Harper Lee : Gehe hin, stelle einen Wächter

Gehe hin, stelle einen Wächter
Manuskript: 1957 Originalausgabe: Go Set a Watchman HarperCollins, New York 2015 Gehe hin, stelle einen Wächter Übersetzung: Klaus Timmermann und Ulrike Wasel Deutsche Verlags-Anstalt, München 2015 ISBN: 978-3-421-04719-9, 317 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Obwohl Harper Lee "Gehe hin, stelle einen Wächter" vor "Wer die Nachtigall stört" schrieb, ist es gewissermaßen die Fortsetzung. Die Handlung spielt 20 Jahre später. Jean Louise Finch ist inzwischen 26 Jahre alt und lebt allein in New York. Im Sommer reist sie für zwei Wochen nach Maycomb/Alabama, um ihren Vater Atticus Finch zu besuchen. Abgeholt wird sie von ihrem Jugendfreund Henry Clinton, der in der Anwaltskanzlei ihres Vaters arbeitet und davon ausgeht, dass sie heiraten werden ...
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Kritik

Das Thema Rassismus ist noch immer virulent. Der Vater-Tochter-Konflikt ist ohnehin zeitlos. Harper Lee schreibt einfach und klar ver­ständ­lich. Die eingebauten Rückblenden wirken für einen in den 50er-Jahren geschriebenen Roman überraschend modern.
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Jean Louise Finch ist 26 Jahre alt und lebt allein in New York. Im Sommer reist sie für zwei Wochen in ihren nach Colonel Mason Maycomb benannten Geburtsort Maycomb/Alabama, um ihren 72-jährigen Vater Atticus Finch zu besuchen, der trotz seines Alters noch immer seine Anwaltskanzlei führt. Sie war erst zwei Jahre alt, als ihre herzkranke Mutter Jean Graham Finch tot auf der Veranda zusammenbrach und ihren 15 Jahre älteren Ehemann mit zwei Kindern zurückließ. Seine afroamerikanische Köchin Calpurnia führte daraufhin auch den Haushalt. Jean Louise und ihr vier Jahre älterer Bruder Jeremy („Jem“) sahen in ihr beinahe eine Ersatzmutter. Jeremy Finch starb 22 Jahre nach der Mutter ebenfalls an Herzversagen.

Bis Jean Louise völlig unvorbereitet ihre Menarche bekam, tobte sie mit den Jungen herum und hielt sich eigentlich gar nicht für ein Mädchen. Calpurnia beruhigte sie in Bezug auf die Blutung, allerdings ohne sie vollständig aufzuklären, und nachdem ein Mitschüler Jean Louise einen Zungenkuss gegeben hatte, befürchtete die Zwölfjährige, schwanger zu sein. Weil sie das Kind nach ihren Berechnungen Anfang Oktober erwartete, kletterte sie am 30. September in selbstmörderischer Absicht auf den städtischen Wasserturm von Maycomb. Henry („Hank“) Clinton, ein gemeinsamer Freund von Jem und Jean Louise, holte sie herunter und rettete ihr das Leben. Als Calpurnia begriff, was Jean Louise vorgehabt hatte, holte sie die sexuelle Aufklärung nach. Zwei Jahre später begleitete Henry die vier Jahre jüngere Schulfreundin zu ihrem ersten Ball in der Turnhalle der Maycomb County High School, und als der eigens für diesen Zweck gekaufte falsche Busen verrutschte, tanzte er mit ihr ins Freie, griff ihr beherzt in den Ausschnitt, zog den falschen Busen heraus und schleuderte ihn fort. Am nächsten Tag mussten sich alle Schüler vor dem Gebäude versammeln, und der Direktor deutete auf eine Tafel mit der Aufschrift IM DIENSTE IHRES LANDES. Ein falscher Busen verdeckte allerdings den letzten Buchstaben, und der Schulleiter Charles Tuffett hielt das für eine obszöne Beleidigung der Gefallenen. Er behauptete, den Missetäter zu kennen und setzte eine Frist für ein schriftliches Geständnis. Henry veranlasste Jean Louise, einen entsprechenden Zettel zu schreiben und damit zu Mr Tuffett zu gehen. Der zerknüllte den Zettel, warf ihn weg und erklärte der verdutzten Schülerin aufgebracht, er habe bereits von allen anderen Schülerinnen ab der neunten Klasse Geständnisse erhalten.

