Jaan Kross : Der Verrückte des Zaren

Der Verrückte des Zaren
Originalausgabe: Keisri hull Tallinn 1978 Der Verrückte des Zaren Übersetzung: Helga Viira Carl Hanser Verlag, München 1990 dtv, München 2003 ISBN 978-3-423-20655-6, 414 Seiten Süddeutsche Zeitung / Bibliothek, Band 78, München 2007, 365 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der deutsch-baltische Aristokrat Timotheus von Bock gewann nach der Niederlage Napoleons gegen Russland die Freundschaft des Zaren Alexander I. Doch als er 1818 ein regimekritisches Memorandum verfasste, ließ ihn der Zar einkerkern, obwohl Timos Ehefrau schwanger war. Neun Jahre später wurde Timo für verrückt erklärt und auf seinem Gut unter Hausarrest gestellt. Wie es ihm dort ergeht und was ihm zuvor widerfuhr, hält sein Schwager Jakob Mättik heimlich in einem Tagebuch fest.
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Kritik

"Der Verrückte des Zaren" ist ein historischer Roman, mit dem Jaan Kross das unterschiedliche Verhalten von Menschen in einem totalitären Regime beleuchtet. Er erzählt die Handlung nicht chronologisch, sondern in Form fiktiver Tagebucheintragungen über gegenwärtige und zurückliegende Ereignisse.
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Woiseck, Donnerstag, den 26. Mai 1827. Zunächst möchte ich den Anlass festhalten, der mich dieses Tagebuch beginnen lässt. Ja, ich schreibe „beginnen“, denn ob ich es fortführen werde, ist nicht abzusehen. Es scheint mir überaus zweifelhaft – weder die Zeit noch das Land noch gar unsere Familie sind geeignet für das Führen eines Tagebuches.

Wenn überhaupt ein Tagebuch, kann es allenfalls ein völlig geheimes werden. Und gerade deshalb ist es möglich, den Grund seines Entstehens gleich zu Anfang auszusprechen. Also: Ich habe mich entschlossen, Tagebuch zu führen, weil ich in Dinge verstrickt bin, die meines Erachtens so ungewöhnlich sind, dass ein denkender Mensch, der ungewollt ihr Zeuge geworden ist, nicht umhinkann, den Versuch zu unternehmen, seine Beobachtungen niederzuschreiben. Möglich, dass nur ein oberflächlicher Denker so handelt. Jemand, der tiefer in die Dinge eindringt, würde bestimmt auf jegliche Aufzeichnungen verzichten. Weiß Gott.

Freilich, wenn ich zurückschaue, muss ich bekennen: ich bin nicht erst jüngst in all das hineingeraten. Seit zehn Jahren bereits, nein, viel länger, bin ich darin verwickelt. Ich selbst habe mich in dieser Zeit in ein Kuriosum verwandelt. Denn welch anderer Bauernjunge aus der Gemeinde Holstfershof hätte in all den Jahren, man kann sagen seit 1814, das lernen und sehen können, was mir eine Reihe von Zufällen, die wechselten wie die Kulissen in einer italienischen Oper, zu Augen kommen ließ …

Am 26. Mai 1827 beginnt der siebenunddreißig Jahre alte Jakob Mättik ein Tagebuch. Zwei Wochen zuvor traf er auf dem Gut Woiseck bei Oberpahlen im Kreis Fellin ein, mit seiner neun Jahre jüngeren Schwester Eeva, ihrem vierzig Jahre alten Ehemann Timotheus von Bock, Jüri, dem achtjährigen Sohn des Paares, dem Diener Käspar, der Bediensteten Liiso und dem Kutscher Juhan.

Während es sich bei Timotheus von Bock um einen livländischen Aristokraten handelt, stammen seine Frau und sein Schwager aus einer unfreien Bauernfamilie auf dem Gut der Familie von Berg in Holstfershof. Im Herbst 1813, ein halbes Jahr nachdem die Tochter des Gutsbesitzers Eeva zu ihrer Zofe gemacht hatte, kam ihr Bruder Paul von Berg mit seinem Regimentskameraden Oberst Timotheus von Bock kurz zu Besuch. Timo verliebte sich auf der Stelle in die vierzehnjährige Eeva, kaufte sie und ihre Familie frei und schickte sie zusammen mit ihrem Bruder Jakob zu seinem väterlichen Freund Pastor Masing in Maholm. Im September 1817 wurden er und Eeva getraut, und weil seine Frau vorher zum orthodoxen Glauben übergetreten war, hieß sie nun Katharina („Kitty“) von Bock.

