Ian McEwan : Nussschale

Nussschale
Originalausgabe: Nutshell Jonathan Cape, London 2016 Nussschale Übersetzung: Bernhard Robben Diogenes Verlag, Zürich 2016 ISBN: 978-3-257-06982-2, 288 Seiten ISBN: 978-3-257-60777-2 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

John Cairncross, ein erfolgloser Dichter und Verleger, lässt sich von seiner hoch­schwan­geren Ehefrau Trudy einreden, sie müsse eine Weile allein mit sich und dem Kind sein. Tatsächlich lebt sie in Johns Haus mit dessen jüngerem Bruder Claude zusammen, einem Bauunternehmer, der es auf das wertvolle Grundstück abgesehen hat und seine Geliebte deshalb zum Gift­mord anstiftet. – Beim Ich-Erzähler handelt es sich um einen Zeugen des Verbrechens: den Fötus ...
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Kritik

Im Shakespeare-Jahr 2016 ver­wan­delt Ian McEwan den Plot der Tra­gö­die "Hamlet" in einen grotesken Kri­mi­nal­roman, ein von originellen Ein­fäl­len, Komik, Ironie, Sarkasmus und Sprachwitz fun­keln­des Kammerspiel mit dem Titel "Nussschale".
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So, hier bin ich, kopfüber in einer Frau.

Mit diesem Satz beginnt Ian McEwan seinen Roman „Nussschale“. Beim Ich-Erzähler handelt es sich um einen Fötus im neunten Monat. Seine Gedanken laufen auf Hochtouren, denn trotz seines beschränkten Lebensraums ist er ein freier Geist.

Ich trage meine Mutter wie eine enganliegende Mütze.

Trudy Cairncross, seine 28-jährige Mutter, wohnt mit ihm in einem georgianischen Haus an der protzigen Hamilton Terrace in London. Es handelt sich um ein Familienerbe ihres Ehemanns John Cairncross, eines erfolglosen Dichters und Verlegers, Rezensenten und Poetik-Dozenten, der vor einiger Zeit trotz seiner Überschuldung eine Wohnung im Stadtteil Shoreditch mietete, weil Trudy ihm eingeredet hatte, dass sie eine Weile mit sich und dem Ungeborenen allein sein müsse, um sich selbst zu finden.

[…] ein Riesennarr, der es für klug hält, seiner Frau jenen „Raum“ zu geben, den sie angeblich braucht. Raum! Ich möchte sie mal hier drinnen sehen, wo ich kaum mehr einen Finger krümmen kann. Im Vokabular meiner Mutter ist „Raum“ und ihr Bedürfnis danach eine ungestalte Metapher, wenn nicht gar ein Synonym für Egoismus, Tücke und Grausamkeit.

Der gutmütige John ahnt nicht, dass sein drei Jahre jüngerer Bruder Claude Cairncross über einen Schlüssel für das Haus verfügt und mit der hoch­schwan­geren Trudy zusammenlebt. Claude hält nichts von Gedichten. Ein Millionenerbe ermöglichte es ihm, ein Bauunternehmen zu gründen. An Geld fehlt es ihm nicht, aber das profitable Hochhaus in Cardiff musste er bereits abgeben. Er hat es auf das seit längerem renovierungs­bedürftige und seit Johns Auszug vermüllte Anwesen seines Bruders abgesehen, denn allein der Bauplatz an der Hamilton Terrace ist Millionen wert.

Der Fötus weiß das, weil er die Gespräche belauscht. Er lernt auch eine Menge, wenn Trudy nachts Podcast hört.

Sie hört sich wahllos alles an. Und ich habe mitgehört. Madenzucht in Utah. Wandern im Burren-Nationalpark. Hitlers letzte Hoffnung: die Ardennenoffensive. Das Sexualverhalten der Yanomami. Wie Poggio Bracciolini Lukrez vor dem Vergessen bewahrte. Die Physik des Tennisspiels.
Ich bleibe wach, ich höre zu, ich lerne.

In so mancher langen, ruhigen Nacht habe ich meiner Mutter einen heftigen Tritt verpasst. Sie wurde wach, konnte nicht wieder einschlafen und tastete nach dem Radio. Grausam, ich weiß, aber am Morgen waren wir beide besser informiert.

Über den Zustand der Welt ist der Fötus in seiner Klausur gut informiert. Er weiß, wie gefährlich die Kombination von Selbstmitleid und Aggressivität ist.

