Inland Empire

Inland Empire

Inland Empire

Inland Empire – Originaltitel: Inland Empire – Regie: David Lynch – Drehbuch: David Lynch – Kamera: David Lynch – Schnitt: David Lynch – Darsteller: Laura Dern, Jeremy Irons, Justin Theroux, Karolina Gruszka, Jan Hencz, Krzysztof Majchrzak, Grace Zabriskie, Ian Abercrombie, Karen Baird, Bellina Logan, Amanda Foreman, Peter J. Lucas, Harry Dean Stanton, Julia Ormond, Nastassja Kinski u.a. – 2006; 180 Minuten

Inhaltsangabe

Nikki Grace und Devon Berk übernehmen die Hauptrollen in dem Film "On High in Blue Tomorrows". Sie spielen ein Liebespaar – Susan Blue und Billy Side –, das von Sues eifersüchtigen Ehemann Piotrek bedroht wird. Eigentlich handelt es sich um ein Remake, aber das Original mit dem Titel "4 7" wurde nicht fertiggestellt, weil die Hauptdarsteller während der Dreharbeiten ermordet wurden. Nikki weiß bald nicht mehr zwischen Filmszenen und der Wirklichkeit zu unterscheiden ...
mehr erfahren

Kritik

"Inland Empire" weist keine narrative Struktur auf. Es ist ein Albtraum. Bild, Licht, Farbe, Schnitt und Ton verbinden sich zu einer poetisch-stilvollen Ganzheit, die sich einer rationalen Erklärung entzieht. Laura Dern spielt besonders eindrucksvoll.
mehr erfahren

Die amerikanische Filmschauspielerin Nikki Grace (Laura Dern) lebt mit ihrem aus Polen stammenden Ehemann Piotrek Król (Peter J. Lucas) in einer luxuriösen Villa in Hollywood. Sie hofft auf ein Comeback in dem Film „On High in Blue Tomorrows“. Eine in einem Waldhaus an derselben Straße wohnende, mit polnischem Akzent sprechende Frau (Grace Zabriskie) kommt vorbei, um sich vorzustellen. Nikki lässt ihr von ihrem Butler Henry (Ian Abercrombie) und einem Dienstmädchen (Karen Baird) Kaffee servieren. Die mysteriöse Besucherin versichert Nikki, sie werde die gewünschte Hauptrolle bekommen und fragt, ob es in dem Film um einen Mord gehe. Nikki wundert sich über die Frage und antwortet mit Nein, aber die Nachbarin verstört Nikki mit dunklen Andeutungen und Parabeln über verlorene Kinder.

Nachdem die Besetzung des Films „On High in Blue Tomorrows“ bekannt gegeben wurde, interviewt die Fernsehmoderatorin Marilyn Levens (Diane Ladd) die beiden Hauptdarsteller Nikki Grace und Devon Berk (Justin Theroux) in ihrer Sendung. In der Hoffnung auf einen Skandal fragt sie Devon mit anzüglichem Lächeln, ob er versuchen werde, seine Filmpartnerin ins Bett zu bekommen.

In einer Vorbesprechung gesteht der Regisseur Kingsley Stewart (Jeremy Irons) Nikki und Devon, sein Assistent Freddie Howard (Harry Dean Stanton) habe gerade herausgefunden, dass es sich bei „On High in Blue Tomorrows“ um ein Script für ein Remake handele. Die Produzenten hätten ihm das verschwiegen. Den Film mit dem Originaltitel „4 7“ (vier sieben) habe man allerdings niemals fertiggestellt, weil die beiden Hauptdarsteller während der Dreharbeiten ermordet wurden.

Nikki und Devon spielen Susan („Sue“) Blue und Billy Side. Sue verliebt sich in Billy, und er beginnt eine Affäre mit ihr, obwohl sie ihn vor ihrem eifersüchtigen Ehemann Piotrek (Peter J. Lucas) warnt.

