Intime Fremde

Intime Fremde

Intime Fremde

Intime Fremde - Originaltitel: Confidences trop intimes - Regie: Patrice Leconte - Drehbuch: Jérome Tonnerre - Kamera: Eduardo Serra - Schnitt: Joëlle Hache - Musik: Pascal Estève - Darsteller: Sandrine Bonnaire, Fabrice Luchini, Michel Duchaussoy, Anne Brochet, Gilbert Melki, Laurent Gamelon, Hélène Surgère, Urbain Cancelier u.a. - 2004, 105 Minuten

Inhaltsangabe

Wegen ihrer Eheprobleme will Anna einen Psychotherapeuten aufsuchen, verwechselt jedoch die Türen und gelangt zu dem schüchternen Steuerberater William Faber. Der hört ihr aufmerksam zu, statt den Irrtum aufzuklären und vereinbart weitere Termine mit ihr ...
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Kritik

"Intime Fremde" ist ein subtiles, sinnliches Kammerspiel. Mit Ausnahme von ein paar Szenen spielt sich die Geschichte in den Gesprächen zwischen Anna und William Faber ab.
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Anna (Sandrine Bonnaire) ist seit vier Jahren mit Marc (Gilbert Melki) in Paris verheiratet. Sie waren glücklich miteinander, aber seit Anna ihren Mann vor einem halben Jahr versehentlich mit dem Auto anfuhr und ihn schwer am Bein verletzte, liebkost er sie nicht mehr und fühlt sich impotent. Wegen ihrer Ehekrise vereinbart Anna einen Termin mit dem Psychoanalytiker Dr. Monnier (Michel Duchaussoy), irrt sich dann allerdings in der Tür und betritt das Büro des Steuerberaters William Faber (Fabrice Luchini). Der nimmt zunächst an, eine neue Mandantin suche seinen fachlichen Rat, aber sie beginnt gleich damit, von ihren Eheproblemen zu erzählen und schlägt am Ende einen Termin für die nächste Sitzung vor, denn sie glaubt noch immer, mit einem Psychoanalytiker zu sprechen. Faber hat ihr mit großen Augen zugehört, Verständnis gezeigt und nicht versucht, sie auf ihren Irrtum hinzuweisen. Außerdem durfte sie bei ihm rauchen und das entsprechende Verbot ihres Mannes übertreten.

Fabers düstere, holzgetäfelte und altmodische Kanzlei besteht aus zwei Räumen seiner Wohnung: seinem Büro und dem Vorzimmer seiner Sekretärin, Madame Mulon (Hélène Surgère), die Faber ebenso wie die Wohnung und die Kanzlei von seinem verstorbenen Vater übernommen hat. Seine Ehefrau Jeanne (Anne Brochet), die sich zwar wegen des muskulösen Fitness-Trainers Luc (Laurent Gamelon) von ihm getrennt hat, jedoch alle paar Tage vorbeikommt oder sich mit ihm zum Essen trifft, meint, er müsse den Irrtum der Besucherin unverzüglich aufklären. Weil er weder den Namen, noch die Adresse oder die Telefonnummer der jungen Frau kennt, kann er das allerdings nicht vor ihrem nächsten Besuch tun – auf den er freudig erregt wartet.

Als Anna zur vereinbarten Zeit erscheint, setzt er mehrmals zu einer Erklärung an, doch sie reagiert nicht darauf und erzählt weiter von sich. Offenbar ist sie froh, dass ihr endlich einmal jemand aufmerksam zuhört. So endet auch diese Begegnung mit der Vereinbarung eines weiteren Termins.

Den hält Anna nicht ein. Nachdem mehr als eine Woche vergangen ist, wendet Faber sich an den benachbarten Psychoanalytiker, um an die Telefonnummer der Frau zu kommen. Dr. Monnier hört sich an, was Faber erlebt hat, beschwert sich ein wenig darüber, dass der Steuerberater ihm eine Patientin weggenommen hat, verlangt 120 Euro für die „Sitzung“ – und verweigert die Herausgabe persönlicher Daten. Weil jedoch Dr. Monniers Sekretärin (Isabelle Petit-Jacques) durch einen randalierenden Patienten abgelenkt wird, gelingt es Faber im Hinausgehen, Annas Telefonnummer aus dem aufgeschlagenen Terminkalender abzuschreiben. – Als er die Nummer dann gleich wählt, erreicht er aber nur die automatische Ansage des Wetterdienstes.

Unvermittelt taucht Anna wieder bei ihm auf. Madame Mulon staunt, als ihr Chef die Unterredung mit einem Klienten abbricht, um sich der unangemeldeten Besucherin zu widmen, von der sie keine Akte hat. Sobald Faber die Tür seines Büros geschlossen hat, beschimpft Anna ihn, weil er sie in dem Glauben ließ, ihr Psychotherapeut zu sein. Sie weiß es inzwischen durch einen Telefonanruf bei Dr. Monnier, bei dem sie den letzten Termin absagen wollte. Faber verteidigt sich nur schwach und hält Anna nicht zurück, die verärgert aus der Kanzlei geht.

Obwohl der Irrtum aufgeklärt ist, kommt Anna einige Tage später wieder zu Faber und fährt mit den Erzählungen über ihr Eheleben fort. Sie berichtet ihrem aufmerksamen Zuhörer, dass Marc ihr als Lösung ihres sexuellen Problems ernsthaft vorgeschlagen habe, sie solle mit einem anderen Mann ins Bett gehen.