In Kombination […] für Gruppen oder Nationen ein Giftgemisch. […] Man hat uns erniedrigt, jetzt werden wir uns behaupten. Seit der russische Staat zum politischen Arm des organisierten Verbrechens wurde, ist Krieg in Europa nicht länger undenkbar. […] Und dasselbe Gebräu entflammt die barbarischen Randgruppen des Islam. […] Wir wurden gedemütigt, wir werden uns rächen.

Europa steckt in einer existentiellen Krise, heraufbeschworen durch Nationalisten, Populisten und eine von Krieg und Armut verursachte Flüchtlingswelle. Überlagert werden alle diese brisanten Probleme von der mittel- und langfristigen Bedrohung der Menschheit durch den Klimawandel. Allerdings meint der Fötus, dass diese Schwarzmalerei zu einfach sei:

Pessimismus erspart der denkenden Kaste die Suche nach Lösungen.

Und was ist mit den alltäglichen Wundern, die einen Caesar Augustus jeden heutigen Arbeiter beneiden lassen würden: schmerzfreie Zahnbehandlung, elektrisches Licht, weltweiter Sofortkontakt mit den Menschen, die wir lieben, Zugang zur besten Musik, die die Welt je gehört hat, zur Kochkunst von einem Dutzend Kulturkreise? Wir sind pappsatt vor lauter Privilegien und Köstlichkeiten, und doch jammern wir […].

Der Fötus mag es, wenn seine Mutter guten Wein trinkt, obwohl er weiß, dass Alkohol der Intelligenz schadet. Wenn Trudy nach zwei Gläsern aufhört und sagt, sie müsse an das Baby denken, ärgert er sich.

Das ist der Moment, in dem ich am liebsten an meiner öligen Schnur zerren würde, wie man in einem herrschaftlichen Landhaus die Samtkordel an der Wand zieht, um prompte Bedienung zu verlangen.

Auch wenn niemand das Etikett vorliest, erkennt der Fötus einen Échezeaux Grand Cru. Bei der Domaine ist er nicht ganz sicher: la Romanée-Conti oder Jean Grivot.

An diesem Tag trinkt Trudy ein viertes Glas (und dann noch mehr).

Sie findet wohl, ich sei alt genug.

Während Trudy und Claude eine Flasche Wein nach der anderen trinken, planen sie Schreckliches: Sie wollen John ermorden, um das Haus verkaufen zu können. Claude schlägt vor, seinen Bruder mit Glykol zu vergiften.

„Keine Farbe, kein Geruch, eher süß, genau das Richtige für einen Smoothie. Ähm. Greift die Nieren an, höllische Schmerzen. Winzige scharfe Kristalle schlitzen die Zellen auf. Er wird wie ein Betrunkener taumeln und lallen, aber nicht nach Alkohol riechen. Übelkeit, Erbrechen, Hyperventilieren, Krämpfe, Infarkt, Koma, Nierenversagen. Dann Vorhang.“

Claude malt seiner bereits betrunkenen Geliebten die Zukunft aus:

„[…] sieben Millionen auf der Bank. Und das Baby bringen wir irgendwo unter.“

Die letzte Bemerkung erschreckt den Fötus:

Wie stehen dagegen jetzt meine Chancen? Die eines blinden, stummen, kopfüber lebenden Fast-Kindes, das noch daheim wohnt.

Während die Verschwörer darüber diskutieren, wo sie John den vergifteten Smoothie am besten verabreichen, klingelt es. John kommt mit einer jungen Frau, die er als Dichterin mit dem Namen Elodie vorstellt.

Meinem Vater scheint es nichts auszumachen, dem Bruder in seiner Küche dabei zuzusehen, wie er die Weinflasche öffnet, den Gastgeber spielt.

Er sei gekommen, sagt John, um seinen Wiedereinzug anzukündigen.

Claude, du hast dein schickes großes Haus in Primrose Hill, und Trudy, du kannst bei ihm wohnen. Ich werde morgen einige meiner Sachen hierher zurückbringen. Sobald du aus dem Haus bist und die Inneneinrichter fertig sind, wird Elodie zu mir ziehen.

Dass sein Vater eine Geliebte hat, gefällt dem Fötus nicht, denn dadurch – befürchtet er – schwinden seine Chancen, bei ihm zu wohnen.

[…] zumindest eine Weile. Bis ich auf eigenen Beinen stehen kann.

