Javier Marías : Alle Seelen

Alle Seelen
Manuskript: 1988 Originalausgabe: Todas las almas Verlag Anagrama, Barcelona 1989 Alle Seelen Übersetzung: Elke Wehr Klett-Cotta, Stuttgart 1997 Süddeutsche Zeitung / Bibliothek, Band 83, München 2007, 235 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Ein spanischer Literaturwissenschaftler kommt für zwei Jahre als Gastdozent nach Oxford. Er beobachtet die Riten der traditionsreichen Universität, die gesellschaftlichen Gepflogenheiten und eine Reihe von Egomanen, Spinnern und Genies. Bei einem "High Table Dinner" begegnet sein Blick dem der verheirateten Dozentin Clare Bayes, und für die Zeit seines Aufenthalts in Oxford werden die beiden ein Liebespaar ...
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Kritik

Bei dem Roman "Alle Seelen " von Javier Marías handelt es sich um ein komisches Panoptikum schrulliger Figuren, seltsamer Gepflogenheiten und verstaubter Universitätsrituale.
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Der mit seiner Ehefrau Luisa und dem gemeinsamen kleinen Sohn in Madrid lebende Ich-Erzähler erinnert sich an einen zweijährigen Aufenthalt in Oxford, den er vor zweieinhalb Jahren – kurz bevor er Luisa kennen lernte – beendet hatte.

Der junge spanische Literaturwissenschaftler kam damals als Gastdozent an das All Souls College in Oxford. Die akademischen Riten in der traditionsreichen Universität waren ebenso fremd für ihn wie die gesellschaftlichen Gepflogenheiten in England. Nie gehörte er ganz dazu; nur auf Zeit lebte er in Oxford und konnte das Panoptikum der Egomanen, Spinner und Genies beobachten.

Da war beispielsweise Rook, der seit zwölf Jahren an einer Neuübersetzung von „Anna Karenina“ arbeitete und behauptete, in USA mit Vladimir Nabokov verkehrt zu haben, Dr. Leigh-Peele, Professor Toby Rylands, Alec Dewar („The Ripper“, „der Inquisitor“), der indischer Arzt Dayanand und der fast neunzig Jahre alte Pförtner Will, der jeden Tag in einer anderen Zeit zu leben glaubte.

Ein Kollege namens Cromer-Blake wurde zu seinem Freund, Führer und Beschützer. Der begleitete ihn auch zu einem „High Table Dinner“, einem rituellen Abendessen in Oxford, bei dem die Gastgeber mit ihren Gästen auf einem Podium saßen, während die übrigen Dozenten und Studenten im Saal verteilt waren. So ein „High Table Dinner“ begann überaus steif, doch mit erhöhtem Alkoholspiegel fielen die Hemmungen, bis die Etikette mehr oder weniger missachtet wurde.

Bei seinem zweiten „High Table Dinner“ traf der Blick des spanischen Gastes den einer Dozentin, die ihn mit einer Mischung aus Spott und Mitgefühl ansah: Clare Bayes. Während Lord Rymer, der Rektor, ihr Dekolleté „viehisch lüstern“ anstarrte, schaute der Erzähler die attraktive Kollegin „sexuell bewundernd“ an. Nach dieser Begegnung begannen Clare und der spanische Dozent eine Affäre, obwohl Clare mit dem ebenfalls in Oxford lehrenden Wissenschaftler Edward Bayes verheiratet war und einen Sohn hatte – Eric –, der allerdings nur die Ferien bei seinen Eltern verbrachte und ansonsten in der Clifton-Schule außerhalb von Bristol lebte.

Durch Clare vergaß der Spanier fast eine junge Frau, die ihm während einer Bahnfahrt von London nach Oxford aufgefallen war.

Eines Tages klingelte ein schrulliger Mann bei dem Gastdozenten, der ihm zuvor bereits in mehreren Buchhandlungen aufgefallen war, nicht zuletzt weil er hinkte und seinem Hund eine Hinterpfote fehlte. „Alan Marriott“, stellte er sich vor. Er sei früher selbst Buchhändler gewesen, erklärte er. Sein Hinken war die Folge einer Kinderlähmung. Der Hund hatte die Hinterpfote eingebüßt, als Marriott mit ihm am Bahnhof in Didcot von einer Bande Jugendlicher angegriffen worden war, die das Tier bei der Einfahrt des Zuges aufs Gleis gedrückt hatten. Marriott überredete den Spanier, Mitglied der „Machen-Company“ zu werden, wollte ihm jedoch nicht erklären, um was es dabei ging.

Bei seinem Besuch hatte Marriott einen Schriftsteller namens John Gawsworth (1912 – 1970) erwähnt. Der spanische Literaturwissenschaftler, der vorher noch nie von ihm gehört hatte, versuchte daraufhin, mehr über ihn herauszufinden und suchte in Antiquariaten nach Schriften von ihm.

Zu seiner Verwunderung traf er bei einem Besuch in der Diskothek neben dem Apollo Theatre seinen Chef, Aidan Kavanagh, der sich dort mit einem halben Dutzend Mädchen amüsierte. Obwohl dem Spanier die Mädchen eigentlich zu dick vorkamen, nahm er eine von ihnen – Muriel – mit nach Hause und verbrachte die Nacht mit ihr im Bett.

