Ian McEwan : Kindeswohl

Kindeswohl
Originalausgabe: The Children Act Jonathan Cape Ltd, London 2014 Kindeswohl Übersetzung: Werner Schmitz Diogenes Verlag, Zürich 2015 ISBN: 978-3-257-06916-7, 240 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der 60-jährige Geschichtsprofessor Jack Maye überrascht seine ein Jahr jüngere Ehefrau Fiona mit der Ankündigung einer Affäre. Während die Richterin Fiona Maye am High Court in London versucht, sich mit der Trennung abzufinden, fällt sie weiter ebenso schwierige wie schwerwiegende Urteile. Ihre Entscheidung, eine von einem jugendlichen Krebspatienten und dessen Eltern aus religiösen Gründen abgelehnte medizinische Behandlung zuzulassen, rettet dem Jungen das Leben – und verändert das ihre ...
mehr erfahren

Kritik

In seinem Roman "Kindeswohl" verflicht Ian McEwan das Privatleben der Richterin Fiona Maye mit ihrer beruflichen Tätigkeit. Dabei referiert er über eine Reihe von schwer zu entscheidenden Gerichtsfällen und greift v. a. einen davon heraus.
mehr erfahren

Fiona Maye, eine 59-jährige Familienrichterin am High Court in London, arbeitet eines Abends im Spätsommer 2012 zu Hause am Text einer Urteilsbegründung.

Die Fälle, in denen sie Gerichtsurteile fällen muss, sind verschieden. Da streiten gierige Ehemänner mit gierigen Ehefrauen, es geht um Väter, die keine Alimente zahlen und um Mütter, die trotz gerichtlicher Anordnung verhindern, dass Väter ihre Kinder sehen. Ein marokkanischer Vater hat seine kleine Tochter nach Rabat entführt und ist untergetaucht. Nun versucht die englische Mutter, ihr Kind zurückzubekommen. Fiona erinnert sich vor allem auch daran, wie sie über das Schicksal der siamesischen Zwillinge Mark und Matthew entscheiden musste. Nur wenn die Chirurgen die gemeinsame Aorta durchtrennten, hatte wenigstens eines der Kinder eine Überlebenschance.

Die Zwillinge trennen hieß Matthew töten. Sie nicht zu trennen würde durch Unterlassung beide töten.

Die Eltern, fromme Katholiken aus einem Dorf an der Nordküste Jamaikas und fest im Glauben verwurzelt, verweigerten jedoch ihre Zustimmung. Sie wollten nicht, dass Gott ins Handwerk gepfuscht werde und hielten den von den Chirurgen angestrebten Eingriff für Mord. Fiona entschied zugunsten der Ärzte:

[…] den Ärzten musste erlaubt sein, Mark zu helfen und die tödliche Bedrohung abzuwehren. Matthew würde nach der Trennung nicht deshalb zu leben aufhören, weil er vorsätzlich ermordet wurde, sondern weil er von allein nicht lebensfähig war.

Die Operation verlief erfolgreich: Matthew wäre so oder so gestorben, aber Mark lebt.

Bei der Urteilsbegründung, der Fiona an diesem Abend den letzten Schliff geben will, steht das Kindeswohl im Fall einer Scheidung im Mittelpunkt. Die Ehe von Judith und Julian Bernstein war vor 13 Jahren arrangiert worden, wie es in der ultraorthodoxen Gemeinde der Charedim im Norden Londons üblich ist. Das Scheitern der Ehe bahnte sich lange an. Nun haben Judith und Julian Bernstein sich getrennt, aber sie können sich nicht darauf einigen, was mit den Kindern Rachel und Nora geschehen soll. Dass Judith einen Universitätsabschluss erwarb, seit der Einschulung der jüngeren Tochter als Grundschullehrerin arbeitet und inzwischen die Gemeinde verlassen hat, missfällt sowohl Julian Bernstein als auch seiner Verwandtschaft. Überdies hat sie jetzt Rachel und Nora an einer jüdischen Oberschule angemeldet, in der Jungen und Mädchen gemeinsam unterrichtet werden und Fernsehen, Popmusik, Internet und der Umgang mit nichtjüdischen Kindern erlaubt sind.