Als Nikki in einer Drehpause durch eine Gasse geht und eine Türe öffnet, gerät sie in die Kulissen des Sets und sieht sich selbst mit Devon, Kingsley und Freddie am Tisch sitzen. Nikki weiß nicht mehr, ob sie sich im Film oder in der Wirklichkeit befindet.

Bei der Polizei meldet sich eine Frau namens Doris Side (Julia Ormond) und gibt zu Protokoll, man habe sie hypnotisiert und sie werde jemanden mit einem Schraubenzieher ermorden. Dann rammt sie sich selbst einen Schraubenzieher in den Bauch, und der Beamte schaut teilnahmslos zu.

Piotrek schließt sich dem baltischen Wanderzirkus „Zalewsky“ an. Einer der Artisten manipuliert die anderen und hält sie zu Verbrechen an. Weil er immer schon fort ist, wenn die Polizei zugreift, nennt man ihn „das Phantom“
(Krzysztof Majchrzak). Er kontrolliert auch die Clowns, die einen Mädchenhändlerring leiten, der Osteuropäerinnen in die USA lockt und dort zur Prostitution zwingt.

Nikki bzw. Sue gerät ebenfalls auf den Straßenstrich. In einer engen, düsteren Dachkammer erzählt sie es einem völlig desinteressierten Anwalt. Während er telefoniert, läuft sie davon.

Sie hat einen Schraubenzieher bei sich. Den entreißt ihr Doris Side auf einer Straße in Hollywood und ersticht sie damit. Kreischend laufen die Huren davon, während Sue sich über den Walk of Fame schleppt, bis sie zwischen Obdachlosen zusammenbricht. Unbekümmert um die Sterbende unterhalten sich eine Afroamerikanerin und die asiatische Geliebte eines Schwarzen über eine Busverbindung nach Pomona und eine Frau, deren Vagina durch ein Loch mit dem Darm verbunden ist. Nachdem Sue einen Schwall Blut gespuckt hat, hält ihr die Schwarze ein brennendes Feuerzeug vor die Augen und sagt: „Ist nicht schlimm, du stirbst nur. Jetzt gehst du ins Licht.“ Als Sue tot zu sein scheint, stellt sich heraus, dass es sich um eine Filmszene handelte. Sie steht auf, und Kingsley Stewart applaudiert ihr, aber Nikki geht wie in Trance weg.

Diese Szene sieht ein weinendes Mädchen (Karolina Gruszka) im Fernsehen.

Nikki nimmt eine Pistole und geht damit in ein schäbiges Hotel. Auf dem Korridor vor dem Zimmer 47 (!) schießt sie auf einen Mann, dessen Gesicht sich daraufhin in die Fratze einer Frau verwandelt.

Die Weinende, die im Fernsehen eine Sitcom mit einer Frau und zwei Männern in Hasenkostümen anschaute, glaubt, Nikki bzw. Sue komme zu ihr ins Zimmer und umarme sie. Aber sie bildet sich das nur ein. Als sie merkt, dass sie allein ist, läuft sie durch Korridore, bis sie auf Piotrek und einen Jungen trifft und die beiden nacheinander freudig in die Arme schließt.

Entspannt lächelt Nikki einige Edelnutten an. Sie sitzt auf einem Sofa neben einer Dame im Rüschenkleid (Nastassja Kinski).

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

„Inland Empire“ beginnt mit der Großaufnahme eines Plattenspielers, und wir hören ein polnisches Volkslied: „Ein kleines Mädchen wollte spielen, doch sie ging verloren, als wäre sie nur halb geboren.“ Ein Paar betritt den Raum. Die Gesichter auf den Schwarz-Weiß-Aufnahmen sind verwischt und unkenntlich gemacht. Der Mann fordert die Frau rüde auf, sich auszuziehen. Dann sehen wir eine weinende Frau – die von vorhin? –, vor einem Fernsehgerät. Über den Bildschirm flimmert eine Sitcom mit einer Frau und zwei Männern in Hasenkostümen. Die Dialoge ergeben keinen Sinn, aber hin und wieder wird Publikumslachen eingeblendet.

