Pascal Mercier : Nachtzug nach Lissabon

Nachtzug nach Lissabon
Nachtzug nach Lissabon Originalausgabe: Carl Hanser Verlag, München / Wien 2004 ISBN 3-446-20555-1, 496 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Unvermittelt steht der Berner Lateinlehrer Raimund Gregorius mitten im Unterricht auf und verlässt das Gebäude. Als er in einer Buchhandlung ein faszinierendes Buch des portugiesischen Arztes und Schriftstellers Amadeu de Prado entdeckt, fährt er kurzerhand nach Lissabon und folgt dort den Spuren des Toten, um zu verstehen, was das für ein Mensch war ...
mehr erfahren

Kritik

Dass der stille, handlungsarme und philosophisch angehauchte Roman "Nachtzug nach Lissabon" von Pascal Mercier zum Bestseller wurde, ist verblüffend.
mehr erfahren

Bern 2004. Der siebenundfünfzigjährige Romanist Raimund („Mundus“) Gregorius arbeitet seit mehr als dreißig Jahren als Lehrer an dem Gymnasium, in dem er selbst zur Schule gegangen war. Vier Jahre nach dem Abitur war er als Hilfslehrer zurückgekehrt. Sein Examen hatte er erst im Alter von 33 Jahren gemacht. Seit die Ehe mit der zwölf Jahre jüngeren Florence d’Arronge nach fünf Jahren zerbrochen war, lebt er allein und eigentlich mehr in seinen Büchern als in der realen Welt.

Auf dem Weg zur Schule fällt ihm eine Frau auf, die auf der Kirchenfeldbrücke steht, einen Brief zerknüllt und ins Wasser wirft. Da er befürchtet, sie wolle sich auch selbst von der Brücke stürzen, spricht er sie an. Es stellt sich heraus, dass es sich um eine Portugiesin handelt. Die Sprache gefällt ihm. Die Frau nimmt seine Einladung an, ihn bis zur Schule zu begleiten und setzt sich ins Klassenzimmer, während er mit dem Lateinunterricht beginnt. Nach einer Weile steht sie auf, blickt ihn an, legt den Finger an die Lippen und verschwindet.

Pünktlich erscheint Gregorius zur nächsten Lateinstunde. Doch unvermittelt steht er auf und verlässt ohne ein Wort das Gebäude. In einer spanischen Buchhandlung zieht er ein 1975 in Lissabon veröffentlichtes Buch in portugiesischer Sprache aus dem Regal: „Um ourives das palavras“ (Ein Goldschmied der Worte). Der Autorenname lautet: Amadeu Inácio de Almeida Prado. Gregorius kann nicht Portugiesisch, aber der Buchhändler liest ihm ein paar Sätze vor:

Von tausend Erfahrungen, die wir machen, bringen wir höchstens eine zur Sprache, und auch diese bloß zufällig und ohne die Sorgfalt, die sie verdiente. Unter all den stummen Erfahrungen sind diejenigen verborgen, die unserem Leben unbemerkt seine Form, seine Färbung und seine Melodie geben. Wenn wir uns dann, als Archäologen der Seele, diesen Schätzen zuwenden, entdecken wir, wie verwirrend sie sind. Der Gegenstand der Betrachtung weigert sich stillzustehen, die Worte gleiten am Erlebten ab, und am Ende stehen lauter Widersprüche auf dem Papier. (Seite 28)

Als der Buchhändler merkt, wie beeindruckt Gregorius von diesen Worten ist, schenkt er ihm das Buch, und der Romanist kauft sich auch gleich einen portugiesischen Sprachkurs, um es lesen zu können. Zu Hause hebt er weder das Telefon ab, noch öffnet er die Tür: Er weiß, dass ihn Schüler und Kollegen suchen.

Am frühen Morgen steigt er in einen Zug. Sechsundzwanzig Stunden dauert die Fahrt nach Lissabon. Dort will er mehr über Amadeu Prado herausfinden. Als er nachts in der Baixa spazierengeht, weil er – wie üblich – nicht schlafen kann, wird er von einem Rollschuhfahrer umgestoßen, und seine Brille zerbricht. Gregorius hat zwar seine Ersatzbrille dabei, aber er sucht doch am nächsten Tag die dreiundfünfzigjährige Augenärztin Mariana Conceição Eça auf, damit diese ihm eine neue Brille verschreibt. Nach einer sorgfältiger Untersuchung schickt sie ihn zu dem Optiker César Santarém, und bezüglich des Buches von Amadeu Prado, das er ihr gezeigt hat, verweist sie ihn an den Antiquariatsbesitzer Julio Simões, der zwar weder den Verlag noch den Autor kennt, ihm jedoch rät, sich an seinen Vorgänger Vitor Coutinho zu wenden.