Obwohl Trudy und Claude am nächsten Morgen verkatert sind, bereiten sie alles für den Mord vor. Claude kauft bei Smoothie Heaven in der Judd Street Johns Lieblingssmoothie „Tropendämmerung“ aus Banane, Ananas, Apfel, Minze und Weizenkeimen. Wegen der Überwachungskameras trägt er dabei einen Hut seines Bruders. Außerdem besorgt er eine Flasche Frostschutzmittel und hebt die Quittung auf. Zu Hause mischt er eine tödliche Menge Glykol in das Smoothie und füllt einen Styroporbecher damit.

Wie angekündigt, bringt John einige Umzugkartons. Während Claude zum unverschlossenen Auto seines Bruders hinausgeht, teilt dieser seiner Noch-Ehefrau mit, dass er eine Firma beauftragt habe, das Haus zu reinigen. Die Männer kämen mittags, ebenso wie die Schädlingsbekämpfer.

Wenn du nichts dagegen hast, komme ich am Freitag mit Elodie vorbei. Sie will Maß nehmen für die Vorhänge.

Dann sagt er, er habe einen Witz gemacht und bietet Trudy zwei Wochen für den Auszug an. Sie besteht allerdings auf zwei Monaten. Weil John gleich wieder fort möchte, ohne etwas zu trinken, befürchten die Verschwörer bereits, dass der Mordversuch scheitern könnte, aber schließlich bringt Trudy ihren Ehemann doch noch dazu, den Smoothie zu trinken.

Der Plan sieht vor, dass man John irgendwo tot hinter dem Lenkrad findet.

Auf dem Boden beim Rücksitz liegt, kaum zu sehen, ein Styroporbecher mit dem Logo eines Ladens in der Judd Street, unweit von Camden Town Hall. Im Becher die Reste eines pürierten Fruchtgetränks, versetzt mit Glykol. In der Nähe des Bechers eine leere Flasche mit besagter tödlicher Substanz. In der Nähe der Flasche eine weggeworfene Quittung für das Getränk mit dem Datum des heutigen Tages. Unterm Fahrersitz versteckt Kontoauszüge, einige von einem kleinen Verlag, andere von einem Privatkonto. Beide vermerken Überziehungen, jeweils einige zehntausend Pfund. Auf einen der Auszüge wurde in der Handschrift des Dahingeschiedenen das Wort „Genug!“ gekritzelt […]. Neben den Kontoauszügen ein Paar Handschuhe, die der Tote gelegentlich trug, um seine Schuppenflechte zu verbergen. Sie verdecken teilweise eine zerknüllte Zeitungsseite mit einem Verriss eines kürzlich erschienenen Gedichtbandes. Auf dem Beifahrersitz ein schwarzer Hut.

Das Auto springt jedoch nicht an. Die Mörder befürchten, dass ihr Opfer vor der Haustür stirbt. Erst als der Wagen rückwärts auf die Straße fährt, atmen sie auf.

Wie erniedrigend, jede Gefühlsregung meiner Mutter aus zweiter Hand erleben zu müssen und dadurch noch enger an sie und ihr Verbrechen gebunden zu werden. Nur ist es nicht leicht, mich von ihr zu distanzieren, bin ich doch von ihr abhängig. Und wenn Gefühle derart aufgerührt werden, wird Abhängigkeit zu Liebe wie Milch zu Butter.

Ein paar Stunden später klingeln zwei Polizisten. Sergeant Crowley erklärt, was passiert ist. John Cairncross‘ Wagen fiel am Rand der M1 auf, etwa 30 Kilometer nördlich von London. Die Fahrertür stand offen, und auf einer grasbewachsenen Böschung lag ein Mann, der noch während des Transports ins Krankenhaus starb. Alles deutet auf einen Suizid hin.

Kaum ist die Polizei fort, fängt das Mörderpaar zu streiten an. Trudy findet es nun entsetzlich, dass ihr Mann tot ist. Sie erinnert sich, wie sie ihn kennenlernte und mit ihm nach Dubrovnik durchbrannte. Damals war sie 19. Sie wirft Claude vor, aus Geldgier und Hass auf seinen Bruder gehandelt zu haben. Vom Streit erregt, reißen sich die beiden zur Versöhnung die Kleider vom Leib, und Claude fällt trotz des Risikos in diesem Stadium der Schwangerschaft in der Missionarsstellung über Trudy her. Das will der Fötus nutzen, um sich selbst zu töten, denn er hofft, auf diese Weise die Ermordung seines Vaters rächen zu können.

Ein Kindstod, letztlich Mord, infolge der unverantwortlichen Zudringlichkeit meines Onkels gegen meine hochschwangere Mutter. Festnahme, Prozess, Urteil, Haft.

