David Malouf : Die Nachtwache am Curlow Creek

Die Nachtwache am Curlow Creek
Originalausgabe: The Conversations at Curlow Creek Chatto & Windus, London 1996 Die Nachtwache am Curlow Creek Übersetzung: Adelheid Dormagen Paul Zsolnay Verlag, Wien 1997 dtv, München 2001 ISBN 978-3-423-12858-2, 264 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

New South Wales in den Dreißigerjahren des 19. Jahrhunderts. Ein Polizeioffizier bewacht einen gefangenen Rebellen während der Nacht vor dessen Hinrichtung. Sie reden miteinander, und der Offizier denkt über sein eigenes Leben nach. Innerlich befreit kehrt er einige Zeit später von Australien nach Irland zurück.
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Kritik

David Malouf erzählt die kunstvoll verschachtelte Geschichte ruhig, sachlich und nachdenklich. Dabei gelingt es ihm, den Leser von der ersten bis zur letzten Seite des Romans "Die Nachtwache am Curlow Creek" zu fesseln.
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In den Dreißigerjahren des 19. Jahrhunderts sitzen drei Trooper mit einem rekrutierten Aborigin am Curlow Creek in New South Wales (Neusüdwales in Australien) am Lagerfeuer. Sie bewachen einen Gefangenen, den sie in eine halb verfallene Hütte gesperrt haben. Kersey ist mit fast vierzig der älteste in der vor drei Monaten gebildeten Gruppe; Ben Langhurst und Tom Garrety sind neunzehn. Das Alter des schweigsamen Aborigin Jonas lässt sich kaum schätzen, aber den zählen die anderen ohnehin nicht mit. Ein Mitglied hat die Gruppe bereits verloren: Den ebenfalls neunzehnjährigen Jed Snelling.

[…] Jed Snelling war ohne warnendes Vorzeichen zu etwas Unvorstellbarem geworden, zu einem Mann, dem ein Speer seitlich im Hals steckte und der auf dem unebenen Boden in die Knie gesunken war, gurgelnd […] (Seite 20)

Als Garrety eine Gruppe von fünf Rebellen aufgespürt hatte, schickten sie Jonas zurück zu einer Trooper-Einheit auf der anderen Seite des Berges. Die traf sechsunddreißig Stunden später ein, aber sie warteten auch noch die ganze nächste Nacht und griffen die schlafenden Rebellen erst im Morgengrauen an. Sie töteten den hünenhaften Anführer Dolan und zwei seiner Leute. Lukey Cassidy, ein alberner Bursche, der noch keine fünfzehn war, entkam, aber einige der Trooper verfolgten ihn und töteten ihn drei Tage später. Mit dem einzigen Überlebenden, einem Iren namens David Carney, ritten die Trooper zum Curlow Creek, und weil sie selbst keine amtliche Befugnis für eine Hinrichtung hatten, mussten sie neun Tage lang auf eine Entscheidung aus Sydney warten. Dann traf eine vom Gouverneur unterzeichnete Urkunde ein: David Carney solle gehängt werden, und zwar im Beisein eines Polizeioffiziers, der sich bereits auf den Weg gemacht habe.

Am Morgen vor der Ankunft des Offiziers wollte der Gefangene vor der Hütte urinieren. Langhurst wandte sich taktvoll ab. Plötzlich fiel Carney über ihn her und drohte, ihm das Genick zu brechen, aber Langhurst konnte sich befreien, kam auf die Füße und schlug den Rebellen blind vor Wut zusammen.

Der Mann erhob sich schwankend. Blut floß ihm aus einem Auge. Er stand wie ein Stier da, die Schultern vorgestreckt, den Kopf gesenkt. Doch bevor er etwas tun konnte, hatte Garrety so behend wie immer eingegriffen und ihm einen Schlag auf die Kinnlade verpasst, fest und wild, war zurückgetreten, die Fäuste erhoben wie ein Boxer, der willens ist, erneut zuzuschlagen, sollte sich der andere zur Wehr setzen. Aber das tat er nicht. Er sank auf die Knie und verdrehte die Augen, als würde er gleich das Bewusstsein verlieren. Dann erholte er sich, schüttelte den massigen Kopf und schaute aus dem heilen Auge zu Garrety hoch, auf eine jammervolle, verständnislose Art, als könne er nicht begreifen, woher der andere gekommen war. (Seite 27f)

Der wie Carney aus Irland stammende Offizier Michael Adair verbringt die Nacht mit dem verwahrlosten, übel zugerichteten Gefangenen in der stinkenden Hütte. Im Morgengrauen soll David Carney gehängt werden. Die Trooper am Lagerfeuer beobachten argwöhnisch, dass die beiden Männer in der Hütte miteinander zu reden beginnen.

