Doris Lessing : Das fünfte Kind

Das fünfte Kind
Originaltitel: The Fifth Child Jonathan Cape, London 1988 Das fünfte Kind Übersetzung: Eva Schönfeld Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1988
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Harriet und David Lovatt haben vier Kinder und gelten als vorbildliche Familie. Das ändert sich mit dem fünften Kind: Ben ist ein Monster, das Haustiere erwürgt und seine vier Geschwister bedroht. Harriet geht daran beinahe zugrunde und stimmt zu, Ben in ein Heim zu bringen, aber als sie die Verhältnisse dort sieht, holt sie ihn zurück. Darüber zerbricht die früher glückliche Familie.
mehr erfahren

Kritik

In dem Familiendrama "Das fünfte Kind" entwickelt Doris Lessing ein auswegloses Horrorszenario mit einem Kind, das ältere Schichten der Menschheitsgeschichte zu personifizieren scheint.
mehr erfahren

Der dreißigjährige Architekt David und die sechs Jahre jüngere Verkaufsangestellte Harriet lernen sich bei einer Betriebsfeier in London kennen. Wegen ihrer konservativen Ansichten beispielsweise über vorehelichen Sex gelten sie als Außenseiter. Zwischen ihnen ist es Liebe auf den ersten Blick: Harriet, die noch Jungfrau ist, geht noch am gleichen Abend mit David ins Bett, zieht kurz darauf zu ihm, und einige Monate später heiraten sie.

Obwohl sie es sich eigentlich nicht leisten können, kaufen sie ein altes Haus außerhalb von London – und Harriet wird vom ersten Koitus im neuen Schlafzimmer schwanger. Eigentlich hätten sie aus finanziellen Gründen erst noch zwei Jahre warten wollen, aber da sie sich viele Kinder wünschen, freuen sie sich. Und Davids Vater James Lovatt übernimmt die Abzahlung der Hypothek.

Davids Eltern Molly und James ließen sich scheiden, als er sieben Jahre alt war. Molly ist inzwischen mit dem Geschichtsprofessor Frederick Burke in Oxford verheiratet, und James reist mit seiner zweiter Frau Jessica durch die Welt. Er ist Schiffbauer, und Jessica hat ebenfalls einiges an Vermögen mit in die Ehe gebracht.

Luke wird 1966 geboren. Zwei Jahre später bekommt er eine Schwester: Helen. 1970 folgt Jane. Nach der Geburt von Paul im Jahr 1973 möchte das Paar eine Pause einlegen und erst später weitere Kinder zeugen, denn Harriet ist durch die vier Schwangerschaften und die Kinder völlig erschöpft, auch wenn ihre verwitwete Mutter Dorothy im Haus hilft.

Das große Haus eignet sich hervorragend für Familientreffen. Zu allen Anlässen kommen deshalb Davids und Harriets Angehörige bei ihnen zusammen und freuen sich über die Vorzeigefamilie mit vier Kindern.

Harriets Schwester Sarah hat es weniger gut getroffen: Sie ist mit einem Mann namens William unglücklich verheiratet, mag aber nicht an Scheidung denken, weil sie drei Kinder hat, und als das vierte Kind, Amy, mit dem Down-Syndrom geboren wird, kommt eine Trennung für Sarah ohnehin nicht mehr in Frage.

Als die Familie sich an Weihnachten 1973 wieder bei den Lovatts trifft, ist Harriet zu ihrer eigenen Bestürzung erneut schwanger. Im Frühjahr sucht sie ihren Arzt Dr. Brett auf, denn sie weiß sich nicht mehr zu helfen: Der Fetus in ihrem Bauch tritt so kräftig, dass sie hin und wieder aufschreit. Dr. Brett verschreibt ihr Beruhigungstabletten, die das ungeborene Kind wenigstens für eine Stunde sedieren. Fast einen Monat zu früh setzen die Wehen ein, und unter großen Schmerzen gebiert Harriet ihr fünftes Kind, einen kräftigen Jungen, der den Namen Ben erhält.

Nach ein paar Wochen fallen Dorothy die Hämatome an den Brüsten ihrer Tochter auf. Die Höfe von Harriets Brustwarzen sind wund und blutunterlaufen. Deshalb drängt ihre Mutter sie zum Abstillen.

Der Kleine sieht wie ein bösartiger Troll aus und benimmt sich auch so. Bekannte, Freunde und Verwandte fühlen sich von ihm so abgestoßen, dass sie sich von David und Harriet zurückziehen. Einmal hört Harriet zufällig, wie Sarah zu einer anderen Verwandten sagt: „Dieser Ben macht mir eine Gänsehaut. Er kommt mir wie ein Wechselbalg vor, oder ein böser Gnom oder so was.“

Während der Weihnachtsferien blieb er in seinem Zimmer eingeschlossen. Es war bemerkenswert, wie die Gäste nach der vorsichtigen Frage: „Wie geht es Ben?“ und der Antwort „Gut!“ jede weitere Erkundigung unterließen.