Zwei Tage später setzt Gregorius anstelle seiner Ersatzbrille mit den dicken Gläsern die federleichte Brille auf, die Santarém inzwischen für ihn anfertigte, und ist verblüfft, wie gut er damit sieht.

Er besucht die Gräber des Buchautors, seiner Ehefrau und seines Vaters: Amadeu Inácio de Almeida Prado: 20. Dezember 1920 – 20. Juni 1973, Fátima Amélia Cleméncia Galhardo de Prado: 1. Januar 1926 – 3. Februar 1961, Alexandre Horácio de Almeida Prado (28. Mai 1890 – 9. Juni 1954). Auf dem Grabstein steht: „Wenn die Diktatur eine Tatsache ist, ist die Revolution eine Pflicht.“ (Seite 88)

Mariana Eça nimmt ihn mit zu ihrem Onkel João Eça, einem Bruder ihres Vaters, der in einem Pflegeheim in Cacilhas lebt. Er hatte Amadeu Prado und dessen damalige Braut Fátima im Herbst 1952 im Zug von London nach Brighton kennen gelernt. Gregorius besucht ihn mehrmals, spielt Schach mit ihm und lässt ihn von Amadeu Prado erzählen.

Prado war Arzt. In der ehemaligen Praxis trifft Gregorius eine seiner beiden Schwestern an: Adriana Soledade de Almeida Prada. Die alte Frau, die seit dem Tod ihres Bruders vor einunddreißig Jahren allein in dem Haus wohnt, lebt ganz in der Vergangenheit. Erst als Gregorius bei einem seiner weiteren Besuche die Zeiger ihrer in der Todesstunde von Amadeu Prado angehaltenen Standuhr auf die aktuelle Zeit stellt und das Pendel anstößt, kann er sie in die Gegenwart holen.

Prados andere Schwester – Rita („Mélodie“) – wird von Gregorius im Haus ihres Vaters, des Richters Alexandre de Prado, befragt. Außerdem spricht er mit dem über neunzig Jahre alten Pater Bartolomeu Lourenço de Gusmão, der früheren Krankenschwester Maria João Ávila und Jorge O’Kelly, dem Prado eine Apotheke in Lissabon gekauft hatte. Allmählich setzt sich aus den Erinnerungen dieser Menschen, die Prado nahegestanden hatten, dem Text des Buches sowie Briefen und Aufzeichnungen, die Gregorius von Adriana bekommt, ein Bild zusammen.

Als Jugendlicher hatte sich Amadeu Prado einmal in eine Gerichtsverhandlung seines Vaters geschlichen und entsetzt erlebt, wie dieser die hübsche Diebin Diamantina Esmeralda Ermelinda verurteilte. Gewissermaßen aus Protest wurde er später einmal selbst zum Ladendieb. Er konnte weder verstehen noch verzeihen, dass sein Vater dem Diktator António de Oliveira Salazar (1889 – 1970) als Richter diente. Da Vater und Sohn nicht in der Lage waren, miteinander offen zu reden, ahnte Amadeu nichts von den Gewissensnöten des Richters, der sich schließlich in der Hoffnung, damit seinem Sohn Genüge zu tun, zwei Wochen nach seinem 64. Geburtstag das Leben nahm.

Als Adriana sich eines Tages beim Essen verschluckte und zu ersticken drohte, rettete Amadeu ihr mit einem beherzten Eingriff das Leben: Er stach ihr ein spitzes Messer in den Hals, drehte das Messer ein wenig, um die Öffnung zu erweitern und hielt sie mit einer Kugelschreibermine bis zum Eintreffen der Rettungssanitäter offen. Koniotomie nenne man den Eingriff, erklärte er den erstarrten Angehörigen.

Amadeu Prado wurde ein beliebter Arzt in Lissabon, doch sein Leben änderte sich 1965 jäh. Damals wurde vor Prados Nachbarhaus ein Attentat auf den als „Schlachter“ berüchtigten Geheimdienstoffizier Rui Luís Mendes verübt. Ohne lang nachzudenken, bewahrte Prado ihn mit einer Herzspritze vor dem Tod. „Verräter“ hieß es da, und Prado wurde von seinen bisherigen Patienten bespuckt und mit Tomaten beworfen. „Ich bin doch Arzt“, versuchte Prado sich zu verteidigen, aber er wusste selbst nicht, warum er Mendes gerettet hatte, und es graute ihm vor der Vorstellung, dass der Geheimdienstoffizier dank seines Eingriffes weiter morden konnte.

