Lucia Cremonini


Am 5. Dezember 1709 zeigt der in Bologna lebende Dienstmann Domenico Prata das dreiundzwanzigjährige unverheiratete Nachbarmädchen Lucia Cremonini an. Sie habe ihr neugeborenes Kind umgebracht, meint er. Der Gerichtsschreiber Antonio Tombesi lässt sich von ihm zum Haus von Cesare Barbieri führen, in dem Lucia mit ihrer verwitweten Mutter Caterina Cremonini eine Dachkammer bewohnt. Caterina Cremonini ist nicht zu Hause; ihre Tochter liegt im Bett. Tombesi verhört sie und findet in einer Tasche hinter dem Bett die Leiche eines neugeborenen Jungen mit einer tiefen Schnittwunde vom Mund bis zum Hals.

Lucia Maria Cremonini wurde am 29. September 1686 in Manzolino zwischen Modena und Bologna geboren. Nach dem Tod ihres Vaters Nicola zog sie vor einigen Monaten mit ihrer Mutter nach Bologna. Während Lucia als Haushaltshilfe arbeitete, verdingte sich ihre Mutter als Tagelöhnerin. Caterina Cremonini kehrt an diesem Vormittag von einem Bauernhof in Ravone zurück.

Die Polizei nimmt beide Frauen fest. Aufgrund ihres Gesundheitszustands muss Lucia allerdings nicht ins Gefängnis, sondern wird ins Ospedale della Morte eingeliefert und dort bewacht.

Nachdem die Gerichtsmediziner Giuseppe Raimondi und Ignazio Salteri die Leiche des Säuglings untersucht haben, wird sie der Anatomie übergeben. Eine Beerdigung des namenlosen Jungen kommt nicht in Betracht,

denn ohne Taufe – so glaubt man – verfällt er ewiger Verdammnis. Raimondi und Salteri kommen zu dem Schluss, dass der Junge lebend zur Welt kam und „ein an allen Körperteilen und Gliedern wohlgestaltetes Kind mit Haaren auf dem Kopf und Nägeln an Händen und Füßen“ war (Seite 22). Barbara Lucignani und Anna Maria Natali, zwei Hebammen, stellen nach einer Untersuchung Lucia Cremoninis fest, dass sie unlängst ein Kind gebar und es dabei keine Komplikationen gab.

Am 10. Dezember werden die beiden Nachbarinnen Marta Billi und Francesca Pilati vernommen.

Erst am 23. Dezember verhört man Caterina Cremonini. Sie behauptet, von der Schwangerschaft ihrer Tochter nichts bemerkt zu haben. Da sie zur Tatzeit nicht im Haus war, lässt der Richter sie frei. Über ihr weiteres Schicksal ist nichts bekannt.

Lucia Cremonini muss das Krankenhaus am 29. Dezember verlassen, und man bringt sie ins Gefängnis. Bei dem am selben Tag stattfindenden zweiten Verhör leugnet sie den Kindsmord wie bei der ersten Befragung durch den Gerichtsschreiber in ihrem Zimmer. Doch zwei Tage später gibt sie alles zu, schildert den Hergang des Verbrechens und wie es dazu kam.

Ein junger Priester habe sie im letzten Karneval entjungfert, gibt sie zu Protokoll. Der Geistliche, von dem sie nie wieder etwas hörte, müsse der Vater des Kindes sein, weil sie danach nie wieder mit einem Mann zusammen gewesen sei. Am Morgen des 5. Dezember, als sie allein in der Wohnung war, gebar sie einen Jungen, den sie unmittelbar darauf mit einem Küchenmesser tötete.

Der Armenadvokat Giacomo Arrighi, der Lucia Cremonini verteidigt, gibt zu bedenken, dass seine einfältige Mandantin aus Not gehandelt habe, um dem mit der Geburt des unehelichen Kindes verbundenen Ehrverlust zu verhindern.

Weil die Kirche unnötiges Aufsehen vermeiden möchte, versucht niemand, den Vater des ermordeten Kindes ausfindig zu machen.

Nachdem die Untersuchung abgeschlossen ist, tritt am 16. Januar 1710 eine Strafkongregation unter dem Auditor Kardinal Marco Antonio Venturini aus Rom zusammen. Das Verfahren findet in Abwesenheit der Angeklagten statt. Das Gericht verurteilt Lucia Cremonini zum Tod am Strang und setzt den 22. Januar als Hinrichtungsdatum fest.

In der letzten Nacht wird Lucia Cremonini von drei Mitgliedern der Bologneser Bruderschaft – dem Vorsteher Ritter Antonio Francesco Codrone Argeli, dem Meister Carlo Antonio Bedori und dem Eleven Don Nicolò Maria Bernardi – aus dem Gefängnis geholt und ungefesselt in den einer aristokratischen Senatorenfamilie gehörenden Palazzo Pietramellara gebracht. Dort beichtet sie. Man behandelt sie freundlich und redet ihr gut zu. Lucia Cremonini bereut ihre Tat und büßt, indem sie freiwillig Durst leidet. Obwohl ihr eine Henkelsmahlzeit zusteht, kann sie nur mit Mühe überredet werden, etwas zu essen.

Am Morgen besteigt Lucia Cremonini vor den Augen einer großen Menschenmenge das auf der Piazza Maggiore errichtete Schafott. Sie bleibt gefasst, bis der unbeholfene Henker sich ihr mit einem Messer in der Hand nähert und sie befürchtet, erstochen zu werden. Dabei will er ihr nur das Halsband abschneiden, an dem sie ein Kreuz trägt.

Ein Begräbnis wird der hingerichteten Kindsmörderin ebenso wie ihrem ungetauften Neugeborenen verweigert; auch ihre Leiche wird in die Anatomie gebracht und für Sezierkurse verwendet.

Das Schicksal Lucia Cremoninis regte den italienischen Religionshistoriker Adriano Prosperi (*1939) dazu an, ausgehend von dem Kindsmord darzustellen, wie sich die Auffassungen von Theologen, Juristen und Ärzten über das Wesen des Menschen bzw. das Verhältnis von Leib und Seele vom Mittelalter bis zur Aufklärung veränderten. Hier finden Sie zusammengefasst, was Adriano Prosperi in seinem Buch „Die Gabe der Seele. Geschichte eines Kindsmordes“ über den Fall Lucia Cremoninis herausfand.

© Dieter Wunderlich 2007

Adriano Prosperi: Die Gabe der Seele

Philippe Djian - Die Leichtfertigen
Der Protagonist Francis, ein französischer Schriftsteller im Alter des Autors Philippe Djian, erzählt die Geschichte in der Ich-Form. Vieles in "Die Leichtfertigen" wird nur angedeutet. Die Sprache ist nüchtern und wirkt wie gemeißelt.
Die Leichtfertigen