Dr. Monnier verunsichert Faber durch den Hinweis, dass es sich bei Anna durchaus um eine neurotische Lügnerin handeln könne, die gar nicht verheiratet ist und das alles nur erfindet. Möglicherweise irrte sie sich gar nicht in der Tür, sondern hatte es von Anfang an auf Faber abgesehen. Ist sie vielleicht sogar gefährlich?

Einige Zeit später sucht jemand den Steuerberater auf, der sich als Annas Ehemann Marc zu erkennen gibt. Der Privatdetektiv, den er beauftragt hatte, Anna zu beschatten, fand heraus, wohin sie regelmäßig geht, und Marc nimmt deshalb an, sie habe seinen Rat befolgt und treibe es hier mit Faber. Der bleibt stumm, erklärt zwischendurch leise, dass er Anna liebe, versucht aber nicht, die Dinge zurechtzurücken und erwähnt auch bei Annas nächstem Besuch nichts von dem Vorfall.

Wieder vergehen einige Tage. Anna fühlt sich sehr viel besser und kleidet sich auch fröhlicher. Sie unterrichtet Faber auch über die Ursache dieser Veränderung: Nach ihrem letzten Termin passte Marc sie auf der Straße ab und nahm sie in das benachbarte Hotel mit, wo er eigens ein Zimmer gemietet hatte. Dort streichelte er sie, zog sie aus und hatte endlich wieder einmal Sex mit ihr. Erst jetzt verrät Faber, dass Marc bei ihm war und ihn aus dem Hotel anrief, um ihn aufzufordern, aus dem Fenster zu sehen: Das Hotelzimmer lag genau gegenüber. Anna kann kaum glauben, was sie da hört.

Schließlich kommt sie, um sich von Faber zu verabschieden: Nach einer Aussprache hat sie sich einvernehmlich von ihrem Mann getrennt und wird jetzt auch Paris verlassen. Traurig fragt Faber, was aus ihren Gesprächen werden soll. „Es wurde alles gesagt“, meint Anna und küsst ihn auf die Wange, bevor sie geht.

Faber zieht aus der Wohnung aus, in der er seit seiner Geburt gelebt hat und gibt auch die Kanzlei auf. An der Riviera richtet er sich neu ein.

Anna, die hier in Südfrankreich aufwuchs, hat sich inzwischen einen Traum verwirklicht: Sie leitet eine Ballettschule. Auf eine Nachricht hin sucht sie Faber in seiner neuen Kanzlei auf. Er habe sie überall gesucht, gesteht er ihr schüchtern. „Sie können sich wohl denken, warum ich das tat.“ Da legt Anna sich auf die Couch in seinem Büro und meint: „Wo waren wir stehengeblieben?“

Das letzte Bild nimmt die Kamera senkrecht von oben auf. Anna liegt entspannt auf der Couch und hört Faber zu, der eifrig gestikulierend erzählt …

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„Intime Fremde“ ist ein subtiles, sinnliches Kammerspiel von Patrice Leconte. Mit Ausnahme von ein paar Szenen spielt sich die Geschichte in den Gesprächen zwischen Anna und William Faber ab. Das Faszinierende sind neben der originellen Ausgangsidee des Plots die Dialoge, die Zwischentöne, die zurückhaltende Mimik und die sparsamen Gesten der beiden ausgezeichneten Hauptdarsteller. Ein schüchterner Steuerberater verfällt einer jungen Besucherin und hört ihr aufmerksam zu, wenn sie von ihrem Sexualleben erzählt. Erotik und Geheimnis sind in diesem Fall kaum voneinander zu trennen. Ein flüchtiger Kuss auf die Wange bleibt zwar der einzige Körperkontakt zwischen dem Mann und der Frau, aber beim Reden und Zuhören kommen sie einander näher.

Obwohl „Intime Fremde“ ganz auf die beiden Protagonisten zugeschnitten ist, hat Patrice Leconte seinen Film auch mit einigen liebevoll skizzierten Nebenfiguren bereichert, zum Beispiel: die damenhafte ältere Sekretärin in der Steuerberaterkanzlei; Annas kontrollsüchtiger Ehemann Marc, der kumpelhafte Fitnesstrainer Luc; Dr. Monniers Patient, den Anna kurzerhand von seiner Aufzugphobie befreit; die Concierge, die ständig vor dem Fernseher sitzt und eine kitschige Seifenoper mit dem Titel „Die Feuer der Liebe“ verfolgt.

Unbekümmert wechselt Patrice Leconte in „Intime Fremde“ zwischen den Genres Komödie, Thriller und Melodram hin und her.

Die mitunter bewusst wackelnde Kamera holt immer wieder Gesichter und Details – wie zum Beispiel eine kleine Handbewegung – nah heran. Besonders gelungen ist eine vom Motorengeräusch einer Vespa untermalte Kamerafahrt parallel zu Anna, die zu Faber geht. Sobald sie die Haustür erreicht hat, fährt die Kamera darüber hinaus, und dazu ist das Geräusch einer Vespa zu hören, deren Fahrer Gas gibt. Erst beim nächsten Mal sieht man dann auch den Vespa-Fahrer, bei dem es sich um den von Marc beauftragten Privatdetektiv handelt.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005

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