Bei den Charedim, die seit Jahrhunderten an ihren Traditionen festhielten, hatten Frauen Kinder zu erziehen, je mehr, desto besser, und sich um den Haushalt zu kümmern. Ein Universitätsabschluss und ein Beruf waren höchst ungewöhnlich.

Oberflächlich betrachtet, ging es bei dem Streit um Rachels und Noras Schule. Auf dem Spiel aber stand der ganze Kontext, in dem die Mädchen aufwachsen sollten. Es war ein Kampf um ihre Seelen.

Fiona entschied zugunsten der Mutter. Während sie mit der Urteilsbegründung beschäftigt ist, wird sie von ihrem ein Jahr älteren Ehemann Jack überrascht. der ihr eine Affäre mit der 28-jährigen Statistikerin Melanie ankündigt.

„Was willst du, Jack?“
„Ich werde diese Affäre haben.“
„Du willst die Scheidung.“
„Nein. Ich will, dass alles bleibt wie es ist. Ohne dich zu hintergehen.“

Bisher habe er sich nur mit Melanie zum Lunch verabredet, sagt Jack, denn er wolle nicht hinter Fionas Rücken mit einer anderen Frau intim werden. Aber er brauche vor seinem Tod noch ein exzessives sexuelles Erlebnis, erklärt der Professor für Geschichte, verweist auf sein Alter und darauf, dass er mit Fiona seit sieben Wochen und einen Tag keinen Geschlechtsverkehr mehr gehabt habe.

„Hast du nicht selbst einmal gesagt, dass langverheiratete Paare immer mehr wie Geschwister miteinander leben? An diesem Punkt sind wir jetzt, Fiona. Ich bin dein Bruder geworden. Das ist schön und behaglich, und ich liebe dich, aber bevor ich tot umfalle, will ich noch eine große, leidenschaftliche Affäre haben.“

Fiona entgegnet:

„Der richtige Augenblick, um eine offene Ehe vorzuschlagen, war vor der Hochzeit, nicht fünfunddreißig Jahre danach. Alles aufs Spiel zu setzen, nur damit er den flüchtigen Sinnenrausch noch einmal erleben konnte!“

Fiona droht mit der Trennung für den Fall, dass Jack seine Ankündigung wahr macht. Während sie durch ein dienstliches Telefongespräch mit ihrem juristischen Sekretär Nigel Pauling abgelenkt ist, verlässt Jack die Wohnung. Fiona sieht ihn durchs Fenster auf der Straße; er zieht einen Rollkoffer. Kinder haben sie keine. Zuerst hielten sie es aus beruflichen Gründen für vernünftig, bis Anfang 30 zu warten, und als sie dann die 40 überschritten hatten, überwogen die Bedenken wegen der gesundheitlichen Risiken einer Schwangerschaft in diesem Alter für Mutter und Kind.

Nigel Pauling rief wegen eines Falls an, in dem unverzüglich eine gerichtliche Entscheidung gefällt werden muss. Es geht um eine Familie der Zeugen Jehovas. Das einzige Kind, der 17-jährige Sohn Adam, ist an Leukämie erkrankt. Um sein Leben zu retten, wollen die Onkologen der Edith-Cavell-Klinik in Wandsworth bei der Chemotherapie Mittel einsetzen, die als Nebenwirkung eine Anämie auslösen und deshalb Bluttransfusionen erforderlich machen. Die Eltern Kevin und Naomi Henry verweigern jedoch die Zustimmung, weil für Zeugen Jehovas die Aufnahme fremden Blutes in den eigenen Körper nicht in Frage kommt.

