Siegfried Lenz : Fundbüro

Fundbüro
Fundbüro Originalausgabe: Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2003 Taschenbuchausgabe: dtv, München 2005
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Es geht um Finden und Verlieren, auch um die Verlierer in der Gesellschaft, die um ihren Arbeitsplatz bangen müssen oder durch den Hass auf Ausländer bedroht werden. "Fundbüro" ist ein nostalgisches Plädoyer für die Rückbesinnung auf Zeiten mit weniger Hektik und Konkurrenzkampf.
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Kritik

Warmherzig schildert Siegfried Lenz, was dem 24-jährigen Protagonisten widerfährt, der nur an das Hier und Jetzt denkt, sich keine Ziele setzt und keine Karriere anstrebt. "Fundbüro" ist eine einfache, altmodisch-rührende Geschichte.
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Henry Neff ist vierundzwanzig. Sein Großvater Edmund gründete das beste Porzellangeschäft in der Stadt, das heute noch seinen Namen und den seines Partners Josef Plumbeck trägt. Bei „Neff und Plumbeck“ ist Henrys Schwester Barbara für den Einkauf verantwortlich. Sie wohnt mit der Mutter im Elternhaus und hilft Henry, der in einer eigenen kleinen Mietwohnung lebt, regelmäßig mit kleinen Geldbeträgen aus. Henry wollte nicht im Familienunternehmen arbeiten, sondern ist wie sein Onkel Richard Neff – der es inzwischen zum Bereichsleiter gebracht hat – als Zugbegleiter zur Bahn gegangen. Weil es ihm keinen Spaß machte, dass sich ständig Fahrgäste bei ihm über Unzulänglichkeiten der Bahn bei ihm beschwerten, ließ er sich jetzt zum Fundbüro im Bahnhof seiner Heimatstadt versetzen.

Hannes Harms, der Leiter des Fundbüros, war bis vor fünfzehn Jahren Lokführer. Dann übersahen er und ein junger Lehrling ein paar schlecht beleuchtete Warnschilder und fuhren deshalb zu schnell in eine Baustelle. Aus den entgleisten Waggons wurden einige Verletzte geborgen. Obwohl nicht er, sondern der Lehrling gefahren war, übernahm Harms die Verantwortung für den Unfall und wurde deshalb strafversetzt. Seinen neuen Mitarbeiter begrüßt er mit den Worten:

„Sie sind jetzt vierundzwanzig, Herr Neff, vierundzwanzig, mein Gott, da müsste man die erste Schiene gelegt haben, auf ein Ziel zusteuern, wenn Sie wissen, was ich meine. Und jetzt sind Sie bei uns gelandet, auf unserem Abstellgleis, ja, in gewisser Weise müssen Sie sich wie auf einem Abstellgleis vorkommen, denn von hier aus beginnt man keine Laufbahn, bei uns gibt es keine Aufstiegsmöglichkeiten, irgendwann fühlt man sich ausrangiert.“ (Seite 13)

Aber der Vierundzwanzigjährige zeigt keinerlei Ehrgeiz oder Karriereabsichten:

„Mir genügt’s, da zu bleiben, wo ich bin, Klimmzüge sind mir schon immer lächerlich vorgekommen.“ (Seite 58f)

Harms macht Henry mit seinen beiden Kollegen bekannt: Albert Bußmann wohnt mit seinem neunzigjährigen Vater Wilhelm zusammen, der bei jeder Gelegenheit harmlose Lügengeschichten von angeblichen Heldentaten als zweiter Lokführer bei der Transsibirischen Eisenbahn erzählt und sich aufgrund seiner Verwirrung hin und wieder verläuft. Paula Blohm ist offenbar häufig allein zu Hause, denn ihr Ehemann Marco ist als Schauspieler und Synchronsprecher viel unterwegs, aber sie schaut jeden seiner Filme an. Ihr Bruder Hubert kennt kaum etwas anderes als sein Motorrad.

[Henry:] „Alles ist ersetzbar – auf irgendeine Weise.“
„Nein, junger Freund“, sagte Harms, „da irren Sie sich; nicht alles ist ersetzbar, es gibt Verluste, die nichts ausgleicht, die einfach unwiderruflich sind; Sie werden es einsehen, wenn Sie noch etwas länger bei uns bleiben.“ (Seite 90)