Als Paul versucht, mit seinem kleinen Bruder Kontakt aufzunehmen, zu ihm ins Zimmer geht und die Hand durchs Gitterbett streckt, packt Ben sie, zerrt mit aller Kraft daran und verrenkt dem schreienden Paul den Arm. Danach ist es nicht mehr erforderlich, die anderen drei Geschwister vor Ben zu warnen.

Kurze Zeit später erwürgt Ben zuerst einen Hund und dann eine Katze.

Als er zum ersten Mal freihändig dastand, erhob er ein Triumphgeschrei. All die anderen Kinder hatten in diesem Moment gelacht, gekichert und gefordert, für ihre Leistung bewundert und besonders geliebt zu werden. Bei Ben keine Rede davon.

Aus Mitleid mit ihrer Tochter bietet Dorothy an, eine Woche mit Ben allein im Haus zu bleiben, damit der Rest der Familie verreisen kann. David und Harriet, Luke, Helen, Jane und Paul verbringen glückliche Tage in Frankreich. Als sie wieder nach Hause kommen, bemerken sie die Hämatome an Dorothys Armen und die Beule an ihrer Stirn. Entnervt rät sie dazu, Ben in eine Anstalt zu bringen. David sieht die Notwendigkeit ein, denn nicht nur die Erwachsenen, sondern vor allem auch Bens Geschwister leiden unter dem boshaften, hyperaktiven Kerl. Bevor Harriet sich dazu durchringen kann, sorgen Molly und Frederick im Einverständnis mit David dafür, dass Ben abgeholt wird. Beim Abendessen kommentiert Luke: „Ben ist nur weggebracht worden, weil er nie richtig zu uns gehört hat.“

In den nächsten Tagen dehnte sich die Familie aus wie Papierblumen im Wasser.

David nimmt mehrere Tage Urlaub, damit er sich seiner Frau und den anderen vier Kindern widmen kann.

Alles scheint wieder gut zu werden, aber da beschließt Harriet, nach ihrem jüngsten Sohn zu sehen. Fünf Stunden dauert die Autofahrt bis zu dem Heim im Norden Englands. Dort ist man keine Besuche gewohnt, aber Harriet lässt sich nicht abweisen: Sie besteht darauf, Ben sofort zu sehen. Der Dreijährige liegt bewusstlos, nackt in einer Zwangsjacke auf einer uringetränkten Schaumstoffmatratze in einer Kammer, deren gepolsterte Wände mit Fäkalien verschmiert sind. Die beiden überlasteten Pfleger des Heims bringen den Jungen in eine Nasszelle, legen ihn auf eine schiefe Betonebene und duschen ihn, bevor sie ihn in eine saubere Zwangsjacke stecken. Sie können es kaum glauben, als Harriet sagt, sie werde ihren Sohn auf der Stelle mit nach Hause nehmen, aber als sie begreifen, dass sie es ernst meint, geben sie ihr Beruhigungsspritzen mit und raten ihr dringend, die Zwangsjacke erst einmal nicht abzunehmen.

Allmählich gewöhnt Ben sich wieder an sein Kinderzimmer. Seine Panikattacken und Tobsuchtsanfälle werden seltener. Nach einigen Tagen reduziert Harriet die Häufigkeit der Injektionen und dann nimmt sie ihm auch die Zwangsjacke ab.

Sie findet einen Jugendlichen, der sich ein paar Pfund verdienen will, indem er ihren verwahrlosten Garten in Ordnung bringt. Ben weicht John nicht von der Seite. Nachdem die Arbeit getan ist, bezahlt Harriet John dafür, dass er Ben tagsüber bei sich hat. John gehört zusammen mit Gleichaltrigen wie Barry, Rowland und Henry zu einer Motorradgang. Ben wird für sie zu einer Art Maskottchen, und er freut sich, wenn John ihn abholt. Die Jugendlichen haben keine Hemmungen, von Bens Eltern immer mehr Geld zu verlangen und beispielsweise auf deren Kosten mit Ben und ihren Mädchen für einige Zeit ans Meer zu fahren.

Nachts schläft Ben zu Hause. Weil er nicht zu brüllen aufhört, wenn er in seinem Zimmer eingesperrt wird, verzichten Harriet und David darauf, aber Bens Geschwister schließen daraufhin aus Angst vor ihrem kleinen Bruder vor dem Schlafengehen leise ihre Türen ab.