Habe ich es für ihn getan? War es so, dass ich in seinem Interesse wollte, dass er weiterlebte? Kann ich mit Wahrhaftigkeit sagen, dass das mein Wille war? […]
Habe ich es also in Wirklichkeit für mich getan? Um vor mir als guter Arzt und tapferer Mensch dazustehen, der die Kraft hat, seinen Hass niederzuringen? (Seite 227f)

Kurz darauf, im Winter 1965, suchte Amadeu Prado João Eça auf, von dem er wusste, dass er dem Widerstand gegen Salazar angehörte: Er wollte sich nun ebenfalls politisch engagieren.

Im Herbst 1971 sah Prado zum ersten Mal Estefánia Espinhosa, die seit eineinhalb Jahren mit seinem langjährigen Freund Jorge O’Kelly zusammen war. Der fünfzigjährige Arzt und die achtundzwanzig Jahre jüngere Schöne verliebten sich auf den ersten Blick, doch aus Loyalität gegenüber O’Kelly unterdrückte Prado seine Gefühle und wies Estefánia zurück, als sie ihn in seiner Praxis aufsuchte. O’Kelly spürte dennoch, dass er Estefánia nicht halten konnte und beobachtete sie eifersüchtig.

Weil Estefánia Espinhosa über ein phänomenales Gedächtnis verfügte und ebenfalls dem Widerstand angehörte, konnten die Rebellen schriftliche Aufzeichnungen auf ein Minimum beschränken. Doch als der Zirkel im Februar 1972 aufflog, beabsichtigte O’Kelly, Estefánia zu töten, weil er befürchtete, dass sie verhaftet und gefoltert werden könnte und dann alle verraten würde. Vielleicht wünschte er ihren Tod auch, um sich von der Qual, die Liebesbeziehung nicht aufrechterhalten zu können, zu erlösen. Jedenfalls brachte Amadeu Prado die junge Frau über die Grenze nach Spanien in Sicherheit.

Unmittelbar nach seiner Rückkehr wurde er krank und begann zu fiebern. Mit O’Kelly sprach er erst ein Jahr später wieder, kurz bevor er am 20. Juni 1973 an einer Gehirnblutung starb. Schon lange hatte er gewusst, dass sich in seinem Gehirn ein Aneurysma befand.

Im Jahr darauf fand die „Nelkenrevolution“ statt.

Für kurze Zeit kehrt Gregorius nach Bern zurück. Danach gibt er in Lissabon sein Hotelzimmer auf und zieht als Gast in das Haus des Geschäftsmannes José António da Silveira, den er während seiner ersten Anreise im Nachtzug nach Lissabon kennen gelernt hatte. Auch in Coimbra folgt Gregorius den Spuren von Amadeu Prado, und obwohl er jahrzehntelang nicht mehr Auto gefahren ist, nimmt er sich einen Leihwagen, um nach Finisterre zu fahren, wo Prado sich 1972 mit Estefánia Espinhosa aufgehalten hatte.

Als die Schwindelanfälle, unter denen er seit einiger Zeit leidet, häufiger und heftiger werden, ruft er Konstantin Doxiades an, seinen Augenarzt in Bern, und der rät ihm, sich untersuchen zu lassen. Gregorius verabschiedet sich von seinen Gesprächspartnern in Lissabon und reist nach Hause. Auf dem Weg sucht er Estefánia Espinhosa auf, die an der Universität in Salamanca als Geschichtsprofessorin tätig ist. Sie erzählt ihm, Amadeu Prado habe ihr in Finisterre vorgeschlagen, gemeinsam auf einem Schiff Europa zu verlassen. Als sie das ablehnte, zog Prado sich frustriert von ihr zurück.

In Bern lässt sich Raimund Gregorius von Konstantin Doxiades in eine Klinik bringen.

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Die Reise im „Nachtzug nach Lissabon“ wird für den Schweizer Romanisten Raimund Gregorius zu einer Reise in sein eigenes Inneres. Während er den Spuren des (fiktiven) portugiesischen Arztes und Buchautors Amadeu Inácio de Almeida Prado (1920 – 1973) folgt, sucht er sich auch selbst. Die Rahmenhandlung wirkt ein wenig behäbig und umständlich. Interessanter als die Figur des Schweizer Romanisten erscheinen mir der Charakter und die Gewissensnöte des portugiesischen Arztes, der mindestens zweimal in ein Dilemma gerät: Als er einem Schergen des Salazar-Regimes das Leben rettet und als er die Geliebte eines langjährigen Freundes begehrt.

