Selma Mahlknecht : Helena

Helena
Helena Originalausgabe: Edition Raetia, Bozen 2010 ISBN: 978-88-7283-384-1, 214 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Helena wird wegen ihrer Schönheit angehimmelt, aber sie möchte nicht auf ihr Aussehen reduziert, sondern als Mensch wahrgenommen werden. Die Schönheit macht sie außerdem zum begehrten Objekt, und als Paris sie raubt, nimmt ihr Schwager Agamemnon dies als Vorwand, den längst aus Ruhmsucht angestrebten Krieg gegen Ilion zu beginnen. Helena befindet sich jedoch nicht in Ilion, sondern fristet ihr Dasein als Sklavin in Ägypten ...
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Kritik

Selma Mahlknecht hat die griechische Sage über die schöne Helena zum historischen Roman erweitert und lässt Helena statt von männlichen Heldentaten vom Leid der Frauen erzählen. Die zeitlos wirkende Handlung wird geradlinig und schnörkellos entwickelt.
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Prinzessin Helena wächst mit ihren Geschwistern Klytaimnestra, Kastor und Polydeukes am Hof des spartanischen Königs Tyndareos auf. Als sie noch Kinder sind, versprechen die Zwillinge Kastor und Polydeukes, Helena später zu heiraten, denn sie sind verliebt in sie. Sie behaupten, dass sie und Helena verschiedene Eltern hätten. Klytaimnestra bestätigt es und bezeichnet Helena als Kuckuckskind. Sie hasst ihre bildhübsche Stiefschwester, denn sie steht in deren Schatten. Was immer sie tut, niemand beachtet es. Helena wird dagegen wegen ihrer außergewöhnlichen Schönheit von allen geliebt.

Als Helena fünf oder sechs Jahre alt ist, beginnt König Tyndareos von ihrer Vermählung zu sprechen.

Bald darauf führt sie erstmals den Festzug zum Tempel der Artemis an. Im Gedränge droht sie verloren zu gehen, aber zwei leicht angetrunkene Fremde, die zu Besuch in Sparta sind – Theseus und Peirithoos – befreien sie aus der Menschenmenge und laden sie ein, mit ihnen zu kommen. Sie bringen Helena zu Theseus‘ Mutter Aithra nach Aphidnai. Die verwöhnte Prinzessin staunt, denn die alte Frau erledigt alle im Haushalt und bei der Bewirtschaftung des kleinen Hofes anfallenden Arbeiten ganz allein.

Keine Bediensteten, keine Köche, keine Stallknechte oder Gärtner, nur eine kleine alte Frau, die mit krummem Rücken den Hof fegte, das war das attische Aphidnai für mich. Aithra verrichtete alles allein, kochte, wusch, versorgte das wenige Vieh. Am Abend webte sie oder flickte an zerschlissenen Kleidern herum. Ich fühlte mich wohl bei ihr und bedauerte es nicht, als Theseus und Peirithoos schon nach wenigen Tagen wieder zu neuen Fahrten aufbrachen, übermütig und lärmend wie Kinder.

Während sich die Helden Theseus und Peirithoos von ihrer Abenteuerlust treiben lassen, bleibt Helena in Aphidnai. Obwohl Aithra schroff ist, fühlt Helena sich wohl bei der Frau, die sie nicht wie all die anderen Menschen wegen ihrer Schönheit anhimmelt.

Unzärtlich war sie, hart und kantig in ihren Gesten und Worten, spröde wie die Landschaft, und zugleich voller Wärme wie ein sonnendurchtränkter Stein am Abend, wenn die kühlen Brisen wehen. Aithra war mein Sonnenstein und ich die Eidechse, die sich an ihr wärmte und in ihrem Schatten verschwinden durfte, unsichtbar werden konnte vor den Blicken der Welt.

Kastor und Polydeukes suchen jedoch nach ihrer Schwester und kommen nach Aphidnai. Königin Aithra nehmen sie als Gefangene mit. In Sparta freuen sich alle bis auf Klytaimnestra über Helenas Rückkehr. Wie Theseus und Peirithoos bleiben auch die Dioskuren nicht lange in ihrer Heimat, sondern ziehen bald wieder los, um neue Heldentaten zu vollbringen.