Calpurnia beendete ihr Arbeitsverhältnis vor einem halben Jahr aus Altersgründen und zog sich in das Schwarzenviertel zurück. Atticus‘ Schwester Alexandra („Zandra“) Finch Hancock hätte eigentlich erwartet, dass seine Tochter aus New York zurückkehren würde, um ihrem an Arthritis erkrankten Vater beizustehen, aber als Jean Louise nicht bereit war, ihr eigenständiges Leben aufzugeben, zog Alexandra bei ihrem Bruder ein und übernahm die Haushaltsführung. Sie ist zwar seit 30 Jahren mit einem Mann namens James Hancock verheiratet, der ein Baumwolllagerhaus betreibt, aber die Ehe besteht schon seit langem nur noch auf dem Papier. Ihr Sohn Francis arbeitet als Versicherungsvertreter in Birmingham/Alabama und hat „eine mehr oder weniger deutliche Vorliebe für das eigene Geschlecht entwickelt“.

In den letzten vier Jahren reiste Jean Louise Finch mit dem Flugzeug nach Maycomb, aber dieses Mal nimmt sie den Zug. Abgeholt wird sie von Henry Clinton, der davon ausgeht, dass sie irgendwann heiraten werden. Sein Vater hatte ihn und die Mutter verlassen, als Henry noch ein Säugling war. Cara Clinton schuftete in ihrem kleinen Gemischt­waren­laden, um ihren Sohn auf die öffentliche Schule von Maycomb schicken zu können. Er war erst 14 Jahre alt, als die Mutter starb. Atticus Finch verwaltete das wenige Geld, das der Verkauf des Geschäfts einbrachte, stockte die Summe heimlich auf und sorgte dafür, dass der Freund seines Sohnes und seiner Tochter nebenbei in einem Lebensmittelmarkt arbeiten konnte. Nach dem Schulabschluss ging Henry zur Army, und nach dem Krieg studierte er Jura. Atticus Finch hatte gehofft, dass sein Sohn seine Kanzlei weiterführen würde, aber dann starb Jeremy unerwartet, und Atticus nahm Henry in die Kanzlei auf. Wohlwollend beobachtet er, wie Henry seiner Jugendfreundin Jean Louise den Hof macht. Alexandra Finch ist jedoch anderer Meinung und sagt zu ihrer Nichte:

„Henry passt nicht zu dir und wird niemals zu dir passen. Wir Finches heiraten nicht die Kinder von ungebildetem weißem Pack, und genau das waren Henrys Eltern ihr Leben lang.“

Jean Louise sieht das zwar anders, zögert jedoch mit der Entscheidung. Sie erklärt Henry:

„Ich hab einfach eine Riesenangst, mein Leben zu versauen, wenn ich mit dem falschen Mann verheiratet bin – für mich falsch, meine ich. Ich bin nicht anders als andere Frauen, und der falsche Mann würde mich in Rekordzeit in eine kreischende Xanthippe verwandeln.“

Beim Aufräumen stößt Jean Louise im Lektürestapel ihres Vaters auf eine rassistische Broschüre mit dem Titel „Die schwarze Pest“. Nachdem sie darin gelesen hat, fragt sie ihre Tante, was das sei. Alexandra antwortet: „Irgendwas von deinem Vater.“ Jean Louise wirft das Traktat in den Papierkorb.

„Nicht“, sagte Alexandra. „Die sind heutzutage schwer zu bekommen.“
Jean Louise öffnete den Mund, klappte ihn zu und öffnete ihn wieder. „Tantchen, hast du das Ding gelesen? Weißt du, was da drinsteht?“
„Natürlich. […] Da steht viel Wahres drin. […] Dein Vater hat die Broschüre von einer Bürgerratsversammlung mit nach Hause gebracht.“
„Von einer was?“
„Vom Bürgerrat von Maycomb County. Wusstest du nicht, dass wir einen haben?“
„Nein.“
„Tja, dein Vater ist im Vorstand, und Henry ist ein besonders überzeugtes Mitglied.“ Alexandra seufzte. „Nicht dass wir so einen Verein wirklich bräuchten. In Maycomb ist noch nichts passiert, aber Vorsicht ist besser als Nachsicht. Sie sind ja auch gerade dort.“

Jean Louise macht sich sofort auf den Weg zum Gerichtssaal, setzt sich auf den Zuschauerbalkon und hört angewidert die Hetzrede des von ihrem Vater vorgestellten Gastredners Grady O’Hanlon. Für sie bricht eine Welt zusammen, denn sie begreift, dass sie ihren Vater bisher idealisierte.

Integrität, Humor und Geduld waren die drei Wörter, die Atticus Finch beschrieben. […] Sein Kodex war simple neutestamentarische Ethik.