Ihr Glück währte nicht lang, denn Timo wurde am 19. Mai 1818 verhaftet. Den Grund fanden die Angehörigen erst später heraus: Timo war Flügeladjutant des Zaren Alexander I. gewesen; der hatte ihn als Freund betrachtet und ihm den Eid abverlangt, ihm stets die Wahrheit zu sagen. Darin hielt Timo sich auch, als er dem Zaren im Frühjahr 1818 ein Memorandum schickte, in dem er gegen dessen Willkürherrschaft prostierte und eine verfassungsmäßige Beschränkung der Macht des Zaren forderte. Dafür ließ der Zar seinen Freund in der Festung Schlüsselberg einkerkern. – Timos jüngster Bruder Karl erzählt Jakob schließlich noch eine Episode von damals: Zar Alexander I. wollte seine Stieftochter Marina Naryschkina mit seinem Freund verheiraten, Timo widersezte sich diesem Plan jedoch.

Im August 1818 fuhr die im siebten Monat schwangere Katharina von Bock mit ihrem Bruder Jakob zum Oberfiskal Cube nach Riga, denn es hatte sich herausgestellt, dass Timo 100 000 Rubel Schulden hatte. Zu ihrer Verwunderung erfuhr sie in Riga, ein gewisser Graf Stedingk habe mehr als die Hälfte davon beglichen. Vermutlich verbarg sich hinter dem Namen der Zar persönlich.

Am 6. Oktober 1818 kam Katharina mit ihrem Sohn Jüri nieder, aber sie durfte ihren Mann nicht besuchen, denn der Zar hatte strenge Isolationshaft befohlen, und eigentlich hätten die Angehörigen gar nicht wissen dürfen, wo Timo sich befand. Der drohte durch die Deprivation verrückt zu werden. Er erlitt Tobsuchsanfälle und fürchtete sich vor weiteren Anfällen. Nach zwei Jahren schickte ihm der Zar jedoch ein Klavier in den Kerker.

Im November 1825 starb Zar Alexander I. Sein Nachfolger Nikolai I. ließ Timo für verrückt erklären und ordnete im Mai 1827 an, den livländischen Adeligen auf sein Gut Woiseck zu bringen und dort unter Hausarrest zu stellen. Timo und seine Angehörigen müssen allerdings mit einem Nebengebäude vorlieb nehmen, denn das Herrenhaus bleibt dem Bewacher und dessen Familie vorbehalten. Dieses Amt versieht zunächst ein achtundfünfzigjähriger Edelmann namens La Trobe, der seit einigen Jahren mit Alwine, der etwa dreißig Jahre jüngeren Tochter seiner Jugendfreundin Sophie von Stackelberg, verheiratet ist. Es ist La Tobe peinlich, dass er den Auftrag erhalten hat, dem Gouverneur der Ostseeprovinzen des russischen Reiches zweimal im Monat einen Bericht über Timo zu schicken.

Alexander Laming, der bisherige Gutverwalter, muss Woiseck am 13. Juni 1827 verlassen, weil Katharina herausgefunden hat, dass er als Spitzel im Dienst der Regierung tätig war. Jakob, der mehrmals mit Lamings achtzehnjähriger Tochter Henriette („Jette“) geschlafen hat, lässt seine Geliebte ziehen. Weihnachten 1827 fällt ihm Anna Klaassen auf, die Tochter der Fassbinderwitwe Maali Vahter aus Fellin, eine üppige Frau Ende zwanzig, die sieben oder acht Jahre mit dem vor einem Jahr verstorbenen Meistergehilfen Peeter Klaassen verheiratet war. Die beiden werden ein Paar, und im Mai 1829 kaufen sie sich ein Haus in Oberpahlen und heiraten. Erst danach wird Jakob bewusst, dass er eigentlich noch immer Jette liebt und auf Anna aufmerksam geworden war, weil sie ihr ähnlich sieht.

Im Frühjahr 1829 wird Herr La Tobe von Peeter von Manteuffel abgelöst. Der trifft in der zweiten Aprilhälfte auf Woiseck ein, begleitet von seiner Ehefrau Elsy, bei der es sich um Timos Schwester handelt, sowie den Kindern Claire (15), Emma (11), Max (10) und Alex (6). Die drei älteren Söhne Gerhard, Otto und Carl sind über zwanzig und führen ihr eigenes Leben.