Bei dem eilig einberufenen Gerichtstermin werden die Eltern von dem Anwalt Leslie Grieve vertreten, und dessen Kollege John Tovey erscheint anstelle des Patienten. Der erfahrene Hämatologe Rodney Carter begründet noch einmal die Notwendigkeit der Bluttransfusionen und schildert den bei einer Unterlassung zu erwartenden qualvollen Tod. Weil der Junge in drei Monaten volljährig wird und auch seine Gillick-Kompetenz geklärt werden muss, also die Frage, ob er reif genug ist, nach ärztlicher Beratung selbst über seine medizinische Behandlung zu entschieden, vertagt Fiona die Verhandlung, um ins Krankenhaus zu fahren und sich einen persönlichen Eindruck von dem Patienten zu verschaffen. Marina Greene, die zuständige Sozialarbeiterin vom Jugendamt, begleitet die Richterin, die dem Jungen in der Edith-Cavell-Klinik erklärt:

„Ich sage dir, warum ich hier bin, Adam. Ich möchte mich vergewissern, dass du weißt, was du tust. Manche Leute denken, du wärst zu jung, um eine solche Entscheidung zu treffen, und du stündest unter dem Einfluss deiner Eltern und der Gemeindeältesten. Andere halten dich für ungewöhnlich klug und erwachsen und meinen, wir sollten dich einfach machen lassen. […]
Ich möchte wissen, ob du ernsthaft über die Möglichkeit nachgedacht hast, dass du für den Rest deines Lebens krank und behindert sein könntest, geistig, körperlich oder auch beides.“

Adam beeindruckt Fiona sehr. Der intelligente und nachdenkliche Junge spielt ihr etwas auf der Geige vor, und am Ende singt sie dazu. Es handelt sich um die Vertonung des Gedichts „Drunten beim Weidengarten“ von William Butler Yeats durch Benjamin Britten.

Zurück im Gerichtssaal, räumt die Richterin der Klinik das Recht ein, Adam Henry so zu behandeln, wie die Ärzte es für medizinisch notwendig erachten und ihm auch gegen seinen Willen und den seiner Eltern Bluttransfusionen zu verabreichen. Fiona bezieht sich dabei auf den Children Act von 1989, in dem gleich zu Beginn das Primat des Kindeswohls hervorgehoben wird.

Als Fiona einige Tage später nach Hause kommt, wundert sie sich über die eingeschaltete Treppenhausbeleuchtung. Jack sitzt auf den Stufen vor ihrer Wohnung. Aufsperren konnte er nicht, weil Fiona das Türschloss auswechseln ließ. Indem sie klarstellt, dass er im Gästezimmer schlafen soll, erklärt sie sich stillschweigend mit seiner Übernachtung bei ihr einverstanden.

Ja, sagte Jack, einmal in Melanies Wohnung angekommen, habe er sich stupiderweise verpflichtet gefühlt, mit dem, was er angefangen habe, weiterzumachen. „Und je mehr ich mich in der Falle fühlte, desto klarer wurde mir, was für ein Idiot ich war, alles aufs Spiel zu setzen, alles, was wir haben, alles, was wir miteinander geschaffen haben, diese Liebe, die –“

Als einzige Versöhnungsgeste überlässt Fiona ihm einen der neuen Schlüssel.

[…] was Jacks Rückkehr in ihr auslöste. Ganz einfach. Es war Enttäuschung darüber, dass er nicht weggeblieben war. Nur noch ein kleines bisschen länger. Nichts als das. Enttäuschung.