Die Zahl der Freier, die um Helenas Hand anhalten, ist inzwischen noch größer als vor ihrer angeblichen Entführung. Unter ihnen ist Odysseus. Er ist kein plumper Keulenschwinger, sondern ein witziger Erzähler mit Geist und Fantasie. Das gefällt Helena. Er spricht mit ihr:

„Ich bin ein Suchender.“
„Und was suchst du?“
Er trat noch näher an mich heran.
„Heimat.“
„Ist denn nicht Ithaka deine Heimat?“
„Ja, das haben sie uns beigebracht, nicht wahr? Dass ein Ort unsere Heimat ist. Für mich aber gilt es nicht. Gilt es für dich, Prinzessin?“
„Aber was ist Heimat dann?“
„Genau danach suche ich“, antwortete er leise. „Danach suche ich. Bis zum Ende der Welt.“

Helena wäre bereit, Odysseus zu folgen, aber er weigert sich, sie mitzunehmen:

„Du bist eine schöne Frau, heißt es. Der Ruf deiner Schönheit klebt an dir wie Honig. Da bleibt das Ungeziefer nicht aus.“

Auf seinen Rat hin wählt Helena den Schwächsten der Freier als Bräutigam. Er heißt Menelaos. Rasch arrangiert Tyndareos eine Doppelhochzeit, bei der Klytaimnestra mit Menelaos‘ älterem Bruder Agamemnon verheiratet wird. Während Helena und Menelaos in Sparta bleiben, nimmt Agamemnon seine Frau mit nach Mykene, wo er als König herrscht.

Helena bringt einen Sohn zur Welt, aber er stirbt nach drei Wochen. Das nächste Kind ist ein Mädchen: Hermione. Klytaimnestra und Agamemnon haben inzwischen bereits einen Sohn und zwei Töchter: Orestes, Iphigenie und Elektra. Der Thronfolger Orestes wird schon als Kind mit Hermione verlobt.

König Tyndareos stirbt. Sein Schwiegersohn Menelaos, der ihm auf den Thron folgt, ist bescheiden und friedliebend. Agamemnon verachtet ihn deshalb und kritisiert das unmännliche Auftreten seines Bruders. Um nicht zum Gespött zu werden, übt Menelaos schließlich den Umgang mit Waffen.

Auf Rhodos wird Menelaos‘ Großvater, der Kreterkönig Katreus, ermordet. Menelaos reist ab, um an der Trauerfeier teilzunehmen, aber Helena bleibt zu Hause, denn sie ist zum vierten Mal schwanger. Während der Abwesenheit ihres Mannes überfallen Paris und Hektor Sparta. Die Söhne des Königs von Ilion verschleppen Helena und Aithra. Helena muss ihren kleinen Sohn Nikostratos in Sparta zurücklassen. Sie wird auch ihre sieben Jahre alte Tochter Herminione nie wieder sehen, die sich gerade für einige Monate bei Klytaimnestra und Agamemnon in Mykene aufhält, um ihren Verlobten Orestes näher kennenzulernen. Helena klagt gegenüber Aithra:

„Aber Hermione und Nikostratos …“
„Denk nicht mehr an sie. Sie sind nicht mehr Teil deines Lebens.“
„Warum sprichst du so hartherzig mit mir, warum nimmst du mir jede Hoffnung?“
„Weil ich weiß, was dir bevorsteht. Ich habe es selbst erlebt.“

Helena weiß, dass Agamemnon aus Gier, Ruhmsucht und Größenwahn darauf aus ist, Ilion zu erobern und nur auf einen Vorwand wartet, die Stadt anzugreifen. Den Kriegsgrund haben ihm nun Paris und Hektor geliefert.

Paris und Hektor nehmen die beiden geraubten Frauen mit an Bord ihres im Hafen von Gytheion liegenden Schiffes. Auf dem Meer geraten sie in eine Flaute. Es gibt kaum noch etwas zu essen und zu trinken, als sie endlich weitersegeln können. Nachdem die Besatzung auf der Insel Kranae Wasser und Nahrungsmittel bekommen hat, feiert sie ein Fest. Helena muss am Lagerfeuer tanzen. Paris reißt ihr die Kleider vom Leib und vergewaltigt sie. Dann fallen die anderen Männer über sie her. Von da an gibt es keine Zurückhaltung mehr: Die Männer vergreifen sich an Helena, wann immer ihnen danach ist. Weil sie sich nicht dagegen wehren kann, wird Helena apathisch.