Ein Anfang. Dann noch ein Anfang. Und noch ein Anfang. Schließlich: der Anfang. So geht es los. Knappe drei Stunden später: das Ende. Und noch ein Ende. Und noch eins. Bis ans Ende. So weit zu Inland Empire, David Lynchs neuem Film […] Vier Schleifen zur Initiation, fünf Volten zum Schluss, dazwischen ein verspiegeltes Labyrinth – noch nie gab es so viele Fährten und Falltüren, Zeitsprünge, Ortswechsel und getauschte Identitäten wie dieses Mal. (Merten Worthmann, „Die Zeit“, 19. April 2007)

Zwar versuchte ich in der Inhaltsangabe, etwas wie eine Handlung aus „Inland Empire“ herauszufiltern, aber der Film weist eigentlich gar keine narrative Struktur auf, sondern lässt allenfalls Handlungsfragmente erkennen. Anfangs glaubt man noch, zwischen Nikki Grace und Susan Blue, Devon Berk und Billy Side unterscheiden zu können. Dabei ist es bereits verwirrend, dass Piotrek Krol der Ehemann sowohl von Nikki Grace als auch von Susan Blue ist. Bald verliert man völlig den Überblick. Panisch vor Angst geht Nikki durch labyrinthartige Korridore, verharrt in Räumen, blickt durch Fenster, und wenn sie Türen durchschreitet, gelangt sie in andere Welten. „Inland Empire“ ist ein Albtraum, in dem verschiedene Wirklichkeitsebenen verschmelzen. Das wirkt, als habe sich David Lynch nach dem Vorbild der Surrealisten (écriture automatique) von seinem Unbewussten leiten lassen.

Wie der Chor in einer griechischen Tragödie tritt mehrmals eine Gruppe von harpyienhaften Huren auf.

„Inland Empire“ lässt eine Fülle von Interpretationen zu, entzieht sich jedoch einer vollständigen Erklärung. David Lynch soll bei der Premiere selbst gesagt haben, er wisse nicht, wovon „Inland Empire“ handelt.

Die meisten Filme sind ganz einfach zu verstehen. Aber ich erzähle nicht bloß Geschichten, sondern arbeite mit Abstraktionen. Das Kino kann die Zuschauer in eine Welt jenseits des Intellekts entführen, in der sie sich ganz und gar ihren eigenen Intuitionen anvertrauen müssen. Es geht nicht darum, etwas zu verstehen, sondern darum, etwas zu erfahren […] Verwirrung kann sehr stimulieren! Es gibt viele Zuschauer, die es lieben, sich in einen Film fallen zu lassen. Wenn sie aus dem Kino kommen, wirkt er in ihnen fort, sie versuchen, sich einen Reim auf das zu machen, was sie gerade erlebt haben. Andere sind frustriert, weil sie nichts kapieren, fühlen sich verloren. (David Lynch im Interview mit Lars-Olav Beier und Andreas Borcholte, Spiegel online, 17. April 2007)

Natürlich ist der Film noch undurchsichtiger als seine Vorgänger. Aber damit wird zugleich klarer, dass es auf Durchblick weniger ankommt als auf die Magie des Rätselratens, auf den Sog des Geheimnisses, auf den britzelnden Betrieb unseres Bewusstseins (unseres „Inland Empire“), das im Gewitter der Andeutungen, Assoziationen und Ahnungen freudig erregt in Hochspannung gerät. (Merten Worthmann, a.a.O.)