Als er Cromer-Blake einmal unangemeldet aufsuchen wollte, hörte er durch eine angelehnte Tür, wie sein Freund einen jungen Mann anflehte, wenigstens noch einmal mit ihm zu schlafen. Der Unbekannte lehnte das ab, erlaubte Cromer-Blake jedoch wenigstens, zum Abschied ein paar Polaroids von seinem Penis zu machen.

Kurz bevor der spanische Gastdozent abreiste, fuhr er mit Clare nach Brighton, um zum ersten und einzigen Mal eine ganze Nacht mit ihr in einem Hotelzimmer zu verbringen. Er bedauerte es, sich von ihr trennen zu müssen und wünschte sich eine Fortsetzung ihres Verhältnisses, aber sie blieb realistisch und wies ihn darauf hin, dass sein Vertrag auslief. Sie war auch nicht bereit, ihn nach Spanien zu begleiten, sondern zog es vor, bei Edward zu bleiben.

„Es genügt, wenn ich dir sage, dass ich gern mit ihm lebe, das weißt du schon. Es ist nicht nur angenehm, ich bin auch daran gewöhnt. Es ist das Leben, das ich gewählt habe, und ich wähle es weiterhin aus unter all den Leben, die mir möglich wären, vergessen wir die unmöglichen. Einen Liebhaber haben steht nicht im Widerspruch dazu […]“ (Seite 207)

In dieser Nacht erzählte Clare von ihren Eltern. Sie war als Tochter eines englischen Diplomaten mit dem Namen Newton in Delhi und Kairo aufgewachsen. In Indien hatte ihre Mutter, die ebenfalls Clare hieß, eineinhalb Jahre lang eine Affäre gehabt. Terry Armstrong hatte sich der Mann genannt, aber es blieb fraglich, ob es sein wirklicher Name war. Als Clare Newton schwanger wurde und zugab, nicht zu wissen, ob ihr Ehemann oder ihr Liebhaber das Kind gezeugt hatte, warf der Diplomat sie hinaus. Einige Tage später beobachtete ihre damals dreijährige Tochter Clare im Beisein ihres indischen Kindermädchens Hilla, wie sie mit einem fremden Mann auf eine Brücke ging, sich ins Wasser stürzte und ertrank.

Vier Monate nach der Abreise des Spaniers aus Oxford starb Cromer-Blake und hinterließ ihm seine Tagebücher. Zwei Jahre später starb auch Toby Rylands.

Da nahm er sich vor, aufzuschreiben, was er in Oxford erlebt und beobachtet hatte.

Zwei der drei sind gestorben, seit ich Oxford verlassen habe, und das bringt mich auf den abergläubischen Gedanken, dass sie vielleicht gewartet haben, bis ich kam und meine Zeit dort zubrachte, um mir Gelegenheit zu geben, sie kennenzulernen und jetzt von ihnen sprechen zu können. Es mag daher sein, dass ich – im selben Aberglauben – gezwungen bin, von ihnen zu sprechen. Sie starben erst, als mein Umgang mit ihnen aufhörte. Wäre ich weiter in ihrem Leben und in Oxford geblieben (wäre ich weiter tagtäglich in ihrem Leben geblieben), dann würden sie womöglich noch leben. Dieser Gedanke ist nicht nur abergläubisch, sondern auch eitel. Aber wenn ich von ihnen spreche, muss ich auch von mir sprechen und von meinem Aufenthalt in der Stadt Oxford. Obwohl der, der spricht, nicht der gleiche ist, der dort war. Er scheint es zu sein, aber er ist es nicht […] Wer hier erzählt, was er sah und erlebte, ist nicht der, der es sah und erlebte, aber auch nicht seine Fortsetzung, sein Schatten, sein Erbe oder sein Usurpator. (Seite 7)

Alles, was uns widerfährt, alles, was wir sagen oder was uns erzählt wird, alles, was wir mit unseren eigenen Augen sehen oder was uns von den Lippen kommt oder in unsere Ohren dringt, alles, was wir unmittelbar erleben (und wofür wir daher ein Stück Verantwortung tragen), muss einen Adressaten außerhalb unserer selbst finden, und diesen Adressaten wählen wir uns je nach dem, was geschieht oder was uns gesagt wird oder was wir selber sagen. Jede Sache muss jemandem erzählt werden. (Seite 157)

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Im Vergleich zu poetischen Romanen von Javier Marías wie etwa „Mein Herz so weiß“ fällt „Alle Seelen“ ab. Es geht um eine Liebesaffäre vor dem Hintergrund eines komischen Panoptikums schrulliger Figuren, seltsamer Gepflogenheiten und verstaubter Universitätsrituale. Erzählt wird es in einer eher kühlen Sprache von einem namenlosen Ich-Erzähler in Madrid, der sich zweieinhalb Jahre nach der Beendigung eines zweijährigen Aufenthalts als Gastdozent in Oxford an seine damaligen Erlebnisse und Beobachtungen erinnert.

Als Schauplatz bedient sich Javier Marías der Stadt Oxford. Ihr Raunen, ihre Mythenhaftigkeit verdichtet er zu einer staunenswert vitalen, durch und durch verlogenen und lachhaft, nämlich „wie in Sirup konservierten“ Spielstätte eines so geistigen wie erotisierten Abenteurertums. (Gerhard Matzig, Süddeutsche Zeitung, 1. Dezember 2007)

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2007
Textauszüge: © J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger

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