Carney erzählt Adair von einem seltsamen Erlebnis. Einmal, als er auf dem Marktplatz in Limerick stand, um für eine Gelegenheitsarbeit ausgesucht zu werden, nahmen ihn zwei Kerle ohne weitere Erklärungen in einem Pferdewagen mit zu einem Landsitz. Dort wurde er von einer alten Frau gebadet und neu eingekleidet. Anschließend schärfte ihm der Gutsherr ein, kein Wort zu reden und versprach ihm einen Sovereign: einen Schilling dafür, dass er sich fünf Minuten hinstellte und neunzehn Schilling dafür, dass er seinen Mund hielt. In einem Salon wurde er von einer jungen Blinden erwartet, die ihn befühlte und dabei weinte. Als sie zu schreien begann, wurde sie von ihm fortgerissen, und man brachte Carney in die Küche, wo er den versprochenen Sovereign und etwas zu essen bekam. Die Kleidungsstücke durfte er behalten.

Später in der Nacht gesteht Carney, einmal einen Mann getötet zu haben. Das lasse ihm keine Ruhe. Er arbeitete damals in Irland beim Straßenbau. Zu dem Trupp gehörte auch ein Kerl namens Shafto aus Newcastle. Sie konnten sich nicht leiden. Shafto zog einen mädchenhaften Typ immer wieder auf, und als er merkte, dass es Carney missfiel, tat er es erst recht. Schließlich wurde es Carney zu viel und er verlangte von Shafto, mit den Hänseleien aufzuhören. Shafto wirkte richtig glücklich: Endlich hatte er Carney so weit; es würde zum Kampf kommen. Als er behauptete, Carney setze sich für den Jungen ein, weil er schwul sei, stürzte dieser sich jähzornig auf ihn – und schlug ihn tot.

Wenn David Carney schweigt, erinnert Michael Adair sich daran, warum er dieses Kommando freiwillig übernommen hat.

Er wurde in Dublin geboren. Seine Eltern waren Opernsänger und deshalb ständig verreist. Als er drei Jahre alt war, ertranken sie beim Untergang des Postschiffs von Holyhead zusammen mit einundsiebzig anderen Menschen. Eine Jugendfreundin seiner Mutter nahm ihn auf. Aimée Connellan bewohnte mit ihrem sechs Jahre älteren Ehemann James Connellan, einem leidenschaftlichen Spieler und notorischen Schürzenjäger, den Herrensitz Ellersley. In den vierzehn Jahren ihrer Ehe war kaum eines ohne Schwangerschaft vergangen, aber die Kinder starben alle. Deshalb nahm sie Michael Adair wie einen eigenen Sohn auf. Einige Monate später kam die Achtunddreißigjährige erneut nieder. Obwohl es zunächst nicht so aussah, blieb der zwei Wochen zu früh geborene Sohn am Leben. Er wurde auf den Namen Fergus getauft.

Mit fünf Jahren wurde Michael Adair zu dem zwei Meilen entfernten Nachbargut Park geschickt, um zusammen mit der Tochter des Grundbesitzers Eamon Fitzgibbon lesen und schreiben zu lernen. Der mit Aimée befreundete Exzentriker Eamon Fitzgibbon, dessen drei inzwischen erwachsene Söhne eine ausgezeichnete Bildung erhalten hatten, ließ seiner aus der zweiten Ehe stammenden Tochter Virgilia eine ebenso gute Erziehung zukommen. Jeden Tag ging Michael Adair hinüber nach Park. Schließlich nahm er seinen kleinen Stiefbruder mit, und Virgilia lehrte auch Fergus das Lesen und Schreiben.

Virgilia blieb die bewegende Kraft. Adair hatte ihr schon vor langem und durchaus bereitwillig die Führung überlassen. Aber mit Fergus, klein, wie er war, ließ sich nicht so leicht fertig werden. Er wollte ihr gegenüber nicht widerspenstig sein. Es war bloß so, dass er keine Vorstellung davon hatte, was sie von ihm erwartete, es entsprach nicht seinem Wesen, im Zaum gehalten zu werden. (Seite 100f)

Virgilia, Michael und Fergus wurden enge Freunde. Mit der Pubertät wurde ihr Verhältnis komplizierter, denn Michael verliebte sich in Virgilia und diese sich in Fergus.