Die Nahaufnahmen in „Inland Empire“ sind nicht selten so extrem, dass die Gesichter verzerrt wiedergegeben werden. Die Schnittfolge erzeugt einen fließenden Rhythmus. Wie zum Beispiel in „Koyaanisqatsi“ besteht die akustische Untermalung großenteils aus Minimal Music und monotonen Geräuschen, etwa einem Dröhnen. Bild, Licht, Farbe, Schnitt und Ton verbinden sich in „Inland Empire“ zu einem poetisch-stilvollen Kunstwerk. Ein Großteil der Wirkung basiert auf der außerordentlichen schauspielerischen Leistung von Laura Dern. Das gilt vor allem für die kafkaeske Szene, in der Nikki bzw. Sue einem desinteressierten feisten Anwalt in einer düsteren Dachkammer ihre Leidensgeschichte erzählt.

Dern, die für Lynch schon in Blue Velvet und Wild at Heart heulte, schrie und stöhnte, ist das pulsierende Herz von Inland Empire. Als fallender Engel geht sie durch eine Welt, als gestrandete Schlampe durch eine andere, und bewältigt, vibrierend vor Angst, Liebe und Ich-Verlust, ein extremes darstellerisches Auf und Ab. Dabei ist ihre erste Tour de Force für den Film fast untergegangen: Von einem 70-minütigen, mit dicker Lippe hingerotzten White-Trash-Monolog, dem ersten Glutkern des Projekts, sind nur noch Fragmente erhalten geblieben (darunter immerhin der schöne, sogar auf Lynchs Gesamtwerk beziehbare Satz: … It laid kind of a mindfuck on me).
(Merten Worthmann, a.a.O.)

Ob „Inland Empire“ zusammen mit „Lost Highway“ und „Mulholland Drive“ als Trilogie angesehen werden kann, ist umstritten.

Als Inland Empire werden drei Regionen in den USA bezeichnet. Auf eine davon – die zwischen Los Angeles und San Diego – bezieht sich der Titel des Films.

Die Schauspielerin Laura Dern kam bei mir vorbei und sagte, dass sie in meine Nachbarschaft gezogen sei. Diese Begegnung war ein Schlüsselerlebnis für mich, sofort hatte ich das starke Bedürfnis, mit ihr einen weiteren Film zu drehen. Und als mir Laura erzählte, dass sie aus einer Gegend im Osten von Los Angeles stammte, die Inland Empire genannt wird, war auch der Titel schon gefunden. (David Lynch im Interview, a.a.O.)

Übrigens trägt einer der Sterne auf dem Walk of Fame in Hollywood den Namen „Dorothy Vellens“. So hieß die von Isabella Rossellini in „Blue Velvet“ gespielte Nachtklubsängerin.

David Lynch drehte „Inland Empire“ mit einer handelsüblichen Kamera von Sony (DSR-PD150). Es ist sein erster digitaler Film. Die Dreharbeiten in Lodz und Los Angeles zogen sich zwei Jahre lang hin. Es gab kein Drehbuch, und David Lynch soll die Darsteller auch nur in die jeweiligen Szenen eingewiesen haben, ohne ihnen den Gesamtzusammenhang zu erläutern.

Die im Original nicht untertitelten polnisch-sprachigen Dialoge wurden in der deutschen Synchronisation mit übersetzt.

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2009

David Lynch (Kurzbiografie)

David Lynch: Der Elefantenmensch
David Lynch: Dune. Der Wüstenplanet
David Lynch: Blue Velvet
David Lynch: Wild at Heart
David Lynch: Twin Peaks
David Lynch: Lost Highway
David Lynch: The Straight Story / Eine wahre Geschichte
David Lynch: Mulholland Drive. Straße der Finsternis

Geir Pollen - Wenn die gelbe Sonne brennt
Geir Pollen nimmt sich Zeit für eine sorgfältige und sensible, komplexe und differenzierte Darstellung. "Wenn die gelbe Sonne brennt" ist eine stilsichere, melancholische Komposition, die bis zur letzten Zeile formal und inhaltlich fesselnd bleibt.
Wenn die gelbe Sonne brennt