Eine sorgfältig vorbereitete Flucht von Timo, Katharina, Jüri und Jakob schlug im September 1828 fehl, weil der Junge ernsthaft erkrankt war. Mit Hilfe von Elsy gelingt es Timo und seinen Angehörigen im September 1829, unbemerkt nach Pernau zu entkommen, wo der Kapitän eines Schiffes auf sie wartet, doch im letzten Augenblick beschließt Timo, nach Woiseck zurückzukehren statt das Land zu verlassen.

Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.

Anna kommt mit einem Sohn nieder, der sich jedoch während der Geburt mit der Nabelschnur erdrosselt. Am 25. Oktober 1831 bringt sie ein Mädchen zur Welt, das den Namen seiner Tante Eeva erhält. Von seiner im Sterben liegenden Schwiegermutter erfährt Jakob schließlich, dass nicht ihr Ehemann Annas Vater war, sondern Alexander Laming. Dieses Geheimnis vertraute sie nicht einmal ihrer Tochter an.

Am 11. April 1836 findet Jakob seinen Schwager Timo tot auf dem Boden in dessen Zimmer vor. Eine Schrotladung hat ihn ins Gesicht getroffen. Da niemand an einen Selbstmord glauben mag, heißt es, es habe sich um einen Unfall beim Waffenreinigen gehandelt. Jakob vermutet jedoch aufgrund von Indizien, dass Alexander Laming bei seinem Besuch am 10. und 11. April den Auftrag hatte, herauszufinden, was Timo heimlich schrieb. Während Timo Schießübungen machte, drang Laming in dessen Zimmer ein und durchsuchte den Schreibtisch. Dabei wurde er von Timo ertappt. In seiner Not packte er eine an der Wand hängende Entenbüchse und feuerte sie auf Timo ab. Dann flüchtete er durchs Fenster. Statt Laming anzuzeigen, behält Jakob seinen Verdacht für sich.

Am 14. Juni 1859 – Anna ist seit fünf Jahren tot – beendet Jakob das Tagebuch in einem Hotel in Reval. Er befindet sich auf dem Weg nach Karlsbad. Das Tagebuch will er seinem Neffen Jüri von Bock überlassen, der dem Zaren als Marineoffizier dient.

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Im Nachwort erklärt Jaan Kross, was an seinem Roman „Der Verrückte des Zaren“ authentisch ist. Timotheus von Bock gab es tatsächlich, ebenso wie Herrn La Trobe und Peeter von Manteuffel (der in Wirklichkeit Peter Zoege von Manteuffel hieß). Die Figur Eeva bzw. Katharina von Bock stimmt weitgehend überein mit der am 8. September 1799 in Holstre geborenen Tochter eines Kutschers und seiner Frau. Weder das Memorandum noch das Gut Woiseck sind erfunden. Fiktiv ist allerdings der Erzähler Jakob Mättik, hinter dem sich der Autor Jaan Kross verbirgt. Dieser Tagebuchschreiber stellt die Gegenfigur zu Timo dar: Jakob leistet keinen offenen Widerstand wie sein Schwager, sondern er zieht die innere Emigration vor.

„Der Verrückte des Zaren“ ist ein historischer Roman, in dem Jaan Kross das unterschiedliche Verhalten von Menschen in einem totalitären Regime beleuchtet. Er erzählt die Handlung nicht chronologisch, sondern in Form fiktiver Tagebucheintragungen über gegenwärtige und zurückliegende Ereignisse.

Ob es sich bei Timo um einen Verrückten oder einen idealistischen Rebellen handelt, bleibt offen. Keinen Zweifel lässt Jaan Kross an seiner Ablehnung totalitärer Regime. Kein Wunder: Der am 19. Februar 1920 in Tallinn (Reval) geborene Este, der von 1938 bis 1944 in Tartu (Dorpat) Jura studierte, wurde im Frühjahr 1944 vorübergehend von den deutschen Besatzern inhaftiert und 1946 von den Sowjets nach Sibirien deportiert, wo er acht Jahre lang im Gulag eingesperrt blieb. Sein an der Zensur vorbeigeschmuggelter Roman „Der Verrückte des Zaren“ erschien 1978 in Tallinn, das damals noch unter sowjetischer Herrschaft stand.

Die gewitzte und gewiefte Camouflage, die der Roman bereits im Titel trägt und die im Innern eine meisterhafte Kompositionstechnik gebiert, macht ihn zu einem modernen Antiroman wider Willen […] Auch Leser, die keine Freunde historischer Romane sind, werden ihre Freude haben. (Volker Breidecker, Süddeutsche Zeitung, 27. Oktober 2007)

Jaan Kross starb im Dezember 2007 im Alter von 87 Jahren.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2007
Textauszüge: © Carl Hanser Verlag

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