Im Fundbüro kommt Henry nicht aus dem Staunen heraus. Was die Leute alles verlieren! Jedes verlorene Teil ist mit einer Lebensgeschichte verbunden. Das regt Henrys Fantasie an und interessiert ihn mehr als Geld oder Karriere. Ein Mädchen hat den Verlobungsring verloren, den schon die Mutter ihres Bräutigams getragen hatte. Es fällt Henry nicht schwer, den Spezialkoffer mit Wurfmessern zu identifizieren, nach dem ein Artist fragt, aber er besteht darauf, dass der Messerwerfer durch eine Vorführung seiner Kunst an Ort und Stelle den „Eigentumsbeweis“ erbringt. Einer jungen Schauspielerin, Sylvia Frank, händigt er das verlorene Textbuch erst aus, nachdem sie einige Passagen daraus vorgetragen hat. Einmal liefert der Bahnpolizist Matthes eine in einem Zug versteckte Puppe ab, in der 12 000 D-Mark stecken. Als ein vierzehn- oder fünfzehnjährige Junge auftaucht und vorgibt, die Puppe verloren zu haben, telefoniert Paula nach der Bahnpolizei, erreicht jedoch niemand. Der Junge packt die Puppe und rennt weg. Paula und Henry verfolgen ihn, aber er entkommt ihnen. Am Bahnsteig beobachtet Paula, wie ein gut gekleideter Herr seinen Koffer stehen lässt und die Umstehenden ignoriert, die ihn darauf aufmerksam machen wollen. Sie trägt ihm den Koffer zum Zug nach. Ohne ein Wort des Dankes nimmt er ihn, doch als der Zug anfährt, wirft er ihn aus der Waggontür. In dem Koffer finden Paula und Henry verwahrloste, offenbar bei jedem Wetter getragene Kleidungsstücke.

Ein anderes Mal prallt ein Fahrgast, der beim Einlaufen des Zugs in den Bahnhof abspringt, gegen einen Gepäckwagen und verletzt sich. In der Bahnhofsmission wird er verbunden, und beim Fortgehen vergisst er seinen pelzbesetzten Koffer. Henry nimmt das Fundstück auf und erfährt in der Bahnhofsmission, der Verlierer habe angegeben, für ihn sei ein Zimmer im Hotel „Adler“ reserviert. Weil das nicht weit vom Bahnhof ist, bringt Henry das Gepäckstück dort selbst vorbei. Der Koffer gehört Dr. Fedor Lagutin, einem baschkirischen Mathematiker von der Universität Sarátow, der von der Technischen Hochschule zu einem Forschungsaufenthalt eingeladen worden war und genauso alt ist wie Henry: vierundzwanzig. Die beiden finden sich sympathisch und wollen sich wiedersehen.

Auf dem Nachhauseweg wird Henry einmal auf dem betonierten Platz vor den Mietshäusern, in denen er wohnt, von einem halben Dutzend Motorradfahrern umkreist und bedroht, aber es gelingt ihm, einen von ihnen umzustoßen und sich ins Haus zu retten.

Um die Bahn wieder rentabel zu machen, stehen „Umstrukturierungen“ an. Gerüchten zufolge sollen mehr als 50 000 Arbeitsplätze eingespart werden. Auch im Fundbüro sieht ein Rationalisierungsexperte sich um.

Henry ist Mitglied einer Eishockeymannschaft. Bei einem Spiel, zu dem er auch Barbara und Fedor eingeladen hat, wird er verletzt: Der Puck trifft ihn an der Stirn. Eine aufgeplatzte Augenbraue muss im Krankenhaus genäht werden.

Später stellt Henry überrascht fest, dass sich Fedor und seine Schwester Barbara inzwischen offenbar mehrmals verabredet haben.

Freudig teilt Fedor seinem Freund am Telefon mit, dass er ein Sonderstipendium erhält und länger als geplant bleiben kann. Er kommt gleich vorbei, um die gute Nachricht mit Henry zu feiern. Der beobachtet vom Fenster aus, wie die Motorradgang den Baschkiren bedroht. Er rennt hinunter. Da zerbirst die Scheibe der Haustür. Fedor hat sie auf der Flucht vor den Angreifern eingeschlagen und sich dabei am Arm verletzt. Im Krankenhaus sagt er zu Henry und Barbara, er habe den Hass in den Augen der Jugendlichen gesehen und könne das nicht verstehen. Sie kannten ihn doch gar nicht.

Kurze Zeit später kommt Paula zu spät zur Arbeit, weil sie sich um ihren Bruder Hubert kümmern musste, der mit seinen Motorradfreunden von der Eishockeymannschaft zusammengeschlagen worden war, zu deren Spielern auch Henry gehört. Sie verdächtigt deshalb ihren Kollegen, dabei gewesen zu sein, aber er versichert ihr, er habe nichts damit zu tun gehabt.

Bußmann pflegt während der Arbeit heimlich zu trinken. Eines Tages findet Henry ihn sturzbetrunken zwischen den Regalen. Bußmann ist verzweifelt, denn aufgrund der „Umstrukturierungen“ bei der Bahn schickt man ihn in den Vorruhestand. Henry, der sonst alles hinnimmt, wie es ist, geht zu seinem Onkel, aber der bestätigt, dass im Fundbüro eine Stelle eingespart werden muss und kann nichts für ihn tun. Dann muss er das Gespräch abbrechen, weil sich ein junges Mädchen beim Einlaufen des „Wilhelm Raabe“ vor den Zug geworfen hat.