Er [Michael Adair] war, auf seine Weise, ebenso fasziniert von Fergus wie sie, aber wenn er sie gewinnen wollte, konnte es nur auf Kosten von Fergus geschehen. Und immer gab es die hoffnungsvolle, hoffnungslose Möglichkeit, dass sie schließlich einsähe, dass ihre Leidenschaft für Fergus zu nichts führen konnte und er es war, der sie immer geliebt und geduldig an ihrer Seite ausgeharrt hatte und ihnen beiden stets eine nicht leichtfallende Treue hielt […] (Seite 188f)

Er hatte in frühen Jahren begriffen, dass nur wenige Dinge so einfach sind, wie sie erscheinen oder wie wir sie gern hätten, aber Menschen niemals. Er hatte große Achtung vor dem Unfassbaren. Verwirrung, meinte er, war die natürlichste Folge davon, dass man auf der Welt war – was nicht bedeutete, man sollte sich ihr überlassen oder der Unordnung, die, wenn man nicht streng mit sich war, die unglückliche Folge darstellte. Ihm graute vor Unordnung, und wenn ihm vor etwas graute, dann war es meist deshalb, weil er die Anlage so deutlich in sich selbst entdeckt hatte. (Seite 49)

Mit siebzehn wurde Michael Adair sich darüber klar, dass Fergus der Erbe von Ellersley war, während er selbst eines Tages eigene Wege würde gehen müssen. Ein schlechtes Gewissen hatte er, weil er sich wie ein Kuckucksjunges vorkam und Mama Aimées Liebling geworden war.

Fergus fand Kumpane, bei denen es sich um Raufbolde und Draufgänger handelte, die nicht viel älter waren als er.

Wild dreinblickende Burschen, die keinen Ton herausbrachten, tauchten in Ellersley auf und standen da, die Mütze in der Hand, bis er kam und mit ihnen sprach […] Er ritt dann mit ihnen davon, blieb ganze Tage und Nächte fort und sah, wenn er zurückkam, aus, als hätte er in Gräben geschlafen oder Schlägereien überstanden. Mama Aimée tobte. James Connellan, wie immer mit seinen eigenen Dingen beschäftigt, zuckte mit den Schultern; der Junge war sein eigener Herr. (Seite 186f)

Nach einer Jagd ritt Fergus einmal mit Virgilia und Michael zu einem kleinen Dorf, um Mrs O’Riordan zwei Hasen zu bringen. Sie lebte mit ihrer Tochter Marnie, den Söhnen Donagh und Sean sowie ihren kleinen Kindern Annie und Declan in einer Hütte. Ihren Mann hatte man des Schafdiebstahls beschuldigt und für sieben Jahre nach New South Wales am anderen Ende der Welt deportiert.

Nach vier Jahren beim Militär verbrachte Michael Adair erstmals einen Urlaub in Ellersley. Fergus schien ihm zuerst aus dem Weg zu gehen, aber am vierten oder fünften Tag holte er ihn morgens ab, um mit ihm im frischen Schnee auszureiten. Sie übernachteten bei einer armen irischen Familie, die Fergus wie einen der ihren behandelte.

Fergus schloss sich irischen Freiheitskämpfern an und verschwand spurlos. Dennoch konnte sein Stiefbruder Virgilia nicht für sich gewinnen.

Sie würde altern im Fanatismus ihrer ersten Liebe. Die Sehnsucht und die Seelenqual, von dieser Liebe verursacht, würden mit der Zeit – er kannte nur zu gut diese Form der Anpassung – eine eigene Art Befriedigung schaffen, bitter, aber auch beruhigend. Sie würde an dem festhalten, was sie verloren hatte, aus keinem anderen Grund, als um zu beweisen, dass sie es einst besessen hatte, und würde Hingabe zum Kult machen. (Seite 221)

Schließlich erfuhr er von Marnie O’Riordan, die inzwischen als Dienstmädchen für Virgilia und ihren seit einem Schlaganfall gelähmten Vater arbeitete, dass ihr Vater glaubte, Fergus in New South Wales gesehen zu haben. Michael Adair machte sich auf den Weg, um seinen Stiefbruder zu suchen.