Einmal setzte er seine Karriere aufs Spiel und verteidigte einen wegen Vergewaltigung einer 14-jährigen Weißen angeklagten schwarzen Jungen. Dass er einen Freispruch erzielte, war eine Sensation. Nie hätte Jean Louise sich vorstellen können, dass er zu den Rassisten gehört.

Am nächsten Morgen sperrt der Sheriff Calpurnias Enkel Frank ein, weil dieser mit überhöhter Geschwindigkeit durch die Stadt raste und den alten Mr Healy totfuhr, als dieser die Straße überqueren wollte. Henry geht davon aus, dass die Kanzlei den Fall des Schwarzen nicht übernehmen sollte. Atticus Finch ist anderer Ansicht, aber nicht, weil es sich um einen Enkel seiner langjährigen Haushälterin handelt, sondern aus politischen Gründen: Er will verhindern, dass von der National Association for the Advancement of Colored People (NAACP) bezahlte Anwälte die Verteidigung übernehmen. Seiner Tochter erklärt er:

„Wir haben inzwischen drei oder vier in Alabama. Sie sind die meiste Zeit in Birmingham und den größeren Städten, aber sie warten bloß darauf, dass in irgendeinem Gerichtsbezirk ein Neger eine Straftat gegen einen Weißen begeht – du würdest dich wundern, wie schnell sie das rausfinden –, und dann kommen sie und verlangen, dass in solchen Fällen Neger auf der Geschworenenbank sitzen, stark vereinfacht ausgedrückt.“

Besorgt geht Jean Louise zu Calpurnia ins Schwarzenviertel. Ihr Sohn Zeebo und Helen, die erste seiner fünf Ehefrauen, sind die Eltern des Jungen. Aber die Afroamerikaner verhalten sich distanziert gegenüber der weißen Besucherin.

Alexandra ist entsetzt, als sie erfährt, dass ihre Nichte im Schwarzenviertel war.

Alexandras Stimme war kalt. „Jean Louise, in Maycomb geht niemand mehr irgendwelche Neger besuchen, seit sie sich uns gegenüber so aufführen. Sie sind faul und träge, und manchmal werfen sie uns Blicke zu, die regelrecht unverschämt sind, und Verlass ist auf sie längst keiner mehr.“

Jean Louise besucht ihren Onkel Dr. John („Jack“) Hale Finch. Der Bruder des Juristen Atticus hatte in Mobile/Alabama Medizin studiert, in Nashville/Tennessee praktiziert und so erfolgreich an der Börse spekuliert, dass er sich im Alter von 45 Jahren in Maycomb zur Ruhe setzen konnte. Als seine Nichte ihn auf die Versammlung im Gerichtssaal und die ihr bisher unbekannte Einstellung ihres Vaters gegenüber Afroamerikanern anspricht, meint er:

„Jean Louise, wenn ein Mann direkt in die Augen einer doppelläufigen Schrotflinte blickt, greift er nach der erstbesten Waffe, um sich zu verteidigen, sei es ein Stein oder ein Stück Brennholz oder ein Bürgerrat.“

Kurz nach diesem für Jean Louise unbefriedigenden Gespräch erklärt sie Henry, dass sie ihn nicht heiraten werde.

„Ich war gestern auf der Versammlung. Ich hab dich und Atticus in all eurer Herrlichkeit da unten am Tisch sitzen sehen, zusammen mit diesem – diesem Abschaum, diesem furchtbaren Mann, und ich sage dir, mir hat sich der Magen umgedreht. Ausgerechnet der Mann, den ich mal heiraten wollte, ausgerechnet mein eigener Vater, ausgerechnet die beiden haben mich so angewidert, dass ich kotzen musste, und mir ist noch immer speiübel! Wie in Gottes Namen konntet ihr nur? Wie konntet ihr nur?“
„Wir müssen so einiges tun, was wir nicht tun möchten, Jean Louise.“

Henry klärt sie darüber auf, dass ihr Vater sich vor 40 Jahren dem Ku Klux Klan anschloss, aber nicht, weil er dessen Ziele unterstützte, sondern um herauszufinden, wer sich hinter den Masken verbarg. Weder Atticus Finch noch er selbst würden die radikalen Ansichten im Bürgerrat teilen, fährt Henry fort, doch um beruflich erfolgreich zu sein, müsse er sich anpassen und einordnen. Dazu gehöre eben auch die Beteiligung beim Bürgerrat. Gerade als Jean Louise ihn deshalb als Heuchler beschimpft, kommt ihr Vater dazu.