Während sie gerade wieder vergewaltigt wird, platzt die Fruchtblase und sie bringt ihren Sohn Aganos zur Welt. Die Geburt nimmt sie wie alles andere hin.

Ich war ganz zum Tier geworden. Wenn man mir Essen zuwarf, nahm ich es, schlug rücksichtslos und mit stets gleichbleibender Gier die Zähne hinein. Legte Aithra mir mein Kind an die Brust, ließ ich sie gewähren, trug sie es wieder fort, wandte ich nicht den Kopf nach ihm. Kam einer der Männer, öffnete ich die Beine […]

Monate später erreichen sie das Schwarze Land. Die Haut der Bewohner ist dunkler als die der Griechen. Eine Abordnung kommt aufs Schiff und sieht sich dort um. Die Männer bleiben vor Helena stehen, die gerade Aganos stillt. Im Austausch gegen die „Milchkuh“ – wie sie Helena nennen – bieten sie Paris und Hektor die gewünschten Vorräte für die Schiffsbesatzung an. Paris übergibt dem Unterhändler Helena und Aithra als Sklavinnen. Aganos behält er auf dem Schiff. Wieder hat Helena ein Kind verloren.

An Land werden sie und Aithra sogleich getrennt.

Man bringt Helena zu einer alten Frau, hinter der sich ein dreijähriges Mädchen versteckt. Außerdem hält die Greisin einen mageren, ein paar Wochen alten Säugling im Arm. Helena stillt ihn und begreift, dass das ihre Aufgabe ist. Die beiden Kinder, deren Mutter verstorben ist, heißen Merit und Rai. Die alte Frau übergibt sie Helena und verlässt das Haus.

Niemand kennt den Namen der neuen Amme; sie wird kurzerhand Menat gerufen.

Als Rai nicht mehr gestillt zu werden braucht, nimmt sein Vater Helena und die Kinder mit auf ein Schiff, das sie flussaufwärts bringt. In Peru Nefer, dem Hafen der Metropole Men Nefer, gehen sie an Land. Sie besuchen Seti, einen der höchsten Beamten des Schwarzen Landes. Die verstorbene Mutter von Merit und Rai war seine Tochter.

Die Kinder kehren mit ihrem Vater wieder zurück, aber Helena bleibt in Men Nefer: Seti macht die Sklavin zur Gesellschafterin seiner 15-jährigen Nebenfrau Nofret. Drei der 14 Kinder des Greises sind älter als Nofret, und Helena entgeht nicht, dass Ramose, der Erstgeborene, seine Stiefmutter begehrt.

Es gibt zwar einen Königspalast im Schwarzen Land, aber regiert wird das Land von Priestern und Beamten. Helena ist von dem Reichtum überwältigt.

Als wir das Heiligtum erreichten, fühlte ich mich geradezu erdrückt von der Last seiner Pracht, und es gelang mir kaum, meinen Kopf gerade zu halten. Gedemütigt, winzig ging ich zwischen den wuchtigen Monumenten, den hochragenden Säulen, und ich fühlte meine Wangen vor Scham brennen. Wie war es möglich, dass ich in meinen fernen Tagen in Sparta nie etwas von der Herrlichkeit, von der erhabenen Größe des Schwarzen Landes gehört hatte? Mein Reich war ein kleines, herbes Stück Erde, auf dem die Schafe weideten und die Herrscher von der Unterwerfung der Welt träumten. Bettlerkönige waren wir gewesen und hatten es nicht gewusst.

Nofret verliert ihr erstes Kind während der Schwangerschaft. Weil Seti ihrer allmählich überdrüssig wird, fühlt Nofret sich einsam, und das verbittert sie.

Der Neid, der ihre Konkurrentinnen zerfraß, war stärker als sie. Die Intrige hatte längst ihre Schlingen nach Nofret ausgeworfen. Noch bewegte sie sich ahnungslos in den Mauern, die sie bald erdrücken würden. Ich warnte sie nicht und gab ihr keine Ratschläge. Wenn sie mich angstvoll ansah, lächelte ich, doch mein Lächeln war kalt. Sie ging mich nichts an, meine Herrin, so wenig, wie mein eigenes Leben mich etwas anging. Es stand uns nicht an, gegen das Schicksal zu kämpfen. Mochte uns alle die Zeit zerreiben.