Der Fötus wickelt sich die Nabelschnur dreifach um den Hals. Aber kaum schwinden ihm die Sinne, erschlaffen die Fäuste, und der Pulsschlag kehrt zurück.

Bevor das Mörderpaar die Spuren im Haus beseitigen kann, taucht Elodie auf. Schluchzend erzählt die Dichterin, dass sie John Cairncross vor zwei Jahren bei einem Seminar kennengelernt habe und er ihr Verleger, Freund und Lehrer geworden sei. Sie ist gekommen, um Trudy zu versichern, dass sie und John das Liebesverhältnis nur vortäuschten, um sie eifersüchtig zu machen. John hoffte, seine Frau auf diese Weise zurückgewinnen zu können.

Am nächsten Tag setzen Trudy und Claude ihre gegenseitigen Sticheleien fort, bis Chief Inspector Clare Allison und Sergeant Crowley klingeln. Der Fötus wartet vergeblich auf eine höfliche Erkundigung der Polizistin nach ihm (Wann ist es so weit? Junge oder Mädchen?). Trudy lügt, John habe unter Depressionen gelitten. Zwischendurch fragt Clare Allison, ob Claude sich in letzter Zeit den schwarzen Hut mit der breiten Krempe seines Bruders ausgeliehen habe. Er sagt nein und weiß im nächsten Augenblick, dass er einen Fehler gemacht hat, weil möglicherweise DNA-Spuren von ihm am Hut gefunden werden. Bevor er ihn ins Auto seines Bruders legte, hatte er ihn wegen der Überwachungskameras in der Judd Street getragen.

Inspector Allison bittet darum, sich im Haus umsehen zu dürfen. Der Fötus vermutet, dass sie die Verwahrlosung in Verbindung mit Verbrechen bringen könnte.

Die Verachtung für Dinge, für Ordnung und Sauberkeit muss im selben Spektrum liegen wie die Geringschätzung von Gesetzen, von Werten, des Lebens selbst.

Als sich Clare Allison verwundert darüber äußert, dass weder auf der Flasche mit dem Frostschutzmittel noch auf dem geleerten Becher Fingerabdrücke gefunden wurden, weist Trudy auf Johns Schuppenflechte hin und erklärt, er habe deshalb häufig Handschuhe getragen. Aber in Daumen und Zeigefinger eines der beiden Handschuhe, die in Johns Auto sichergestellt wurden, stießen die Forensiker auf Spinnennester.

„Kann mich beim besten Willen nicht an den lateinischen Namen erinnern. Lange her, dass eine Hand in diesem Handschuh steckte.“

Die Polizisten sind bereits fort, als auf der Treppe erneut Schritte zu hören sind. Trudy und Claude blicken überrascht auf. Johns Geist erwürgt Claude und blickt dabei Trudy an. – Aber das ist nur eine „kindische Halloween-Phantasie“ des Fötus.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Die Verhaftung der Verbrecher ist nur eine Frage der Zeit. Der Fötus hört Kofferschlösser auf- und zuschnappen: Die Mörder seines Vaters packen. Claude hat ein Taxi zum Bahnhof bestellt. Trudy möchte noch ein gerahmtes Foto ihrer Mutter mitnehmen, aber Claude drängt ungeduldig zum Aufbruch.

Der Zug fährt in fünfundfünfzig Minuten, bis zum Bahnhof ist es ein ziemliches Stück.

In letzten Augenblick gelingt es dem Fötus, den Nagel seines rechten Zeigefingers in die Fruchtblase zu bohren und einen winzigen Riss zu erzeugen, den er dann mühsam erweitert, bis er die Membran mit geballter Faust durchschlagen kann. Zwei Wochen vor dem errechneten Geburtsdatum. „Die Blase. Sie ist geplatzt!“, ruft seine Mutter. Claude meint ungerührt: „Wir kümmern uns später drum.“

Ich winde mich aus der Eihaut, meine erste Erfahrung mit dem Ausziehen. Wie ungelenk ich bin. Drei Dimensionen scheinen mir drei zu viel zu sein. Ich fürchte, die materielle Welt wird für mich zur Herausforderung. Die abgestreifte Hülle hängt mir verdreht um die Knie. Egal.

Der Fötus erreicht die Cervix.

