich abwandte von seiner Familie […]
Mit Liebe, mit geradezu überirdischer Langmut half sie ihrer verunstalteten Tochter, winzige, schwache Fortschritte zu machen, bereitete ihr ein stabiles Zuhause, indem sie noch einmal eine Ehe einging, schenkte ihr einen neuen, zuverlässigeren Vater und bald schon einen Bruder, sieh an, ein Brüderchen, reizend und gesund.“ (Seite 267f)

„Kurzum, es handelt sich um die Versuchung der heiligen Petunia oder auch Petronia, einer ehrbaren Ehefrau. Hier also die Szene der ersten Abweisung des Verführers.“ (Seite 262)

Auf einem der Bilder ist angeblich zu sehen, wie Petronia im dünnen Kleid durch eine Gruppe von Motorradfahrern geht. Ein anderes Relief gibt die Szene wieder, als Petronia durch die Stimme eines Engels geweckt wird und im seitlich aufgerissenen Nachthemd loshastet, um schlafende Bewohner eines Hauses vor einer Feuersbrunst zu warnen, obwohl sie die Menschen gar nicht kennt. Auch einen weiteren Stein beschreibt die Fremdenführerin so eingehend, dass die Touristen die Szene vor sich zu sehen glauben: Ein Motorradfahrer versucht, Petronia zu vergewaltigen. Er reißt sie von hinten an den Haaren, sodass ihr Körper nach vorne durchbogen wird, und greift in den Ausschnitt nach ihren vorgewölbten Brüsten. Dann sieht man die Heilige, wie sie im Bikini im Meer schwimmt. Als sie an einer Metallleiter aus dem Wasser klettern will, steht dort der Motorradfahrer und versperrt ihr den Weg. Deshalb wirft sie sich rückwärts zurück in die Wellen. Das letzte Relief zeigt den tödlich verunglückten Motorradfahrer – vielleicht handelt es sich auch um Selbstmord –, und die heilige Petronia bettet seinen Kopf in ihren Schoß.

Hockt sie da nicht wie eine Sünderin mit dem wehenden Haar und dem bis zum Schritt hochgerutschten Rock und den Brüsten, die ihr fast aus dem Kleid springen, weil der Kopf des Mannes den Ausschnitt verzieht? (Seite 307)

– – –

Während Jobst das Manuskript las, blieb der Mann mit den Wanderstöcken in der Nähe sitzen. Um ihn abzuschütteln, geht Jobst noch einmal zehn Minuten aufwärts. Inzwischen meint er, dass er Ellen die Affigkeit mit dem kleinen Finger hätte nachsehen können und gesteht sich ein, dass Ellens Kampfwille erloschen war. Eilig läuft er den Weg nach unten. An einer besonders engen und gefährlichen Stelle wartet der andere, aber Jobst drückt ihn zur Seite und geht vorbei. Der Wanderer hätte trotz seiner Stöcke beinahe den Halt verloren. Jobst fühlt sich als Sieger in einem Zweikampf. Einige Minuten später blickt er von einem Felsvorsprung in die Tiefe. Plötzlich hört er hinter sich ein Geräusch, dreht sich um und sieht, wie sein Gegner mit einem seiner Wanderstöcke ausholt. Doch als sich ihre Blicke treffen, hält der Angreifer inne und lacht, als ob es sich um einen Spaß gehandelt hätte.

Was hatten ihm nun die drei Ausflüge ins Tal und die drei Geschichten genutzt? Auch das wusste er nicht und scherte sich nicht darum. (Seite 316)

Beim Abendessen im Restaurant „Baselli“ spricht man ihn mit „Herr Wolfsen“ an – was ihn jedoch nicht weiter verwundert.

Am nächsten Morgen, also dem Abreisetag, verlässt er das „Haus zur Seewiese“, ohne sein Gepäck mitzunehmen und geht am Bahnhof vorbei, wo ihm eine schwarze Schar orthodoxer Juden mit Schläfenlocken aus Antwerpen auffällt.