Eines Tages findet Helena Nofret nackt in den Armen eines jungen Hathor-Priesters und fordert sie auf, mit ihr zurück in den Palast zu kommen.

„Was ich tue, geht dich nichts an, Amme.“
„Nein. Aber Euch selbst geht es etwas an. Was wollt Ihr? Eine weitere Schwangerschaft? Und damit riskieren, dass Ihr verstoßen werdet? Und wie soll es dann weitergehen? Dieser Palast ist Euer Gefängnis und Eure Rettung, das wisst Ihr sehr wohl. Ihr könnt euch satt essen, Eure Haut pflegen und Eure Glieder schonen, könnt singen und tanzen, wann es euch beliebt. Der Preis, den Ihr bezahlt, sind Einsamkeit und Verachtung.“

Helena rät Nofret, sich von einem Lehrer aus Assur unterrichten zu lassen. Als Erstes lernt Nofret Akkadisch, die Sprache der Händler und Reisenden. Sie begreift schnell, was der Lehrer ihr beizubringen versucht und entwickelt einen starken Wissensdrang. Helena freut sich darüber, macht sich jedoch bald Sorgen, weil Nofret sich nicht mehr für die reale Welt des Palastes interessiert.

„Euer Wissen entfernt Euch von Eurem Leben, statt Euch ihm anzunähern.“

Die Intrigen gegen Nofret und Helena werden weitergesponnen. Schließlich schickt Seti nach Nofret und meint:

„Man sagt, sie sei eine Zauberin. Wer sich dem Blick aus ihren Wasseraugen nicht rechtzeitig entziehe, sei des Todes. Man sagt, sie habe deinen Körper vergiftet und unfruchtbar gemacht. Sie habe deinen Verstand umnebelt und dich ihr unterworfen. Man sagt, ich solle sie verjagen, ehe sie Tod und Verderben über mein Haus bringt.“

Seti gibt den beiden Frauen drei Tage Zeit, den Palast zu verlassen. Helena schickt Nofret zu Ramose. Der älteste Sohn Setis setzt sich dafür ein, dass sie und ihre Sklavin im Palast bleiben dürfen. Allerdings müssen sie zum Gesinde ziehen.

Von nun an lebten wir Seite an Seite, ohne einander das Gesicht zuzuwenden, beschämt von unserer weiblichen Ohnmacht.

Kaum ein Jahr, nachdem Seti erneut geheiratet hat, stirbt er beim Liebesspiel. Nofret folgt Helenas Rat und macht sich an Ramose heran. Die junge Frau beeinflusst den als zerstreut und vergnügungssüchtig geltenden Sohn des Verstorbenen und bringt ihn dazu, sich im Machtkampf um die Nachfolge Setis gegen seine Konkurrenten durchzusetzen. Sie ist für ihn Geliebte und Mutter zugleich. Nofret berät ihn so geschickt, dass er glaubt, nur seinen eigenen Ideen zu folgen.

Ramose nimmt Nofret sogar bei einer Expedition ins Goldland mit, die über ein Jahr lang dauert. Danach erzählt Nofret ihrer Vertrauten, was sie erlebte.

So waren sie in Palästen zu Gast gewesen, hatten mit mächtigen Männern gespeist.
Es hatte sich freilich rasch herumgesprochen, dass Ramose eine Frau mitgebracht hatte, die sprachkundig war und schreiben konnte. Böse Zungen wurden laut. Ramose sei so schwach, dass er sich von einem Weib führen lassen müsse. Wie der kindliche Herrscher sei er, dessen Mutter die Macht an sich gerissen hatte. Im Schwarzen Land regierten eben die Frauen, und sie seien so stark, dass sie schon einen Bart trügen.
Solche Reden verletzten Ramose, und er lag in der Nacht wach. Nofret fühlte, dass sein Unmut eine Gefahr für sie war.
„Was habt Ihr also getan?“
„Ich habe ihm geschmeichelt. Mich erniedrigt. Alles, was eine Frau tun muss. In der Gegenwart anderer habe ich geschwiegen und zugelassen, dass er mich demütigt. Sehr bald waren de Gerüchte verweht. Ramoses Ruf war wiederhergestellt.“
„Das war sehr klug von Euch.“
„Es war eine Kleinigkeit. Jede Frau vollbringt sie täglich, um zu überleben.“