Bei der Sozialarbeiterin Marina Greene erkundigt Fiona sich einige Wochen später nach Adam Henry und erfährt, dass er sich gut erholt habe, dabei sei, zu Hause den versäumten Unterrichtsstoff nachzuholen und in Kürze wieder in die Schule gehen werde. In einem Brief, den er der Richterin schreibt, heißt es:

Ich glaube, ich war eine Zeitlang bewusstlos, und als ich aufwachte, saßen sie beide [die Eltern] an meinem Bett – und beide weinten, und ich wurde noch trauriger, weil wir alle gegen Gottes Gebote verstießen. Aber jetzt kommt das Wichtige: Bald erkannte ich, dass sie vor FREUDE weinten! Sie waren so glücklich, umarmten mich, umarmten einander und lobten schluchzend den Herrn. Das war mir unheimlich, und ich bin erst nach ein, zwei Tagen daraus schlau geworden. Zuerst habe ich gar nicht darüber nachgedacht. Dann aber doch. Ein Omelett machen, ohne Eier zu zerschlagen! Früher habe ich diese Redensart nie verstanden. Jetzt schon. Man hat die ganzen Eier immer noch in der Hand, obwohl ein fertiges Omelett auf dem Tisch steht. Meine Eltern haben sich an die Lehre gehalten und den Ältesten gehorcht und alles richtig gemacht und können damit rechnen, ins Paradies auf Erden einzugehen – und gleichzeitig blieb ich am Leben […] Schuld hat die Richterin, Schuld hat das gottlose System, Schuld hat das, was wir manchmal die ‚Welt‘ nennen. Was für eine Erleichterung!“

Fiona beschließt, nicht auf den Brief zu antworten. Im September hat sie für einige Zeit außerhalb von London zu tun, zuerst in Newcastle. Ihr Kollege, der Strafrechtler Caradoc Ball, ist dort mit der Wiederaufnahme eines Mordprozesses beschäftigt. Laut Anklage wurde eine Frau von ihrem Sohn zu Tode geprügelt, weil sie ihr jüngstes Kind, die Halbschwester des Beschuldigten, misshandelt hatte. Fiona sitzt zuerst über einen Fall zu Gericht, der sich um einen zweijährigen Jungen und ein vierjähriges Mädchen dreht. Die Mutter, eine amphetaminsüchtige Alkoholkranke mit psychotischen Anfällen, sträubt sich gegen eine Entscheidung des Jugendamtes, die Kinder in Pflege zu geben. Der mehrmals vorbestrafte, von der Mutter getrennt lebende Vater, der ebenfalls drogenabhängig ist, mag auch nicht auf seine Rechte verzichten. Die Großeltern mütterlicherseits, die gern bereit wären, sich der Kinder anzunehmen, können allerdings keine Rechte geltend machen. Fiona spricht den Großeltern das Sorgerecht zu und entscheidet, dass die Eltern die Kinder regelmäßig unter Aufsicht besuchen dürfen.

Am Abend wird Fiona in dem Herrenhaus, in dem sie, ihr Sekretär Nigel Pauling und ihr Kollege Caradoc Ball untergebracht sind, von Adam Henry überrascht. Seit seiner Genesung streite er häufig mit seinem Vater, erklärt er.

„[…] aber diesmal war es wirklich schlimm, wir haben uns angebrüllt, und ich hab ihm an den Kopf geworfen, was ich von seiner blöden Religion halte. Nicht dass er zugehört hätte. Dann hab ich ihn stehenlassen. Bin in mein Zimmer, hab meine Sachen gepackt, mein erspartes Geld eingesteckt und mich von meiner Mum verabschiedet. Dann bin ich gegangen.“

„Ich bin Ihnen mit dem Taxi nach King’s Cross gefolgt und in Ihren Zug gestiegen. Ich hatte ja keine Ahnung, wo Sie aussteigen würden, deshalb musste ich mir eine Fahrkarte nach Edinburgh kaufen. In Newcastle bin ich Ihnen durch den Bahnhofsausgang gefolgt und Ihrem Wagen nachgelaufen, aber der war zu schnell, also hab ich auf gut Glück Leute nach dem Weg zum Gericht gefragt […]“

Dann kommt er auf die Zeit im Krankenhaus zu sprechen:

„Wenn die Ärzte und Schwestern mich zu bequatschen versuchten und ich ihnen sagte, sie sollten mich in Ruhe lassen, kam ich mir immer ganz großartig und heldenhaft vor. Ich war rein und gut. Es gefiel mir, dass sie meine tiefschürfenden Gedanken nicht verstehen konnten. Ich war richtig abgehoben. Meine Eltern und die Ältesten waren so stolz auf mich, das fand ich toll. Nachts, wenn keiner da war, hab ich mein Abschiedsvideo geprobt, wie so ein Selbstmordattentäter. Das wollte ich mit meinem Handy aufnehmen. Es sollte in den Fernsehnachrichten und bei meiner Beerdigung gezeigt werden. Ich hab mich selbst zu Tränen gerührt.“

„Ihr Besuch war so ziemlich das Beste, was mir je passiert ist.“ Dann hastig: „Die Religion meiner Eltern war ein Gift, und Sie waren das Gegengift.“

Ob er bei Fiona Maye und ihrem Mann wohnen könne, fragt er. Sie antwortet, das sei schon deshalb nicht möglich, weil es in ihrer Wohnung nur ein Gästezimmer gebe und das für die Besuche zahlreicher Neffen benötigt werde. Adam Henry meint, eine Schwester seiner Mutter in Birmingham sei bereit, ihn für ein oder zwei Wochen aufzunehmen. Fiona besteht darauf, dass Adam seine Mutter mit einer SMS beruhigt. Dann beauftragt sie Nigel Pauling, ein Taxi zu rufen, den Jungen zum Bahnhof zu bringen und ihm eine Fahrkarte nach Birmingham zu kaufen. Zum Abschied versucht sie, Adam flüchtig auf die Wange zu küssen, aber durch eine Kopfdrehung seinerseits treffen sich ihre Lippen.

Sie hätte zurückweichen können, sie hätte auf der Stelle von ihm abrücken können. Stattdessen blieb sie, wo sie war, dem Augenblick schutzlos preisgegeben.

Nachdem Fiona eine Woche lang in Newcastle und dann auch noch in Carlisle Recht gesprochen hat, kehrt sie nach London zurück.

Es herrschte Tauwetter, aber das Eis schmolz weder schnell noch stetig. Zunächst einmal war es eine Erleichterung: Sie gingen sich in der Wohnung nicht mehr befangen aus dem Weg und stellten auch ihren kühlen, beklemmenden Höflichkeitswettstreit ein. Sie aßen gemeinsam, nahmen Einladungen bei Freunden an, sprachen miteinander – meist über die Arbeit. Aber er schlief noch immer im Gästezimmer, und als einmal ein neunzehnjähriger Neffe bei ihnen übernachtete, zog er wieder auf die Couch im Wohnzimmer um.

Einige Wochen nach der Begegnung mit Adam Henry in Newcastle erhält Fiona von ihm ein Gedicht ohne Begleitbrief: „Die Ballade von Adam Henry“. Die ersten Verse sind gut zu lesen. Sie enden mit den Zeilen:

Und Jesus stand auf dem Wasser, und dies sagt‘ er zu mir:
„Die Nixe war Satans Stimme, und jetzt bezahlst du dafür.
Ihr Kuss war der des Judas, Verrat und nicht mehr umzuwenden.“

Im folgenden Text hat Adam so viel herumgestrichen und geändert, dass Fiona nicht erkennt, ob er das Gedicht fertiggestellt hat oder nicht.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


In der Weihnachtszeit geben Fiona und der mit ihr befreundete Anwalt Mark Berner zum fünften Mal ein Konzert in der Great Hall: Berlioz, Mahler und Schubert stehen auf dem Programm. Mark Berner singt, und Fiona begleitet den Tenor am Flügel. Übrigens versuchte Jack, Fiona für Jazz zu begeistern. Allenfalls mit Keith Jarrett hatte er dabei etwas Erfolg. Fiona kann mit Improvisationen wenig anfangen und bevorzugt die strenger reglementierte klassische Musik.