Und als ich mich dort, an der Öffnung zur Welt, mit schwächlichen Fingern vortaste, wecke ich urplötzlich, wie mit einem Zauberspruch, die große Macht meiner Mutter; um mich herum erschauern die Wände, dann zucken sie und schließen sich noch enger um mich zusammen. Ein Erdbeben, ein gewaltiger Aufruhr in Mutters Höhle. Dem Zauberlehrling gleich graut mir vor den Kräften, die ich rief.

Trudy fordert Claude auf, einen Krankenwagen zu rufen, aber er erkundigt sich stattdessen nach seinem Pass.

Während Claude ihre Handtasche durchwühlt, übertönt Trudy das helle Klirren von Münzen und Schminkutensilien: „Ich habe ihn unten versteckt. Genau für den Fall, dass so etwas passiert.“

Claude schlägt Trudy einen Deal vor:

„Sag mir, wo er ist, und ich rufe dir einen Krankenwagen. Dann verschwinde ich.“

Als das Baby von den Wehen durch den Geburtskanal gepresst wird, bleibt Claude nichts anderes übrig, als es zu nehmen und auf den Bauch der Mutter zu legen. Es klingelt. Auf dem Monitor der Türöffner-Anlage sieht Claude vier Polizisten.

Wir nehmen das zur Kenntnis. Es ist vorbei. Kein gutes Ende. Ein gutes war nie möglich. […]
Und ich denke an unsere Zelle im Gefängnis – hoffentlich nicht zu klein –, an ihre wuchtige Tür, an die ausgetretene Treppe dahinter, Stufen, die nach oben führen: erst Gram, dann Gerechtigkeit, dann Sinn. Der Rest ist Chaos.

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Im Shakespeare-Jahr 2016 erweist Ian McEwan dem großen englischen Dichter mit einer neuen Version der Tragödie „Hamlet“ seine Reverenz. Auch der Titel „Nussschale“ bezieht sich auf „Hamlet“. Das wird durch das von Ian McEwan gewählte Motto deutlich, ein Zitat aus „Hamlet“:

O Gott, ich könnte in eine Nussschale eingesperrt sein und mich für einen König von unermesslichem Gebiete halten, wenn nur meine bösen Träume nicht wären. (Hamlet, 2. Akt, 2. Szene)

Hamlets Onkel, der Brudermörder Claudius, wird in „Nussschale“ zu Claude, und dessen Geliebte heißt Trudy, also wie die Gattenmörderin Gertrude in der Shakespeare-Tragödie. Den Schauplatz verlegt Ian McEwan vom dänischen Königshof in Helsingør ins heutige London. Und Hamlet ist in „Nussschale“ kein junger Königssohn, sondern – ein Fötus.

Einen Erzähler aus dem Uterus gab es bereits im 18. Jahrhundert, in dem neunbändigen Roman „The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman“ / „Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman“, den der Landpfarrer Laurence Sterne 1759 bis 1766 schrieb. Dass ein denkender Fötus abstrus ist, kümmert Ian McEwan nicht. Er verwendet diesen grotesken Ansatz für eine aberwitzige Parabel auf Liebe und Verrat, Habgier und Verblendung. Außerdem beleuchtet er den Zustand der heutigen Welt. Aber die Passagen, in denen der Fötus über Klimawandel, Flüchtlingskrise und ähnliches reflektiert, sind die schwächsten des Romans, nicht nur, weil damit das Bild vom denkenden Embryo arg strapaziert wird, sondern vor allem, weil die Kommentare witzlos und oberflächlich bleiben.

Die von Ian McEwan mit leichter Hand entwickelte Kriminalgeschichte funkelt dagegen von originellen Einfällen, Komik, Ironie, Sarkasmus und Sprachwitz. Das beginnt schon mit dem ersten Satz: „So, hier bin ich, kopfüber in einer Frau.“

„Nusschale“ besteht aus einem inneren Monolog des kuriosen Protagonisten in der Ich-Form und im Präsens. Die Handlung spielt sich innerhalb weniger Tage in den Räumen eines Hauses ab, das die Mutter des Ungeborenen in dieser Zeit nicht verlässt. Was außerhalb geschieht, erfahren der Fötus und wir wie bei einem Kammerspiel aus Gesprächen.

Den Roman „Nussschale“ von Ian McEwan gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Wanja Mues (Erzähler) (ISBN 978-3-257-80376-1).

Anlässlich des 400. Todestages von William Shakespeare bat der 1917 von Leonard und Virginia Woolf gegründete Verlag The Hogarth Press einige Schriftsteller um Neuerzählungen zu Werken von William Shakespeare:

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2016
Textauszüge: © Diogenes Verlag

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