Fedor lädt Henry und Barbara ein, ihn zu einer Studenten-Fete der Technischen Hochschule zu begleiten. Dort stellt er sie dem stellvertretenden Rektor Alexis Cassou vor, und der erzählt ihnen, wie er im Krieg seine Schwester Sophie verlor. Sie war damals sechs, ein Jahr jünger als er selbst. Bevor die Rote Armee anrückte, schickte die Mutter sie zu den Großeltern aufs Land. Der Bus wurde beschossen und schleuderte in den Straßengraben. Alexis war eingeklemmt und musste hilflos zusehen, wie seine verletzte Schwester von Soldaten auf einen LKW gehoben und mit anderen Verletzten zusammen weggebracht wurde. Da er auch nach dem Krieg nichts mehr von Sophie hörte, glaubte er, sie sei beim Untergang eines Flüchtlingsschiffes ertrunken. Neunzehn Jahre später traf er bei einer Konferenz in Montreal eine etwa gleichaltrige Dolmetscherin namens McFarland und lud sie zum Essen ein. Ein Mann kam an den Tisch, und sie stellte vor: „Arnold McFarland, mein Mann – Alexis Cassou, mein Bruder.“

Als Fedor mit Barbara von der Tanzfläche zurückkehrt, meint ein Ehepaar am Nachbartisch deutlich hörbar, es rieche plötzlich „streng nach Ziege“. Wortlos steht Fedor wieder auf. Henry und Barbara glauben, dass er die Toilette aufsucht, doch er nimmt sich ein Taxi, fährt zum Hotel und reist noch am selben Abend ab. Die ausländerfeindlichen Worte haben ihn stärker verletzt als die Schläge der Motorradfahrer und die Glassplitter der Tür.

Als Henry sieht, wie der aus Nigeria stammende Briefträger Joe von fünf oder sechs Motorradfahrern angegriffen wird, packt er einen Eishockeyschläger, kommt ihm zu Hilfe und schlägt die Jugendlichen in die Flucht.

Um seinen Platz im Fundbüro für Bußmann frei zu machen, bittet Henry seine Schwester, ihm irgendeine Stelle im Familienunternehmen zu verschaffen. Doch es ist umsonst: Nach einem Schlaganfall Bußmanns ist nicht mehr damit zu rechnen, dass er seine Arbeit wieder aufnehmen könnte.

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In dem Roman „Fundbüro“ geht es – wie aufgrund des Titels nicht anders zu erwarten – um Finden und Verlieren, auch um die Verlierer in der Gesellschaft, die um ihren Arbeitsplatz bangen müssen oder durch den Hass auf Ausländer bedroht werden. „Fundbüro“ ist ein Plädoyer für die Rückbesinnung auf Zeiten mit weniger Hektik und Konkurrenzkampf.

„Hör dir doch nur mal an, wie die reden“, sagte Barbara, „alles muss launig klingen, lustig, witzig, sogar der Verkehrsbericht, und wenn sie von einer Massenkarambolage berichten, wird der Bericht noch mit Musik unterlegt. Die trauen einem nicht zu, fünf sachliche Sätze in Ruhe anhören zu können.“ (Seite 103f)

Warmherzig und nostalgisch schildert Siegfried Lenz, was dem vierundzwanzigjährigen Protagonisten widerfährt, der nur an das Hier und Jetzt denkt, sich keine Ziele setzt und keine Karriere anstrebt. „Fundbüro“ ist eine einfache, altmodisch-rührende Geschichte. Da es sich bei den Hauptfiguren um lauter gutmütige Menschen handelt, kommt es zwischen ihnen kaum zu Reibungen oder gar zu ernsten Problemen. Auch als Henry mit der von ihm umworbenen Kollegin Paula ins Kino geht und er sie anschließend nach Hause bringt, reagiert deren vorzeitig von den Dreharbeiten heimgekehrter Ehemann nicht etwa eifersüchtig, sondern er begrüßt den Rivalen wie einen Freund. Die Welt, die hier beschrieben wird, ist trotz anonymer Rationalisierungskommissionen und ausländerfeindlich gesinnter Rocker und Akademiker eine etwas kitschig geratene Idylle. Obwohl die Geschichte offenbar in den Neunzigerjahren spielt, weil in den Rundfunknachrichten über die geplante Osterweiterung der Europäischen Gemeinschaft berichtet wird, schließen die Zugtüren noch nicht automatisch, schreibt man in diesem Fundbüro noch auf der Schreibmaschine statt mit dem Computer, und wer auf der Straße telefonieren möchte, muss eine Telefonzelle suchen, weil es offenbar noch keine Handys gibt.

Über einen jungen Mann, der sich jedem Karriere- und Konkurrenzdenken entzieht, aber ausgerechnet in einer ehrgeizigen Eishockeymannschaft spielt – was so gar nicht zusammenpasst –, hätte ich schon gern mehr erfahren, vor allem warum er so geworden ist. Doch über Henrys Kindheit und Jugend schreibt Siegfried Lenz kein Wort, sein Vater wird nicht erwähnt, und auch von der Mutter heißt es nur, dass sie Henry nichts übel nimmt.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2003
Textauszüge: © Hoffmann und Campe

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