Ramose gibt einen neuen Palast in Auftrag, geht jedoch lieber auf die Jagd, als sich um den Bau zu kümmern. Das überlässt er Nofret. Sie bespricht mit dem Architekten die Pläne und bestellt die Künstler. Unter ihnen ist der Maler Proteus aus Mykene. Von ihm erfährt Helena, dass Agamemnon, wie befürchtet, ihre Entführung durch Paris und Hektor vor gut sechs Jahren zum Vorwand nahm, um mit seinem Bruder zusammen gegen Ilion in den Krieg zu ziehen. Die stark befestigte Stadt hält der Belagerung jedoch noch immer stand. In Sparta sind inzwischen die Felder vertrocknet. Die Not leidenden Bewohner verfluchen Helena, weil sie Agamemnons wahre Motive nicht kennen und annehmen, der Krieg werde wegen Helena geführt. Außerdem vermuten sie, dass Helena ihr Leben im kühlen Schatten der Festung Ilion genießt.

Und Menelaos, wie mochte es ihm ergehen? Wusste er, dass ich nicht dort war, in Ilion? Hatte er es womöglich schon gewusst, als er seine Schiffe ausrüsten ließ, dass er nur der Gier seines Bruders, des Fettsacks, folgte? Oder hatte am Ende auch er sich wie alle vom Krieg Schätze, Ruhm und Blutrausch versprochen?

Als Ramose das Gerücht vernimmt, Nofret sei schwanger, stellt er erfreut eine Eheschließung in Aussicht. Helena fragt bei Nofret nach. Ramoses Mätresse sagt, sie blute zwar seit einem halben Jahr nicht mehr, bemerke jedoch kein Wachstum, sondern nur eine große Leere in sich. Helena äußert daraufhin die Befürchtung, dass Nofret noch nicht stark genug für zwei Leben sei. Das ärgert Nofret, und sie verstößt ihre Sklavin.

Helena ist darüber nicht traurig, denn sie weiß, dass Nofret unabhängiger werden muss.

Ich hatte gehofft, Nofret könne sich nun endlich ganz von mir lösen. Ich hatte gehofft, ihre Stärke würde sie heilen. Ich hatte gehofft, in meiner Bedeutungslosigkeit Ruhe zu finden. Als Ramose nach mir schickte, wusste ich, dass ich mich betrogen hatte.

Nofret isst kaum noch, und es geht ihr schlecht. Helena sucht nach Aithra und drängt sie, Nofret zu helfen, aber die alte Frau sträubt sich zunächst:

„Und nun bist du zu mir gekommen, damit ich dir sage, was sie will? Du läufst weg von ihr, du drückst dich vor deiner Verpflichtung und willst sie mir übergeben?“
„Du bist stark. Du weißt, was zu tun ist.“
„Du weißt selbst, was zu tun ist. Doch du bist ängstlich und feige. Du stiehlst dich davon.“
„Es war zu ihrem Besten. Die Menschen beargwöhnen mich. Sie misstrauen mir, sie sprechen mir dämonische Kräfte zu. Wer in meiner Nähe ist, muss Leid und Unheil erdulden.“
„Du hast dich noch immer nicht verändert. Noch immer glaubst du, du bist, was andere dir zuschreiben. Du bist eine Prinzessin, wenn sie dich eine Prinzessin nennen. Du bist eine Zauberin, wenn sie dich eine Zauberin nennen. Noch immer hast du nicht gelernt, frei zu sein.“

Am Ende kann Helena Aithra doch noch überreden, mit ihr zusammen Nofret aufzusuchen. Bei dieser Gelegenheit fordert Helena Nofret auf, sie nicht länger als Amme zu bezeichnen. Das sei sie längst nicht mehr, sagt sie.

„Wie soll ich dich dann nennen?“
„Nennt mich bei meinem Namen. Helena.“
Jetzt war es ausgesprochen. Es war zu spät, die Hände vor das Gesicht zu schlagen.
Nofret sah mich ruhig an. Dann nahm sie Aithra und mich an den Schultern.
„Kommt mit ins Haus. Es gibt viel zu bereden.“

Ich habe gelernt, Abschied zu nehmen. Nun lerne ich, anzukommen.