Bevor Jack und sie von zu Hause aufbrechen, trinken sie noch ein Glas Champagner. Unmittelbar vor dem Beginn des Konzerts nimmt Richter Sherwood Runcie seine Kollegin zur Seite und berichtet ihr etwas.

Vier Jahre zuvor leitete er den Mordprozess gegen Martha Longman. Sie wurde für schuldig befunden, ihre Kinder ermordet zu haben. Die Boulevardpresse verteufelte sie, die anderen Gefängnisinsassen tyrannisierten die vermeintliche Kindsmörderin, aber später stellte sich heraus, dass sie unschuldig war. Sherwood Runcie hatte eines der gravierendsten Fehlurteile der letzten Jahrzehnte gefällt. Nach ihrer Freilassung verfiel Martha Longman dem Alkohol und starb bald.

Was Fiona von Sherwood Runcie erfuhr, wissen wir zunächst nicht. Sie konzentriert sich auf das Konzert und spielt perfekt. Am Ende erhebt sich das applaudierende Publikum, aber Fiona hastet zum Ausgang. Mark Berner, Jack und die Gäste erklären sich ihr Verhalten mit der Erschütterung durch die Musik.

Zu Hause brennen zwei Kerzen, die sie vor dem Weggehen leichtsinnigerweise brennen ließ. Aufgewühlt ruft sie die Sozialarbeiterin Marina Greene an, die bestätigt, was Sherwood Runcie vor dem Konzert berichtete: Adam Henry starb vor vier Wochen. Die Leukämie war zurückgekehrt, und er hatte die Behandlung mit Blutinfusionen verweigert. Da er inzwischen volljährig war, mussten die Ärzte sich daran halten. Fiona ahnt, dass Adam nicht weiterleben wollte. Erst jetzt macht sie sich die Mühe, die restlichen Zeilen der „Ballade von Adam Henry“ zu entziffern.

So soll er, der mein Kreuz ertränkt, mit eigner Hand sein Leben enden.

Einige Zeit nach ihr kommt Jack nach Hause, und es dauert eine Weile, bis er merkt, dass sie nicht nur von der Musik aufgewühlt ist. Sie erzählt ihm vom dem Besuch bei dem jungen Krebspatienten im Krankenhaus, dem unerwarteten Wiedersehen in Newcastle und dem Kuss.

„Du hast ihn also geküsst, und er wollte mit dir leben. Was versuchst du mir gerade zu sagen?“
„Ich habe ihn weggeschickt.“

Mit fester, ruhiger Stimme erzählt Fiona ihrem Mann die ganze Geschichte und von ihrem Anteil an seinem Tod.

Adam hatte sich an sie gewandt, und sie hatte ihm nichts geboten, keinen Ersatz für seine Religion, keinen Schutz, dabei war das Gesetz eindeutig, sein Wohl hatte ihr als oberste Richtschnur zu dienen.

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Ian McEwan benützt zwar in „Kindeswohl“ die dritte Person Singular, erzählt jedoch aus der subjektiven Perspektive der Protagonistin (auch wenn er an manchen Stellen die Sichtweise eines auktorialen Erzählers einnimmt). Fiona Mayes bis auf musikalische Ambitionen und eine bizarre Ehekrise kaum vorhandenes Privatleben ist wie eine Rahmenhandlung mit der Berufstätigkeit der Richterin verflochten, wobei Ian McEwan das Schwergewicht auf die juristischen Probleme legt, mit denen sie konfrontiert wird.