Er vermutet, dass es sich bei Dolan, dem getöteten Anführer der ausgehobenen Rebellengruppe, um Fergus gehandelt haben könnte, und er versucht, von David Carney mehr über ihn herauszubekommen. Aber er erhält keine eindeutige Antwort auf seine Frage, obwohl der Gesuchte in dieser Nacht zwischen Träumen und Wachen gegenwärtig zu sein scheint.

Adair graut es davor, am Morgen zu David Carney sagen zu müssen, er solle sich für die Hinrichtung bereit machen. Doch der Gefangene nimmt es ihm ab und sagt von sich aus: „Ich glaube, Sir, es ist Zeit.“

Im Freien vor der Hütte bittet Carney darum, sich im Fluss waschen zu dürfen. Die Trooper, die bereits ein Grab ausgehoben haben, befürchten, der seltsame Offizier, der sich die ganze Nacht mit dem Gefangenen unterhielt, werde ihn laufen lassen.

Später wird erzählt, einige Männer, die man zunächst für Einheimische auf der Fischjagd hielt, seien näher gerudert, während Carney sich im Fluss gewaschen habe. Tatsächlich habe es sich um entlaufene Sträflinge gehandelt, und sowohl der irische Rebell als auch der irische Offizier seien zu ihnen ins Boot geklettert und entkommen. James Saunders, ein ehemaliger Militärarzt und Veteran des Spanienkriegs, erzählt seinem Gast Michael Adair die neueste Version der Legende, bevor er ihm ein Bündel Briefe für seine Familie und Freunde anvertraut, denn der Offizier wird am nächsten Morgen an Bord der „Hyperion“ gehen, um nach Europa zu segeln.

Er [Michael Adair] hat Mama Aimée geschrieben, nicht aber Virgilia. Nicht deshalb, weil jeder Brief, den er jetzt noch schreibt, mit ihm auf dem Schiff reisen müsste, sondern weil er endlich ohne irgendwelche Einschränkungen vor ihr erscheinen will, ohne Vermittler, in eigener Person; das neue Ich, das von diesem herben Land und den Ereignissen der letzten Monate geformt worden ist: ein Ich, das in die Unterwelt gereist und zurückgekehrt ist, sich seiner gewiss geworden und verändert ist. Er hat alles erfüllt, was sie von ihm, ihrem Beauftragten in der Suche nach Fergus und ihrem Boten, hätte er ihn gefunden, erbeten hat, und er hat alles erfüllt, was Fergus und sein eigenes Gewissen an Brüderlichkeit und Liebe verlangen konnten. Er ist frei. Endlich gibt es nur noch sie und ihn. Beide frei, das Leben vor ihnen. Er wird mit der Sicherheit zu ihr kommen, die ihm das gibt, was er ein für allemal zu bieten hat und was sie entweder annehmen oder ablehnen muss. (Seite 262)

Vier Jahre später sieht Ben Langhurst mit seiner achtzehn Monate alten Tochter auf dem Arm seiner Frau beim Aufhängen der Wäsche zu, als ein fremder Reiter die Nachricht überbringt, man habe Tom Garrety als Mitglied einer Bande von Rebellen erschossen.

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Der Roman „Die Nachtwache am Curlow Creek“ handelt zunächst von einer einzigen Nacht, in der ein Polizeioffizier einen gefangenen Rebellen vor dessen Hinrichtung bewacht. Sie reden miteinander, und der Offizier denkt über sein eigenes Leben nach. In dieser Nacht gelingt es ihm, mit sich selbst und seinem Verhältnis zu den beiden wichtigsten Menschen in seinem Leben ins Reine zu kommen. Innerlich befreit, kehrt er einige Zeit später von Australien nach Irland zurück.

David Malouf erzählt die kunstvoll verschachtelte Geschichte ruhig, sachlich und nachdenklich. Dabei gelingt es ihm, den Leser von der ersten bis zur letzten Seite des Romans „Die Nachtwache am Curlow Creek“ zu fesseln.

Der australische Schriftsteller David Malouf wurde am 20. März 1934 in Brisbane geboren. Sein Vater stammte von Libanesen ab; bei seiner Mutter handelte es sich um eine englische Jüdin. Nach dem Literaturstudium arbeitete David Malouf als Lehrer in England und als Lektor in Australien, bevor er 1978 freier Schriftsteller wurde.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2004
Textauszüge: © Paul Zsolnay Verlag

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