„Jean Louise“, sagte er. „Ist dir schon mal der Gedanke gekommen, dass kein gesellschaftliches Arkadien dabei herauskommen wird, wenn du eine Gruppe rückständiger Menschen mit kulturell fortgeschrittenen Menschen zusammensteckst?“

„Willst du, dass unsere Kinder auf eine Schule gehen, deren Niveau gesenkt wurde, um es den Negerkindern anzupassen?“

„Sie haben bei ihrer Anpassung an die Lebensgewohnheiten von uns Weißen erstaunliche Fortschritte gemacht, aber sie sind noch weit von uns entfernt.

„Jean Louise, sie wollen uns zugrunde richten.“

Sie glaubt, jetzt zu begreifen, warum ihr Vater damals den jungen Afroamerikaner verteidigte, der wegen Vergewaltigung einer Weißen angeklagt war:

„Du liebst die Gerechtigkeit, das ja. Die abstrakte Gerechtigkeit, wie sie Punkt für Punkt in einem Schriftsatz steht, aber das hat nichts mit dem schwarzen Jungen zu tun, dir gefällt einfach nur ein ordentlicher Schriftsatz. Sein Fall hat deinen geordneten Verstand gestört, und du musstest aus der Unordnung wieder Ordnung machen.“

Bitter beklagt Jean Louise sich darüber, dass sie nicht zu einer typischen Bürgerin von Maycomb erzogen wurde.

„Wieso in Gottes Namen hast du nicht wieder geheiratet? Irgendeine einfältige Südstaatenlady, die mich richtig erzogen hätte? Die aus mir eine affektiert lächelnde, scheinheilige, liebreizende Frau gemacht hätte, die mit den Wimpern klimpert und hingebungsvoll ganz für ihren kleinen Göttergatten lebt. Dann wäre ich wenigstens ahnungslos, aber glücklich gewesen.“

Überstürzt packt Jean Louise ihre Sachen, um Maycomb für immer den Rücken zu kehren. Sie will mit dem Auto ihres Vaters zum Bahnhof fahren und es dort abstellen. Gerade als sie ihr Gepäck in den Kofferraum hebt, steigt John Hale Finch aus einem Taxi.

„Onkel Jack, ich bin es so verdammt leid, euch allen zuzuhören, dass ich schreien könnte!“

Der Arzt schlägt sie mit voller Wucht ins Gesicht und erklärt ihr dazu: „Ich versuche, deine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen.“ Als sie ihm endlich zuhört, sagt er:

„Jean Louise, der Wächter eines jeden Menschen ist sein Gewissen. So etwas wie ein kollektives Gewissen gibt es nicht.“

„… und du, die du mit einem eigenen Gewissen geboren wurdest, hast es irgendwann an das deines Vater geheftet, wie eine Klette. Als Heranwachsende, als Erwachsene hast du deinen Vater mit Gott verwechselt, ohne es selbst zu merken. Du hast ihn nie als einen Mann mit dem Herzen und den Schwächen eines Mannes gesehen.“

Statt loszufahren geht Jean Louise in die Kanzlei, verabredet sich mit Henry zu einem Abschiedsessen und entschuldigt sich bei ihrem Vater. Der entgegnet:

„Dir tut es vielleicht leid, aber ich bin stolz auf dich.“
Sie blickte auf und sah, dass ihr Vater sie anstrahlte.
„Was?“
„Ich habe gesagt, ich bin stolz auf dich.“
„Ich verstehe dich nicht. Ich verstehe Männer überhaupt nicht, und das werde ich auch nie.“
„Na ja, ich habe jedenfalls gehofft, dass eine Tochter von mir zu dem stehen wird, was sie für richtig hält, dass sie allen voran mir die Stirn bieten wird.“

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Die 1926 in Alabama geborene Amerikanerin Harper Lee (bürgerlich: Nelle Lee) veröffentlichte am 11. Juli 1960 einen einzigen Roman: „To Kill a Mockingbird“ / „Wer die Nachtigall stört“. Dafür erhielt sie im Jahr darauf den Pulitzer Preis. Das Buch wurde in 40 Sprachen übersetzt und 40 Millionen Mal verkauft. Für die Verfilmung gab es drei „Oscars“ (Horton Foote für das Drehbuch, Gregory Peck für die Hauptrolle, Alexander Golitzen, Henry Bumstead und Oliver Emert für die Ausstattung). Nominiert hatte man „Wer die Nachtigall stört“ in weiteren fünf Kategorien.