Um einen dieser Fälle kreist der Roman „Kindeswohl“: Ein jugendlicher Krebspatient lehnt ebenso wie seine Eltern aus religiösen Gründen die von den Ärzten für notwendig erachtete Therapie ab, obwohl er damit einen qualvollen Tod oder eine lebenslange Behinderung riskiert. (In einem Interview erwähnt Ian McEwan, dass ihn ein echter Fall zu Adam Henrys Geschichte angeregt habe. Allerdings vergingen zwischen der Gesundung des Patienten und seinem Tod sieben Jahre.) Dieses bestürzende Dilemma bringt Ian McEwan den Lesern in „Kindeswohl“ nahe, und er verbindet es auch noch mit einer rudimentären Selbstfindungs- und einer Beinahe-Liebesgeschichte. Aus diesem Teil des Plots hätte sich ein komplexer Roman entwickeln lassen. Aber statt sich darauf zu konzentrieren, die vielfältigen Konflikte (Patient, Ärzte, Eltern, Gemeinde, Gericht) und die damit verbundenen psychologischen Vorgänge tiefer auszuleuchten, begnügt Ian McEwan sich in „Kindeswohl“ mit einer Skizze, in der die Eltern und Ärzte des Patienten schemenhaft bleiben.

Zudem retardieren zahlreiche Einschübe und Abschweifungen die Handlung – sofern man bei „Kindeswohl“ überhaupt von einer Romanhandlung sprechen kann. Einige der gerichtlichen Fälle, in denen Fiona Maye Urteile fällen muss oder an die sich erinnert, hätten das Potenzial, als Kerne von Romanplots verwendet zu werden. Das gilt vor allem für ihre Entscheidung, eines der beiden Kinder eines nicht überlebensfähigen siamesischen Zwillingspaars zu retten, obwohl der Eingriff den Tod des anderen beschleunigt. Ian McEwan beschäftigt sich damit allerdings nur nebenbei und zwischendurch. Weil er darüber referiert, ohne uns die Personen nahezubringen, sind die Einschübe lediglich intellektuell interessant.

Hin und wieder blitzt ein wenig Ironie auf, aber im Großen und Ganzen erzählt Ian McEwan in „Kindeswohl“ sachlich-nüchtern.

Den Roman „Kindeswohl“ von Ian McEwan gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Eva Mattes (ISBN 978-3-257-80358-7).

Für die Verfilmung durch Richard Eyre schrieb Ian McEwan selbst das Drehbuch:

Kindeswohl – Originaltitel: The Children Act – Regie: Richard Eyre – Drehbuch: Ian McEwan nach seinem Roman „Kindeswohl“ – Kamera: Andrew Dunn– Schnitt: Dan Farrell – Musik: Stephen Warbeck – Darsteller: Emma Thompson, Stanley Tucci, Fionn Whitehead, Ben Chaplin, Rosie Cavaliero, Jason Watkins, Nikki Amuka-Bird, Anthony Calf u.a. – 2017; 205 Minuten

 

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2015
Textauszüge: © Diogenes Verlag

Ian McEwan: Der Zementgarten
Ian McEwan: Unschuldige
Ian McEwan: Liebeswahn (Verfilmung)
Ian McEwan: Amsterdam
Ian McEwan: Abbitte
Ian McEwan: Saturday
Ian McEwan: Am Strand
Ian McEwan: Solar
Ian McEwan: Honig
Ian McEwan: Nussschale
Ian McEwan: Maschinen wie ich
Ian McEwan: Die Kakerlake
Ian McEwan: Lektionen

Kurt Oesterle - Der Wunschbruder
"Der Wunschbruder" ist eine Mischung aus Heimat- und Entwicklungsroman. Kurt Oesterle wechselt geschmeidig zwischen den beiden Zeit- und Handlungsebenen bzw. Kern- und Rahmenhandlung hin und her. Dabei kommt einer der beiden grundverschiedenen Protagonisten als Ich-Erzähler zu Wort. Dementsprechend ist "Der Wunschbruder" mehr eine Schilderung als eine Inszenierung.
Der Wunschbruder