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Helena wird wegen ihrer Schönheit angehimmelt. Das erlebt sie als Fluch, denn sie möchte nicht auf ihr Aussehen reduziert, sondern als Mensch wahrgenommen werden. Die Schönheit macht sie außerdem zum begehrten Objekt, und als Paris sie raubt, nimmt ihr Schwager Agamemnon dies als Vorwand, den längst aus Gier und Ruhmsucht angestrebten Krieg gegen Ilion (Troja) zu beginnen. Aber die stark befestigte Stadt hält der Belagerung jahrelang statt. Während die Not leidenden Spartaner Helena hinter den Festungsmauern vermuten, fristet sie ihr Dasein als Sklavin in einer von Männern beherrschten Welt.

In ihrem Roman „Helena“ greift Selma Mahlknecht auf die griechische Mythologie zurück. In der Sage wird Leda von Zeus in der Gestalt eines Schwans verführt und noch in derselben Nacht von ihrem Ehemann Tyndareos, dem König von Sparta, ebenfalls geschwängert. Sie gebiert daraufhin die Töchter Helena und Klytaimnestra sowie die Söhne Kastor und Polydeukes. Helena und Polydeukes wurden von Zeus gezeugt und sind als Halbgötter unsterblich. – In einer Variante der Legende, der auch Selma Mahlknecht andeutungsweise folgt, ist Leda nur Helenas Pflegemutter. Gezeugt wurde sie von Zeus mit Nemesis.

Selma Mahlknechts Romanfiguren Paris und Hektor überfallen Sparta auf einem Raubzug. Dass Helena zur Beute gehören würde, ahnten sie vorher offenbar nicht. In der griechischen Mythologie kommt Paris dagegen wegen Helena nach Sparta. Er wird nämlich von Zeus dazu bestimmt, zu entscheiden, welcher der drei Göttinnen Aphrodite, Pallas Athene und Hera ein von Eris, der Göttin der Zwietracht, stammender Apfel mit der Aufschrift „Für die Schönste“ zusteht. Hera versucht Paris zu bestechen, indem sie ihm Macht anbietet, Athene verspricht ihm Weisheit und Aphrodite lockt ihn mit Helena, der schönsten Frau der Welt. Paris spricht Aphrodite den Apfel zu, holt die versprochene Belohnung aus Sparta und verschleppt sie nach Troja (Ilion). Helenas Ehemann Menelaos, der König von Sparta, und sein Bruder Agamemnon, der König von Mykene, ziehen daraufhin gegen Troja in den Krieg. – Euripides führte eine Variante der Sage ein, der Selma Mahlknecht in ihrem Roman folgt: Helena gelangt nie nach Troja, denn das Schiff, auf dem sie entführt wird, kommt vom Weg ab, und Paris setzt seine Gefangene in Ägypten aus.

Selma Mahlknecht hat die Legende zum historischen Roman erweitert. Weder Götter noch der Trojanische Krieg spielen in dem Roman „Helena“ eine Rolle. Die Autorin interessiert sich nicht für die sagenhaften Abenteuer der Helden, sondern für das Leid der Frauen. Die männlichen Figuren in „Helena“ bleiben denn auch im Hintergrund, während Helena, Aithra und Nofret als Charaktere lebendig werden und wir die Selbstsuche der Protagonistin miterleben.

Erzählt wird die packende Geschichte von Helena in der Ich-Form, also aus ihrer subjektiven Perspektive. Das bringt sie dem Leser besonders nah. Bei der Lektüre vergisst man, dass der Plot auf einem zweieinhalb Jahrtausende alten Mythos basiert. Die zeitlos wirkende Handlung wird in 100 kurzen Kapiteln temporeich, geradlinig und schnörkellos entwickelt. Selbst die Grausamkeiten, die Helena widerfahren, nutzt Selma Mahlknecht nicht für große Gefühlsstürme; sie setzt nicht auf Blendwerk, sondern auf die einfühlsam geschilderte Entwicklung einer Frauenfigur.

Für ihren Roman „Helena“ wurde die Südtirolerin Selma Mahlknecht (* 1979) am 9. November 2012 in Billerbeck mit dem Sir Walter Scott-Preis des Autorenkreises „Historischer Roman Quo vadis“ für den besten historischen Roman des Jahres ausgezeichnet.

Das fadengebundene Buch erschien in der Edition Raetia.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2013
Textauszüge: © Edition Raetia

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