Sie warteten, so bedeutsam ausstaffiert, auf den Zug, in dem auch er, Jobst, wäre es weiter nach Plan gegangen, zu bedrängenden Häuslichkeiten, ja sicher, zu gewohnten Geschäften von äußerster Dringlichkeit, hätte heimreisen müssen. (Seite 333)

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Für den Protagonisten entwickelt sich eine Lesereise zur aufwühlenden Irrfahrt ins eigene Innere. In ihrem Roman „Errötende Mörder“ hält Brigitte Kronauer drei Geschichten durch eine Rahmenhandlung zusammen; sie tragen die Titel „Der böse Wolfsen oder Das Ende der Demokratie“, „Errötende Mörder“ und „Der Mann mit den Mundwinkeln“. Für jeden Teil verwendet Brigitte Kronauer eine andere Ausdrucksweise. Am eindrucksvollsten finde ich die rasante, irrwitzige Geschichte eines verrückten Sammlers („Der böse Wolfsen oder Das Ende der Demokratie“), aber die Sprache ist auch in den anderen Teilen des Romans so geschliffen, dass sie mitunter funkelt. Es geht es um Figuren, die durch Lebenskrisen gefährdet sind. Vor allem in der mittleren Geschichte, die wie der gesamte Roman den Titel „Errörtende Mörder“ trägt, thematisiert Brigitte Kronauer das Altern, und an mehreren Stellen schildert sie Symptome, die auf die Inhumanität der Wohlstandsgesellschaft hindeuten.

Überbauung durch deutsche Investoren, mit sämtlichen juristischen Finten abgesichert. Denen passiert nichts, wenn was schiefgeht. Hoteltürme, ein ganzes Hoteldorf mit Zubehör für Wohlhabende mittleren Alters, die hierher kommen soll zur Körperpflege, zum Koitus mit Komfort und ganz besonders zum Geldrauswerfen. Wenn die Gemeinde könnte, würde sie für jeden Samenerguss dieser Goldesel Steuern verlangen. Golfplätze in den Bergwiesen genügen denen nicht. (Seite 246)

Im Nachbardorf hat ein Vierzehnjähriger vor einem Jahr beide Großeltern mit dem Beil erschlagen, ob du’s glaubst oder nicht, zerhackt, zu Kleinholz gemacht. Wie es heißt, um an Geld für das Discobier zu kommen. Keine Zeichen von Reue bei der Verhandlung. Kaugummi. Feixen. (Seite 83)

[…] wo eine Frau ihre drei kleinen Kinder […] am Hafenpier von San Francisco nackt ausgezogen und nacheinander ins Wasser, in die starken Strömungen dort geworfen und ertränkt hat. Ohne Reue berichtete sie der Polizei, sie sei einer Eingebung gefolgt, habe einer nächtlich befehlenden Stimme gehorcht. Dreiundzwanzig Jahre ist sie alt, die Kinder ein Jahr, drei Jahre und sechs Jahre, eins nach dem anderen ohne Missbildungen zur Welt gekommen. Offenbar hatten sie durch nichts den Zorn der Mutter erregt, die völlig ausdruckslos nach getaner Tat die vergeblichen Rettungsversuche ansah. (Seite 278f)

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2007
Textauszüge: © J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolge GmbH

Brigitte Kronauer (Kurzbiografie / Bibliografie)
Brigitte Kronauer: Berittener Bogenschütze
Brigitte Kronauer: Der Scheik von Aachen

Kai-Uwe Kern - Mit einem Bein bereits im Himmel
Nach dem Vorbild des britischen Neurologen Oliver Sacks vermittelt uns Kai-Uwe Kern in dem Buch "Mit einem Bein bereits im Himmel" sein eigenes lernwilliges Staunen über medizinische Phänomene. Das gelingt ihm mit einer ausgewogenen Mischung aus anschaulich dargestellten Erlebnissen mit Patienten, verblüffenden Beobachtungen und leicht nachvollziehbaren Überlegungen.
Mit einem Bein bereits im Himmel