Pascal Mercier zitiert immer wieder aus Schriften von Amadeu Prado, und man kann wohl annehmen, dass er selbst aus der Romanfigur spricht. Nachstehend eine kleine Auswahl von Aphorismen:

Es ist ein Irrtum zu glauben, die entscheidenden Momente eines Lebens, in denen sich seine gewohnte Richtung für immer ändert, müssten von lauter und greller Dramatik sein, unterspült von heftigen inneren Aufwallungen. (Seite 53)

Eine Religion, in deren Zentrum eine Hinrichtungsszene steht, finde ich abstoßend. (Seite 147)

[…] den traumgleichen, pathetischen Wunsch, noch einmal an jenem Punkt meines Lebens zu stehen und eine ganz andere Richtung einschlagen zu können als diejenige, die aus mir den gemacht hat, der ich nun bin […] (Seite 169)

Wer möchte im Ernst unsterblich sein? Wer möchte bis in alle Ewigkeit leben? Wie langweilig und schal es sein müsste zu wissen: Es spielt keine Rolle, was heute passiert, in diesem Monat, diesem Jahr: Es kommen noch unendlich viele Tage, Monate, Jahre […] Würde, wenn es so wäre, noch irgend etwas zählen? Wir bräuchten nicht mehr mit der Zeit zu rechnen, könnten nichts verpassen, müssten uns nicht beeilen […]
Es ist der Tod, der dem Augenblick seine Schönheit gibt und seinen Schrecken. Nur durch den Tod ist die Zeit eine lebendige Zeit. (Seite 201f)

Enttäuschung gilt als Übel. Ein unbedachtes Vorurteil. Wodurch, wenn nicht durch Enttäuschung, sollten wir entdecken, was wir erwartet und erhofft haben? Und worin, wenn nicht in dieser Entdeckung, sollte Selbsterkenntnis liegen? (Seite 262)

Es ist ein Fehler, ein unsinniger Gewaltakt, wenn wir uns auf das Hier und Jetzt konzentrieren in der Überzeugung, damit das Wesentliche zu erfassen. (Seite 286)

Ich erzittere beim bloßen Gedanken an die ungeplante und unbekannte, doch unausweichliche und unaufhaltsame Wucht, mit der Eltern ihren Kindern Spuren hinterlassen, die sich, wie Brandspuren, nie mehr werden tilgen lassen. Die Umrisse des elterlichen Wollens und Fürchtens schreiben sich mit glühendem Griffel in die Seelen der Kleinen, die voller Ohnmacht sind und voller Unwissen darüber, was mit ihnen geschieht. Wir brauchen ein Leben lang, um den eingebrannten Text zu finden und zu entziffern, und wir können nie sicher sein, dass wir ihn verstanden haben. (Seite 318f)

Weißt du, das Denken ist das Zweitschönste. Das Schönste ist die Poesie. Wenn es das poetische Denken gäbe oder die denkende Poesie – das wäre das Paradies. (Seite 385f)

Dass dieser stille, handlungsarme und philosophisch angehauchte Roman von Pascal Mercier zum Bestseller wurde, ist verblüffend. (Bis 2007 wurden von dem in fünfzehn Sprachen übersetzten Roman „Nachtzug nach Lissabon“ 1,5 Millionen Exemplare verkauft.)

Pascal Mercier heißt mit bürgerlichem Namen Peter Bieri. Er wurde 1944 in Bern geboren und wuchs auch dort auf. In London und Heidelberg studierte er Philosophie, Klassische Philologie, Indologie und Anglistik. Nach Promotion und Habilitation wurde er 1993 an die Freie Universität in Berlin berufen. Mit dem Roman „Nachtzug nach Lissabon“ schaffte Pascal Mercier auch als Schriftsteller den Durchbruch.

Bille August verfilmte den Roman von Pascal Mercier: „Nachtzug nach Lissabon“.

 

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2007
Textauszüge: © Carl Hanser Verlag

Bille August: Nachtzug nach Lissabon

Pascal Mercier: Das Gewicht der Worte

Diane Broeckhoven - Ein Tag mit Herrn Jules
Einfühlsam und ohne falsche Sentimentalität beschäftigt Diane Broeckhoven sich mit dem Sterben. "Ein Tag mit Herrn Jules" ist eine stille und scheinbar einfache, poetische und atmosphärisch dichte Erzählung, eine anrührende und besinnliche Lektüre.
Ein Tag mit Herrn Jules