Luke ist dreizehn, Helen elf, da ersuchen sie ihre Eltern darum, in Internate gehen zu dürfen. In den Ferien fährt Helen meistens zu ihren Großeltern Molly und Frederick, Luke besucht dann James und Jessica. Jane hält sich gern bei Dorothy und Sarah auf. Sie hat ihre Cousine Amy ins Herz geschlossen. Paul bleibt zu Hause, aber er wirkt verstört und gilt in der Schule als Versager. Er hasst Ben, der einmal sogar versucht, ihn zu erwürgen und ihm damit einen gehörigen Schrecken einjagt. David übernimmt zusätzlich zu seiner Arbeit Fortbildungskurse an einer Abendhochschule und übernachtet an manchen Tagen bei einem Kollegen in London. Wenn er spätabends nach Hause kommt, fällt er nur noch müde ins Bett.

Ben wird eingeschult. Harriet bringt ihn morgens zur Schule, und John holt ihn mittags von dort ab. Nach zwei Jahren ziehen John, Barry, Rowland und Henry allerdings nach Manchester und verschwinden aus Bens Leben. Mit elf Jahren befreundet Ben sich mit seinem vier Jahre älteren Mitschüler Derek, der John ähnlich sieht. Ben, Derek, Billy, Elvis und Vic schwänzen häufig die Schule und bleiben mitunter tagelang fort. Verwundert stellt Harriet fest, dass die Älteren auf Ben hören und er so etwas wie der Anführer der Gang ist. Nach der Schule lungern Ben und seine Freunde in seinem Elternhaus herum, plündern den Kühlschrank oder lassen sich eine Pizza liefern. Sie verfügen über beunruhigend viel Geld. In den Lokalnachrichten häufen sich die Meldungen über Diebstähle, Raubüberfälle und Vergewaltigungen.

Als David einmal etwas früher nach Hause kommt, findet er Ben mit neun oder zehn Kumpanen vor dem Fernseher inmitten von Bierdosen, leeren Tüten und Speiseresten. Er verlangt, dass sie aufräumen und wirft sie dann hinaus. Weder er noch Harriet halten Ben zurück, der mit seinen Freunden das Haus verlässt.

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Das anfangs geschilderte Familienidyll ist nicht von langer Dauer. Dann entwickelt Doris Lessing in diesem Roman unaufhaltsam ein auswegloses Horrorszenario. Eindringlich und nuanciert schildert sie „das fünfte Kind“, das gewissermaßen eine abstoßende und zugleich faszinierende Personifikation primitiver Stadien in der Paläontologie darstellt.

Aufgrund des Erfolgs des packenden Familiendramas „Das fünfte Kind“ schrieb Doris Lessing unter dem Titel „Ben in the World“ („Ben in der Welt“, Übersetzung: Lutz Kliche, Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2000) eine Fortsetzung über das trostlose Schicksal Bens, der sich in der Welt nicht zurechtfindet.

Doris Lessing wurde am 22. Oktober 1919 in Persien geboren. Als sie fünf Jahre alt war, zogen ihre Eltern mit ihr nach Südrhodesien. Mit vierzehn brach sie die Schule ab, vier Jahre später verließ sie das Elternhaus und begann, sich als Büroangestellte durchzuschlagen. Nach zwei gescheiterten Ehen ließ sie sich 1949 in England nieder, wo im Jahr danach ihr erster Roman veröffentlicht wurde: „The Grass is Singing“ (deutsch: „Afrikanische Tragödie“, 1953).

2007 wurde Doris Lessing mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet.

Doris Lessing starb am 17. November 2013 in London. Sie wurde 94 Jahre alt.

Doris Lessing: Bibliografie (Auswahl)

  • Afrikanische Tragödie (The Grass is Singing, 1950)
  • Kinder der Gewalt (Children of Violence, 1952 – 1969)
  • Das goldene Notizbuch (The Golden Notebook, 1962)
  • Der Sommer vor der Dunkelheit (The Summer before the Dark, 1973)
  • Die Memoiren einer Überlebenden (The Memoirs of a Survivor, 1974)
  • Canopus im Argos (Canopus in Argos, 1979 – 1983)
  • Das fünfte Kind (The Fifth Child, 1988)
  • Ben in der Welt (Ben in the World, 2000)

 

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005 / 2013
Textauszüge: © Hoffmann und Campe

Doris Lessing: Das goldene Notizbuch

Ulla Hahn - Das verborgene Wort
"Das verborgene Wort" ist ein bewegender Entwicklungsroman und zugleich eine detailreiche Milieustudie. Ulla Hahn schreibt aus der subjektiven Perspektive der Hauptfigur. Das wirkt authentisch und tragikomisch.
Das verborgene Wort