Wer die Nachtigall stört – Originaltitel: To Kill a Mockingbird – Regie: Robert Mulligan – Drehbuch: Horton Foote nach dem Roman „Wer die Nachtigall stört“ von Harper Lee – Kamera: Russell Harlan – Schnitt: Aaron Stell – Musik: Elmer Bernstein – Darsteller: Gregory Peck, Mary Badham, Phillip Alford, John Megna, Frank Overton, Rosemary Murphy, Brock Peters, Estelle Evans, James Anderson, Collin Wilcox u.a. – 1962; 125 Minuten

Vor „Wer die Nachtigall stört“ hatte Harper Lee einen anderen Roman geschrieben, aber auf Anraten der Lektorin Therese von Hohoff Torrey („Tay Hohoff“, 1898 – 1974) war das 1957 eingereichte Manuskript nicht veröffentlicht worden. Es heißt, die Rückblenden hätten die Lektorin gestört. Therese von Hohoff Torrey bewog Harper Lee, das Buch umzuschreiben und Atticus Finch als durch und durch rechtschaffenen US-Amerikaner darzustellen. Die Geschichte dieses später verfassten Romans spielt 20 Jahre vor „Go Set a Watchman“ / „Gehe hin, stelle einen Wächter“, also in den Dreißigerjahren, ebenfalls in der fiktiven Stadt Maycomb/Alabama. Auch das Figurenensemble ist in beiden Büchern dasselbe.

Im September 2014 fand angeblich die mit Harper Lee befreundete Rechtsanwältin Tonja Carter das über 50 Jahre alte Manuskript „Gehe hin, stelle einen Wächter“ und betrieb die Publikation. Der Verlag HarperCollins druckte eine Erstauflage von 2,1 Millionen Exemplaren. Am 14. Juli 2015 erschien „Go Set a Watchman“ in New York, und bereits drei Tage später brachte die Deutsche Verlags-Anstalt die deutsche Übersetzung von Klaus Timmermann und Ulrike Wasel heraus.

„Gehe hin, stelle einen Wächter“ dreht sich vor allem um das Verhältnis der 26-jährigen Jean Louise Finch zu ihrem verwitweten Vater Atticus Finch. Zunächst hat es den Anschein, als sei die allein in New York lebende Tochter längst von ihrem in Alabama gebliebenen Vater emanzipiert, aber dann stellt sich nicht nur heraus, wie eng die unbewusste Bindung nach wie vor ist, sondern auch, dass Jean Louise ein Idol verehrt. In Wirklichkeit weist Atticus Finch Charakterzüge auf, die seiner Tochter bisher unbekannt waren und ihr widerwärtig sind. Die Desillusionierung ist schmerzhaft.

Der Vater-Tochter-Konflikt und die Erkenntnisse der Protagonistin gehen einher mit einer im Vergleich zu „Wer die Nachtigall stört“ komplexeren, differenzierteren Figurenzeichnung in „Gehe hin, stelle einen Wächter“. In beiden Romanen nimmt Harper Lee die Perspektive der Jean Louise („Scout“) Finch ein, allerdings ist „Wer die Nachtigall stört“ in der Ich-Form geschrieben, „Gehe hin, stelle einen Wächter“ dagegen in der dritten Person Singular. Und selbstverständlich ist Jean Louise Finch in der 20 Jahre später spielenden Handlung kein Kind mehr.

Übrigens heißt es in „Gehe hin, stelle einen Wächter“, Atticus Finch habe für den von ihm verteidigten Afroamerikaner, der wegen der angeblichen Vergewaltigung eines weißen Mädchens angeklagt war, einen Freispruch erreicht. In „Wer die Nachtigall stört“ halten die Geschworenen den Angeklagten Tom Robinson dagegen für schuldig.

Das Thema Rassismus ist auch ein halbes Jahrhundert nach der Entstehung von „Gehe hin, stelle einen Wächter“ noch immer virulent. Der Vater-Tochter-Konflikt ist ohnehin zeitlos. Harper Lee schreibt einfach und klar verständlich. Die immer wieder eingebauten Rückblenden wirken für ein in den Fünfzigerjahren geschriebenes Buch überraschend modern.

Der Titel bezieht sich auf einen Ausspruch von John Hale Finch:

„Die Insel eines jeden Menschen, Jean Louise, der Wächter eines jeden Menschen ist sein Gewissen. So etwas wie ein kollektives Gewissen gibt es nicht.“

Dieser Satz bezieht sich auf eine Stelle im Buch Jesaja:

Denn der Herr sagte zu mir: Gehe hin, stelle einen Wächter, der da schaue und ansage. (Kapitel 21, Vers 6)

Den Roman „Gehe hin, stelle einen Wächter“ von Harper Lee gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Nina Hoss (Regie: Roman Neumann, ISBN 978-3-8445-1980-8).

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2015
Textauszüge: © Deutsche Verlags-Anstalt

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